Amir Ahmad Nasr: Wie können wir mitfühlend (nicht) töten?

Die Terroranschläge von Paris und andere Anschläge radikaler Islamisten wie in Ankara, Beirut oder Mali halten die Welt in Atem. Was ist für unsere Länder und für jeden von uns eine angemessene und weise Antwort darauf – insbesondere, wenn wir die momentane Situation auch als eine Herausforderung für unsere individuelle und kollektive Entwicklung in einer globalen Welt sehen? Diese Frage beleuchten wir in drei Artikeln mit zum Teil auch recht unterschiedlichen Antworten oder Sichtweisen: Wael Farouq: Der Islamische Staat hat eine klare Ideologie, der Westen lebt in Widersprüchen; Amir Ahmad Nasr: Wie können wir mitfühlend (nicht) töten?; Otto Scharmer – Paris: Das Herz unserer Gemeinschaft verwandeln

amirahmad_1360510375_05Wie können wir mitfühlend (nicht) töten?
Zur Verteidigung (bestimmter) militärischer Mittel

Amir Ahmad Nasr

In der Zeit nach dem 11. September 2001, insbesondere nach dem verheerenden Irakkrieg, entstanden zwei beunruhigende Haltungen bei Progressiven und Konservativen in den USA und dem Westen im Allgemeinen.

Es ist verstörend, wenn man die Rhetorik zu vieler republikanischer und konservativer Politiker hört, die offensichtlich nicht wirklich etwas aus den schweren Fehlern der Bush-Regierung gelernt haben und stattdessen mit noch mehr Kraft den gleichen leichtsinnigen Weg einschlagen wollen.

Abgesehen davon habe ich leider den Eindruck, dass auch viele Menschen im linken oder progressiven Spektrum eine Haltung einnehmen, die sich kaum bewährt hat – obwohl sie glücklicherweise weniger besorgniserregend ist.

Immer wieder sehe ich, dass Kommentatoren die Fehler im Irak und in Libyen als angeblichen Beweis angeführen, dass Militärinterventionen an sich der falsche Weg seien. Solche Einsätze würden mehr Probleme schaffen. Sie seien eine Form von Neokolonialismus oder Imperialismus. Oder dass Gewalt zu noch mehr Gewalt führe.

Deshalb wird auch ein Zitat gerade auf Facebook gern herumgereicht, das noch einen Schritt weitergeht. Es ist von Martin Luther King Jr., der mit weisen Worten sagte: „Die Dunkelheit kann nicht die Dunkelheit vertreiben; das kann nur das Licht. Hass kann nicht den Hass vertreiben; nur Liebe kann das.“

Auf den ersten Blick sind dies lobenswerte moralische Gefühle. Aber ich befürchte, dass sie nicht ausrechen werden. In der Tat bin ich der Ansicht, dass sie in einigen Fällen großen Schaden anrichten können und fehlerhaft sind.

Nicht genug militärisches Engagement – also Nicht-Töten – kann manchmal ein Ausdruck mangelnden Mitgefühls sein. Was ist mit diesem bekannten Schwur geschehen: Nie wieder!
Dieses feierliche Versprechen hört man verstärkt im April, weil in diesem Monat der Gedenktag für die Opfer des Holocaust begangen wird, in diese Zeit fallen auch die Jahrestage der Genozide in Ruanda und an den Armeniern. Politiker aller Lager hören sich dann gern sagen: „Nie wieder.“ Aber diejenigen von ihnen, die es meinen, haben keine Macht, und diejenigen, die die Macht haben, meinen es nicht wirklich so. Die Geschichte spricht eine deutliche Sprache.

In der Tat, ein Blick in die Geschichte genügt, und er ist bezeichnend. Denn wenn wir über die Fehler im Irak sprechen, dann müssen wir auch über die Erfolge in Kuwait, Bosnien und ja, auch in Libyen sprechen.

Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung war die Militärintervention 2011, die von der NATO angeführt wurde und an der einige arabische Staaten teilnahmen, ein Erfolg. Die libyschen Rebellen und Deserteure haben sie selbst erbeten und gefordert, und das aus gutem Grund.
Wie Tom Malinowski von Human Rights Watch im März 2011 richtig anmerkte, hat die Intervention Wirkung gezeigt, weil ein drohender Genozid verhindert werden konnte.
Die vielen ausgebrannten Panzer, Raketenwerfer und Raketen, die nach Bombardements auf der Straße nach Benghazi gefunden wurden, hätten die Hochburg der Rebellen zerstört, wenn Gaddafis Streitkräfte diese Waffen zum Einsatz gebracht hätten – wie sie es in anderen Städten Zawiyah, Misrata und Adjabiya, die von Rebellen besetzt wurden, getan hatten.

Gaddafis Bilanz von Gefangennahme, Folterungen, Entführungen und Ermordungen seiner politischen Gegner, um seine Macht zu sichern, legt nahe, dass im Falle einer Eroberung des Ostens die dortigen Unterstützer der Opposition ein ähnliches Schicksal erwartet hätte. Über einhunderttausend Libyer waren aus Angst vor den Angriffen Gaddafis schon nach Ägypten geflohen; wenn der Osten gefallen wäre, hätten es noch Hundertausende mehr sein können.

Die restliche Bevölkerung und die Menschen, die in Flüchtlingslagern in anderen Ländern untergekommen waren, hätten sich vom Westen betrogen gefühlt, was Gruppen wie al-Qaida zweifellos ausgenutzt hätten. Schließlich hätte ein Sieg Gaddafis – neben dem Fall des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak – anderen autoritären Regierungen in Syrien, Saudi-Arabien und China gezeigt, dass man verliert, wenn man mit Protestierenden verhandelt, aber gewinnt, wenn man sie tötet.

(Hört sich das bekannt an, wenn wir bedenken, was an einigen Orten nach 2011 tatsächlich geschehen ist?)

Der Fehler in Libyen lag vielmehr an dem Mangel an Folgemaßnahmen nach dem effektiven Militäreinsatz. Der Grund waren schlechte Planung und ein schwacher politischer Wille unter den Mitgliedern der Koalition. Das führte zu den Fehlern, unter denen Libyen bis heute leidet.
Aber das ist kein Grund, in Zukunft alle Interventionen zu vermeiden. Stattdessen sollten sie eine Gelegenheit für uns sein, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen und sie nicht zu wiederholen.

(Nur um das klar zu stellen, ich habe die Intervention in Libyen lautstark unterstützt, und wenn ich noch einmal vor die gleiche Entscheidung gestellt wäre, würde ich es wieder tun.)

Das führt mich zu Syrien. In gewisser Weise hat sich die vorher erwähnte Aussage von Malinowski leider als prophetisch erwiesen. Nur dass er von Libyen sprach und nicht vom heutigen Syrien, obwohl die Worte auch auf diese Situation passen.

Trotz der Bitte um Intervention durch die Syrer, die 2011 als moderate Rebellen kämpften, wurde Syrien leider zum Opfer verschiedener schrecklicher Umstände. Einer davon war der Mangel einer frühen Militärintervention. Wie der Roger Cohen, Kolumnist bei The New York Times gut beobachtete:

„Syrien ist die amerikanische Unterlassungssünde par excellence, eine diabolische Ergänzung zur Tatsünde im Irak – zwei Nationen, die kurz davor stehen, auseinanderzufallen.“

Ja, es gibt eine Vielzahl von völlig legitimen Gründen, Interventionen – und die zu oft scheinheiligen Nationen, die sie durchführen – zu hinterfragen, darüber zu diskutieren und sie abzulehnen. Ja, und jeder Militäreinsatz wird immer mit Risiken verbunden sein, aber wir sollten uns davon nicht den Blick vernebeln lassen.

Ganz sicher ist das Nicht-Töten – wenn politische und diplomatische Lösungen möglich sind – ohne Frage der mitfühlendere Weg, den ein Staat wählen kann. Aber wie sollten auch zugeben – zumindest prinzipiell – dass man in der Auseindersetzung mit rücksichtslosen Gegnern manchmal töten muss, trotz aller Risiken. Die Aufrufe, dies nicht zu tun, sind nicht von sich aus moralisch überlegen.

Wir müssen uns unserer eigenen Neigungen bewusst sein, die Ereignisse in der Welt in das größere Narrativ unserer Vorlieben einzufügen.

