Die innere Wirklichkeit – Werte und Bewusstseinskultur

Mike Kauschke

Philosophie und Meditation erfreuen sich heute neuer Popularität. Könnte eine kreative Verbindung beider Erkenntniswege eine neue Bewusstseinsforschung begründen?

Vor zehn Jahren waren führende deutsche Neurowissenschaftler in einem „Manifest der Neurowissenschaft“ überzeugt, dass eine Erklärung des Bewusstseins durch das Verstehen der zugrundeliegenden neurologischen Prozesse nur noch eine Frage der Zeit sei. Heute räumen viele Hirnforscher jedoch ein, dass eine solche Erklärung des Bewusstseins in immer weitere Ferne rückt. Gleichzeitig lässt sich in unserer hochtechnologischen Kultur eine zunehmende Sehnsucht nach tieferen Erfahrungen des eigenen Bewusstseins feststellen, die sich im wachsenden Interesse an Achtsamkeit und Meditation zeigt. Auch die Philosophie findet wieder mehr populären Anklang; Bücher, Magazine und Konferenzen zu philosophischen Themen sind im Aufwind. Und anerkannte Philosophen wie Thomas Nagel oder Ronald Dworkin treten mit Beiträgen an die Öffentlichkeit, in denen sie die Bedeutung unserer eigenen Erfahrung von Bewusstsein zum Thema machen. Vielleicht kündigt sich in der Konvergenz dieser aktuellen Strömungen die Entstehung einer Bewusstseinskultur an, in der die innere Erfahrung, Erforschung und Entwicklung von Bewusstsein neuen Raum bekommt. Dazu müssen wir aber zunächst zulassen, dass innere Erfahrungen uns tatsächlich einen Bereich der Wirklichkeit erschließen, der nicht auf materiell-physikalische Prozesse reduzierbar ist.
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Meditation und Äpfel

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screenshot_315Achtsamkeitsmeditation und verwandte Übungen eröffnen vielen Menschen einen Weg, um sich ihrem Inneren in bewusster Weise zuzuwenden. Zu diesem Interesse hat auch die Wissenschaft beigetragen, weil gezeigt werden konnte, dass Meditation messbare Veränderungen im Gehirn bewirkt, zum Beispiel in den Hirnströmen, aber auch in der neuronalen Struktur des Gehirns durch Neuroplastizität. Dass Menschen, die Meditation üben, einen positiven Wandel ihrer Stimmung, Lebensqualität oder Kreativität feststellen, wird damit erklärt, dass entsprechende Hirnreale, die für diese Empfindungen zuständig sind, stärker aktiviert werden. Die inneren Zustände, die in der Meditation erfahren werden können, wie Stille, innerer Frieden, Gelassenheit oder Verbundenheit, werden letztendlich auf Veränderungen im Gehirn zurückgeführt. Doch das ist, wie so oft, wohl nur die halbe Wahrheit.
In spirituellen Traditionen war Meditation immer auch ein Weg, um uns mit einer geistigen Dimension der Wirklichkeit in Berührung zu bringen. Der integrale Philosoph Ken Wilber fasst die Fragestellung so: „Wenn wir einen Apfel wahrnehmen und sagen, ‚Ich sehe einen Apfel‘, und das Gehirn in einer bestimmten Weise aktiviert wird, folgern wir üblicherweise daraus nicht, ‚Der Apfel existiert als ein Hirnstrommuster; darüber hinaus hat es keine Realität.‘ Nein, wir folgern daraus, dass der Apfel ein reales Objekt in der realen Welt ist, und wenn das Gehirn ihn wahrnimmt, wird es in bestimmter Weise aktiviert.“

Wenn ein Mönch über Mitgefühl meditiert und dabei bestimmte Hirnareale aktiviert werden, ist ein geistig wahrgenommener Wert wie Mitgefühl, Liebe oder Empathie vielleicht genauso real und damit Teil unserer Wirklichkeit wie ein Apfel und nicht etwa nur eine subjektive Konstruktion oder eine kulturell erlernte Haltung. Hier stellt sich also die Frage: Wenn wir in spirituellen Erfahrungen, in künstlerischer Inspiration, in der Betrachtung der Natur, im Berührtsein von der Würde eines Menschen den Eindruck haben, mit ewigen Werten und einem tieferen Geheimnis des Lebens verbunden zu sein, werden dann einfach nur bestimmte Hirnströme aktiviert oder kommen wir mit einer geistigen Wirklichkeit des Lebens selbst in Berührung?
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Spiritueller Atheismus

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Spirituelle Traditionen würden diese Frage natürlich zugunsten des Wirklichkeitsgehalts spiritueller Erfahrungen beantworten. Sie haben in vielen Fällen ein eigenes System entwickelt, wie diese tieferen Dimensionen der Wirklichkeit erfahren werden können – und Kriterien, wie authentische Erfahrungen von Einbildungen unterschieden werden können. In diesem Sinne beschreibt der Wissenschaftstheoretiker Harald Walach Übungen wie Meditation als eine Form der Erkenntnis: „Das, was wir als Meditation bezeichnen, ist eigentlich das Programm der Kultivierung einer Innerlichkeit im Dienste von Erkenntnis, und zwar einer Erkenntnis der Welt von Innen her. Und diese Erkenntnis der Welt von Innen führt uns zur inneren Struktur der Welt, nämlich, unter anderem, der Werte. So ähnlich wie atomare Kräfte oder Strukturen das materielle Gefüge der Welt garantieren, das wir von außen erkennen, so ähnlich sind Werte die inneren Strukturen der Welt, behaupte ich, die wir von innen erkennen.“

