Joseph Beuys: Über seine Relevanz für die Gegenwart

Beuys-Feldman-Gallery
Joseph-Beuys-Poster für eine Vortragstournee durch die USA: Energy Plan for the Western Man, 1974, organisiert von dem Galeristen Ronald Feldman, New York

Zwei Mal Beuys

Am 23. Januar war der 30. Todestag von Joseph Beuys. Dieser zweiteilige Artikel, der vor einigen Jahren im Vorgängerprojekt des Magazins evolve erschien, wirft einen Blick auf die Debatte um Joseph Beuys und die Relevanz seines Werkes und Denkens heute.

Mike Kauschke

I

Vorwurf: Spiritualität
Über die Debatte um die neue Beuys-Biografie

Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an Joseph Beuys denken? Die fast schon ikonenhaften Bilder eines hageren Mannes mit Hut oder die Verstörung beim Betrachten eines seiner Werke oder vielleicht auch aus dem Kunstunterricht die Einordnung als einer der herausragendsten Künstler des 20. Jahrhunderts oder die abfällige Bezeichnung als Spinner und Scharlatan?
In den letzten Wochen erschien sein Name in den Medien vor allem im Zusammenhang mit einem neuen Buch, das sich nichts weniger vorgenommen hat, als Beuys gründlich zu demontieren. In Beuys: Die Biographie macht sich der Autor Hans Peter Riegel daran, Fakten über Beuys‘ Leben zusammenzutragen, die dessen kreative „Umgestaltung“ seiner Lebensgeschichte „entlarvt“. Dabei stößt er sicher auf ungeklärte Fragen in Bezug zu Beuys’ Zeit als Flieger bei der Wehrmacht oder Bekanntschaften nach dem Krieg mit Menschen, die sich laut Riegels Recherche nie ganz von der Nazi-Ideologie abgewendet haben. Aber aus Tatsachen, Riegels eigenen Interpretationen und Hinweisen von Beuys (nach dem Krieg) auf die geistige Erneuerungskraft des deutschen Volkes konstruiert Riegel eine „reaktionär-völkische“ Gesinnung bei Beuys. Dabei wird die Einseitigkeit und Voreingenommenheit der Argumentation der Komplexität und umfassenden Wirkung von Werk und Person nicht gerecht. Worauf Riegel auch abzielt, ist Beuys’ Denken, genauer seine Spiritualität. Um Beuys ein für alle Mal zu kompromittieren, beschreibt er ihn im Prinzip als einen Jünger des Anthroposophie-Gründers Rudolf Steiner, der einfach dessen Ideen weitergab.
Bei diesem Rundumschlag wird auch die Anthroposophie selbst eben mal zu einer Art völkisch-okkultistischer Sekte. Dabei kombiniert Riegel, der viele Jahre in der Werbung arbeitete, die Tatsachen so, dass sie seinem Kernanliegen entsprechen: Er will Beuys und die Anthroposophie als antidemokratische, rückschrittliche Kräfte „demaskieren“. Seine Aufklärung gerät dabei aber eher zu einer Art Inquisition. Es ist ja nichts dagegen zu sagen, jemanden wie Beuys kritisch zu hinterfragen, und die In-Szene-Setzung und Widersprüche seiner Person oder das unzugänglich „Schamanenhafte“ seiner Kunst geben dafür auch viele Ansatzpunkte. Und natürlich muss sich die Anthroposophie zu etwaigen rassistischen Äußerungen Steiners erklären. Was irritiert, ist diese Schwarz-Weiß-Verurteilung, mit der Riegel ein für alle Mal klarstellen will, dass spirituelles Gedankengut wie bei Steiner und Beuys per se irrational, antiaufklärerisch, totalitär und deshalb gefährlich sei. Diese Vehemenz gibt zu denken und reiht sich ein in die wiederholten Aburteilungen, die in der Mainstream-Presse oft für „Spiritualität“ und „Esoterik“ bereitstehen.