Gegen den Imperialismus, gegen Gewalt, gegen [fügen Sie irgendeinen ideologischen Grund gegen Militärinterventionen ein] zu sein oder nicht klar Stellung zu beziehen, kann manchmal unglaublich tödliche Wirkungen nach sich ziehen. Jede Situation braucht eine entsprechende Antwort.

In Bezug darauf, wie man töten und eingreifen sollte, müssen wir fordern, dass jene, die solch einen Einsatz unterstützen, und die ausführenden Kräfte dies mit Reife und Mitgefühl tun.

Nietzsche fand dafür die besten Worte: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.“

Abgesehen davon sollten wir daran denken, dass Ungeheuer nicht als solche geboren werden. Es sind Menschen, die durch Umstände und falsche Entscheidungen zu Ungeheuern werden.

Neben dem Gewinnen von Sympathien durch Initiativen zur Staatenbildung müssen wir also letztendlich auch Wege finden, um den Leitspruch von Martin Luther-King und die darin enthaltene wichtige Weisheit – „Hass kann man nicht mit Hass vertreiben, das kann nur die Liebe“ – vor, während und nach der letzten Option einer von Staaten geführten Militärintervention und dem damit verbundenen Töten zu befolgen. Aber ganz besonders davor, damit der Kreislauf der Gewalt gesellschaftlich und international verlangsamt und wo immer möglich gestoppt werden kann.

Mein Freund und Kollege Arno Michaelis, ein früherer Neo-Nazi und Skinhead, der zum Friedensaktivisten wurde, und einen beeindruckenden Weg der Wiedergutmachung ging, versteht dies nur zu gut. Nach dem Massaker in der Kirche in Charleston, bei dem der weiße Rechtsextremist Dylann Roof neun unschuldige Afroamerikaner ermordete, sagte er:

„Die Wahrheit, dass die Liebe am wirksamsten ist, bedeutet, dass man die Menschen vom Hass wegziehen kann. Neben allem Händchenhalten gibt es Dynamiken, die so klar sind wie Naturgesetze und diese Wirkung erklären. Hass und Gewalt sind zyklisch. Mehr von beidem wird den Kreislauf nähren. Aus diesem Problem finden wir durch Gewalt keinen Ausweg. So gerechtfertigt wie die Wut, die wir spüren, angesichts des Schreckens sein mag … sie kann uns nie in eine friedlichere Welt führen, wenn wir unser Herz vergiften lassen.“

Das bedeutet aber nicht, dass wir Dylann Roofs Verhalten entschuldigen und es bedeutet auch nicht, dass wir ihn nicht an einen Ort bringen müssen, wo er niemandem schaden kann. Aber wenn wir ihn leiden sehen wollen, dann führen wir die Verletzungen fort, die er verursacht hat, und verringern unsere eigene Fähigkeit, Liebe in die Welt zu bringen.“

Denn wenn wir es genauer betrachten, dann sind es meist diejenigen, die keine Liebe erfahren haben, die den Menschen, die keine Moral haben, auf den Leim gehen, und dann anderen die Menschen nehmen, die sie lieben.

Wenn wir es also in unseren sozialen Umgebungen ernst meinen mit einem Handeln, dass dem Extremismus entgegenwirkt, dann muss die Liebe im Herzen all unserer Strategien, Gesetze und Lehrpläne stehen. Das ist aber keine leere Behauptung. Es ist ein wirkungsvoller Pragmatismus, und viele Konservative sollten diese Herangehensweise bedenken.

Unsere moralische Bilanz ist tatsächlich nicht so schlecht, wie einige denken. Wir können wirklich bessere Antworten finden.

Und wenn das nicht ausreichend ist und es notwendig wird, andere zu töten, um drohendes Töten zu verhindern – insbesondere wenn die Bedrohten verzweifelt um Hilfe bitten –, dann müssen wir töten und sollten gezielt töten. Aber wir sollten uns um Gottes willen nicht auf das Töten stolz sein.

Amir Ahmad Nasr ist der Autor von My Isl@m: How Fundamentalism Stole My Mind – And Doubt Freed My Soul, das im Frühjahr 2016 in deutscher Übersetzung im Kamphausen Verlag erscheint.

evolve 08: EINE WELT IM DIALOG – Begegnungen mit uns selbst
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