Diese Frage nach der Natur unserer inneren Erfahrung hat in jüngster Zeit zu einigen interessanten Beiträgen namhafter Philosophen geführt. Thomas Nagel, einer der bekanntesten analytischen Philosophen der Gegenwart, hinterfragt in seinem kontroversen Buch „Geist und Kosmos“ die materialistisch-neodarwinistische Annahme, dass Bewusstsein, menschliche Erkenntnisfähigkeit und Werte sozusagen Nebenprodukte eines materiellen Universums sind. Für ihn muss die Wirklichkeit von Grund auf mehr umfassen als materielle Prozesse, biologische Funktionen und zufällige Mutationen, damit in diesem Kosmos bewusste Wesen wie wir entstehen – die diesen Prozess betrachten können. Eine angemessenere Sichtweise der Wirklichkeit müsse „Geist und Vernunft als grundlegende Aspekte einer nichtmaterialistischen Naturordnung erkennbar machen“. Der materiellen Außenseite des evolutionären Prozesses wohne also ein Potenzial inne, das Leben und Bewusstsein möglich macht.

screenshot_316Der kürzlich verstorbene Philosoph Ronald Dworkin argumentiert in seinem posthum veröffentlichten Buch „Religion ohne Gott“ in eine ähnliche Richtung. Er geht davon aus, dass wir diese geheimnisvolle Wirkkraft im Universum erleben können: in Erfahrungen der Erhabenheit, des Schönen im Universum und der Würde des Menschen, die auf eine Dimension der Wirklichkeit hinweisen, die sich nicht nur dem wissenschaftlichen Verstehen entzieht, sondern unserem Leben auch Sinn verleiht. Diese Dimension „ist nicht Teil der Natur, sondern etwas jenseits von ihr, das wir selbst dann nicht werden erfahren können, wenn wir die Gesetze der Physik endlich verstanden haben. Einstein glaubte fest daran, dass das Universum von einem objektiven Wert durchdrungen ist, der weder ein Naturphänomen noch eine subjektive Reaktion auf ein Naturphänomen ist.“ Diese Erfahrungen unterscheidet Dworkin von den metaphysischen Interpretationen religiöser Traditionen, die solche Urerfahrungen des Erhabenen mit einem bestimmten Gottesbild verbinden. Der „Spiegel“ griff pünktlich zu Pfingsten Dworkins Ideen auf und titelte „Ist da jemand? Die Zukunft der Religion: Glaube ohne Gott“.
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Neue Religion

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Dworkin versucht den Begriff der Religion auszuweiten und beschreibt sein Verständnis so: „Religion ist eine sehr grundlegende, spezifische und umfassende Weltsicht, die besagt, dass ein inhärenter, objektiver Wert alles durchdringt, dass das Universum und seine Geschöpfe Ehrfurcht gebieten, dass das menschliche Leben einen Sinn und das Universum eine Ordnung hat. Der Glaube an einen Gott ist nur eine der möglichen Manifestationen oder Konsequenzen dieser tieferen Weltsicht.“ Damit möchte er einen menschlichen Erfahrungsraum ansprechen, den auch viele Menschen kennen, die sich im herkömmlichen Sinne als nicht religiös bezeichnen würden. Dworkin bringt als Beispiel viele Physiker, wie Albert Einstein, der sich als „religiöser Atheist“ bezeichnete. Diese Forscher erfahren in der Berührung mit der Schönheit des Universums – und den Theorien, mit denen sie den Kosmos beschreiben – die Begegnung mit einem Geheimnis. Für einen naturalistischen Blick wäre diese Schönheit einfach eine innere, subjektive Reaktion. Aber für viele Wissenschaftler wohnt diese Schönheit auf eine geheimnisvolle Weise der Grundstruktur des Universums inne, die sich nicht allein in physikalische Erklärungen pressen lässt. Dworkin beschreibt dieses Staunen von Wissenschaftlern als den Glauben, „dass die von ihnen empfundene Schönheit genauso real ist wie Elektronen, Kopfschmerzen oder Galaxien.“ Albert Einstein hat dieses Staunen über das Geheimnis des Universums in wunderbare Worte gefasst: „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.“ Gerade in einer Zeit, die unter den Vorzeichen des Machbaren steht, wird es wichtig sein, dass wir uns immer wieder daran erinnern, dass der lebendige Kosmos, von dem wir ein Teil sind, im Grunde ein Geheimnis ist – ein Geheimnis, das wir erfahren können und das auch den Kern unseres Menschseins berührt.

screenshot_317In der Wertschätzung solcher Erfahrungen eines tieferen Wertes der Wirklichkeit zeigt sich auch eine Art ethischer Imperativ. Dworkin, der vor allem als Rechtsphilosoph bekannt war, bringt es zunächst auf den einfachen Punkt, ein gutes, verantwortliches Leben zu leben. Denn wenn das Universum von Wert durchdrungen ist, dann ist es unsere Aufgabe, auch unser Leben mit Wert zu erfüllen und der Würde des Menschen und der Schöpfung gerecht zu werden.