Geist im Mainstream

Was Beuys und Steiner verbindet, ist, dass sie auf je eigene Weise spirituelle Ideen in die Mitte der Gesellschaft gebracht haben. Bei Steiner und der Anthroposophie sind es vor allem die populären Anwendungen, wie Waldorfschulen, Demeter-Landbau oder Firmennamen wie Weleda, Alnatura, die GLS-Bank oder dm, die im Mainstream anerkannt sind. Die Rezeption der Kunst hat auch Beuys in den Mainstream der Kultur aufgenommen und ihm das Prädikat „Deutschlands wichtigster Nachkriegskünstler“ gegeben. Aber obwohl Beuys’ spirituelle Seite nie ein Geheimnis war, scheint Riegel so davon erschrocken zu sein, dass er sie zum Anlass nimmt, den Wert seines Werkes gleich komplett zu hinterfragen (und vor dessen Ausstellung zu warnen).
Dabei scheint ein „Vergehen“ von Beuys darin zu bestehen, dass er sich nicht auf die Kunst beschränken wollte. Denn man hat den Eindruck, dass einer der wenigen Bereiche, in dem der gesellschaftliche Status quo heute unkonventionelle Ausdrucksformen von Spiritualität akzeptiert, die Kunst ist. Ein Beispiel ist die Rezeption von Rudolf Steiner in den letzten Jahren. In regelmäßiger Wiederholung werden in großen Zeitungen seine Ideen als „krude“ bezeichnet (offensichtlich ein Lieblingswort der Feuilletonautoren) oder bestenfalls als „unwissenschaftlich“, wie kürzlich im FAZ-Artikel „Im Lotussitz zum Abschluss“. Gleichzeitig zog die Ausstellung „Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags“ erfolgreich durch wichtige Museen in Wolfsburg, Stuttgart und das Vitra Design Museum und ist momentan ein Überraschungserfolg in Italien. Und auch auf der aktuellen Biennale in Venedig begegnet man einigen „Wandtafelzeichnungen“ Steiners. Einer der wenigen Mainstream-Intellektuellen, die Steiner einer differenzierteren Betrachtung wert erachten, ist Peter Sloterdijk, der als ehemaliger Bhagwan-Schüler wohl weniger spirituelle Berührungsängste hat als viele seiner Kollegen. Er sagte zur Eröffnung einer der Steiner-Ausstellungen: „Steiner hat die menschliche Subjektivität gewissermaßen nach oben anschlussfähig gemacht. Er hat den Stecker entdeckt, mit dem man höhere Energien anzapfen kann, die normalerweise aus den Konversationen der bürgerlichen Gesellschaft verbannt waren.“ (Ein neuer Hoffnungsschimmer für einen informierten Diskurs über Steiner ist auch die erste wissenschaftliche Gesamtausgabe seiner Hauptwerke, die „Schriften Kritische Ausgabe“, aus dem renommierten philosophischen Fachverlag frommann-holzboog.)

Geist in der Kunst

Ein anderes aktuelles Beispiel ist die groß angelegte Ausstellung von Werken der neu entdeckten schwedischen Künstlerin Hilma af Klint, die sich von Steiner inspirieren ließ und eine, man könnte sagen, esoterische Kunst in Reinkultur entworfen hat. Gefeiert als erste Ausflüge in die abstrakte Kunst, sind ihre Bilder Versuche, geistige Wahrheiten in anschauliche Formen zu bringen. In dieser Ausstellung werden den Bildern von af Klint auch große Werke von Beuys gegenübergestellt und beide werden ausdrücklich in den Kontext ihrer Beziehung zu Steiner und zu spirituellen Ideen gesetzt.
Wie wäre es, wenn wir uns mit diesen Ideen selbst auseinandersetzen würden und die Beschäftigung damit aus dem sicheren Rahmen der Kunst „befreien“ könnten? Beuys selbst hat auf dieses Phänomen hingewiesen: Den Künstlern wird von der Gesellschaft ein Freiraum gewährt, um zu „spinnen“. Weil, so Beuys, ein „Freiraum zur Verfügung gestellt wird als eine Spielwiese, auf der sich sogenannte kreative Individuen eher austoben dürfen und Narrenfreiheit genießen“. Aber es wird nicht so gern gesehen, dass einer dieser „Narren“ es wagt, für seine Ideen eine größere Relevanz zu beanspruchen als im sicheren Hafen des Kunstbetriebs. Beuys selbst hat ganz massiv versucht, diesen engen Bereich der Kunst zu verlassen, oder vielmehr die Kunst selbst ganz neu zu verstehen. Und darin liegt auch heute der Wert seines Werkes. Um diesen Wert zu erschließen, bräuchte es einen wirklich aufgeklärten Dialog über Beuys, jenseits von unkritischer Verehrung und eindimensionaler Dekonstruktion.