Es war Dworkins Hoffnung, dass die Verständigung über die Erfahrungen des Erhabenen auch lang währende kulturelle Konflikte entschärfen könnte: Wenn Gläubige und Atheisten und auch Anhänger verschiedener Religionen anerkennen, dass wir alle in je eigener Weise EINE „Macht des Wunderbaren“ erfahren. Die Unterscheidung zwischen Theisten oder Atheisten hält er für irreführend, da beide in seinem Sinne religiöse Erfahrungen machen können. Den wichtigeren Unterschied sieht er zwischen Religion und Naturalismus. Dabei hält der Naturalist „das Universum für eine unfassbar große zufällige Ansammlung von Gasen und Energie. Aus Sicht der Religion hingegen ist es eine unergründliche und komplexe Ordnung von leuchtender Schönheit.“
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Bewusstseinskultur

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Interessant dabei ist, dass sich Dworkins Betonung der Erfahrung einer der Wirklichkeit innewohnenden Schönheit und eines inhärenten Wertes auch im Anliegen kontemplativer Praxis wie der Meditation spiegelt. Denn spirituelle Traditionen und die darin vermittelten Übungen bieten systematische Wege zur Erfahrung und zum Verstehen dieser geheimnisvollen, inneren Dimension der Wirklichkeit. Mehr noch, heute sind wir durch die globale Kommunikation in der außerordentlichen Lage, dass sich diese Traditionen untereinander und mit anderen Disziplinen über das Wesen und die Struktur, die Werte und ethischen Implikationen dieser tiefen Bewusstseinserfahrungen auf einer ganz neuen Ebene austauschen können. Dabei könnte auch die große Stärke der Philosophie neu zum Tragen kommen, denn sie kann uns die Interpretation innerer Erfahrungen ermöglichen. Philosophisches Fragen trägt auch dazu bei, innerhalb der spirituellen Traditionen entstandene, vielleicht unzeitgemäße Kontextualisierungen dieser tieferen Erfahrungen unter Einbezug des heutigen Erkenntnisstandes neu zu deuten.
Was damit als Möglichkeit aufscheint, ist eine erweiterte Form der Bewusstseinsforschung im Dialog von Philosophie, Spiritualität, Kunst, Religion, Psychologie, Ethik und anderen Disziplinen, die in Ergänzung zur Außenperspektive der Neurowissenschaft die inneren Räume unserer Erfahrung erhellt. So wie die Physiker und andere Wissenschaftler die äußere Wirklichkeit des Universums immer umfassender verstehen, könnten wir auch das Universum der inneren Wirklichkeit genauer erforschen. Dabei können Wege aufgezeigt werden, wie jeder von uns ein umfassenderes Erleben der eigenen Innerlichkeit entwickeln kann, ohne bestimmte metaphysische oder religiöse Interpretationen anzunehmen. Harald Walach beschreibt diesen Prozess als eine Fortführung der Aufklärung, zu der zentral auch eine „undogmatische Spiritualität“ gehört: „Wir müssen uns dem Thema der Spiritualität widmen, und zwar nicht in einer Form, die zu einem bestimmten Glaubensbekenntnis hin tendiert, sondern als eine neue Form der Erfahrung, die die wissenschaftliche Erfahrung, die wir gut entwickelt haben, ergänzt.“ Walach hofft, dass dieser Ansatz einer undogmatischen oder aufgeklärten Spiritualität den tieferen Erfahrungen des Bewusstseins auch Gehör in den wichtigen kulturellen Diskursen verschaffen kann. Dass es eine gewisse Offenheit dafür gibt, zeigen die Beiträge von Thomas Nagel oder Ronald Dworkin und die positiven Reaktionen darauf im intellektuellen Mainstream.
Vor allem auch die Entwicklungen der Technik könnten die Notwendigkeit einer neuen, integralen Bewusstseinskultur nahelegen. Der Stress, der durch ständige Vernetzung mittels Computern und Smartphones allgegenwärtig ist, dürfte mit ein Grund dafür sein, warum immer mehr Menschen einen Ausgleich in Meditation und Achtsamkeit suchen. Ja, vielleicht noch mehr als einen Ausgleich: Angesichts einer technisierten Welt bieten kontemplative Methoden Wege, um sich des eigenen Inneren zu vergewissern und die Qualitäten und Werte zu entwickeln, die darin spürbar werden, wie Freiheit, Mitgefühl oder Verbundenheit mit allem Leben. Gerade im Zuge der technologischen Innovation und den Fragestellungen, mit denen sie uns konfrontieren, wird es wichtig sein, diese Erfahrungsräume des Inneren zu erforschen, zu erweitern und zu entwickeln.

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