II
Befreit Beuys!
Über die Relevanz seines Werkes

In Reaktion auf die Debatte um die Biografie von Hans-Peter Riegel setzte das Kunstmagazin monopol Beuys auf die Titelseite und forderte: „Befreit Beuys! Deutschlands wichtigster Nachkriegskünstler droht vergessen zu werden. Holt sein Werk aus der Mottenkiste!“ Hier ist man der Hoffnung, dass wir heute Beuys‘ Werke vielleicht neu sehen können, weil das ganze „Drumherum“, das der Künstler inszenierte, wegfällt und die Werke nun für sich sprechen. Das ist sicher unterstützenswert, denn Beuys‘ Werke werden weltweit nur noch selten ausgestellt. Aber es verkennt doch auch die Einheit von Leben und Kunst bei Beuys selbst und in seinem oft missverstanden Ausspruch: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“
Dieser Satz hat seine Quelle in der evolutionären Sicht, in der Beuys Welt und Mensch verstand. Denken und Werk von Beuys kreisten immer um das Schöpferische, das Lebendige, Bewegliche, Flüssige, Plastische. Dies hatte ihn schon in seinen naturwissenschaftliche Studien fasziniert, in denen er die Transformationen bei Materialien und biologischen Prozessen untersuchte. Beuys wandte sich vehement gegen die materialistische Wissenschaft, der er bescheinigte, sich nur mit Totem, der Materie, zu befassen, und so eine Weltsicht zu schaffen, die auch den Menschen seiner tieferen Lebendigkeit beraubt. Denn im Zentrum des Schöpferischen stand für ihn der Mensch: „Gedankenformen – Wie wir unsere Gedanken bilden. Sprachformen – Wie wir unsere Gedanken in Worte umgestalten. Soziale Plastik – Wie wir die Welt, in der wir leben, formen und gestalten: Plastik ist ein evolutionärer Prozess, jeder Mensch ist ein Künstler.“

Im Zentrum: der schöpferische Mensch

Beuys‘ Anliegen war es, die schöpferische Freiheit des Einzelnen zu befreien. Im Prinzip setzte Beuys diese schöpferische Freiheit, die ja im Kern jeder Kunst steht, als Kern des Menschseins selbst, der sich in allen Lebensbereichen ausdrücken kann und möchte. „Jeder Mensch ist ein Künstler“ bedeutet ja nicht, dass jeder ein Maler oder Bildhauer sein kann oder sollte, sondern dass im Kern unseres Erkennens, Lebens und Handelns das Schöpferische lebendig ist und sein kann. Für Beuys ist diese schöpferische Kraft eine spirituelle Dynamik im Innersten unseres Wesens und des Kosmos: „Die Christuskraft, das Evolutionsprinzip kann nur aus dem Menschen quellen, es kann aus dem Menschen hervorbrechen, denn die alte Evolution ist bis heute abgeschlossen. Das ist der Grund der den Menschen vollziehen … Es ist also das Auferstehungsprinzip: die alte Gestalt, die stirbt und erstarrt ist, in eine lebendige, durchpulste, lebensfördernde, seelenfördernde, geistfördernde Gestalt umzugestalten. Das ist der erweiterte Kunstbegriff.“ Das hat natürlich mit dem, wie wir Kunst heute verstehen, nicht mehr (oder noch nicht) viel zu tun. Beuys wirft einen Gesamtblick auf den Menschen im Kontext seiner Bewusstseinsentwicklung. Und vielleicht mangelt es unserer gegenwärtigen Kultur an nichts weniger als diesem großen Blick.
Im Zentrum dieses Blickes stand für Beuys der Mensch als transformationsfähiges Wesen. Den Begriff Evolution wendet er dabei als die uns eingeborene Fähigkeit an, mit unserem Leben auf das Leben der Welt kreativ zu antworten und so die Welt zu gestalten. Diese kreative Fähigkeit des Menschen sah er als das „Kapital“, das wir als Menschen zur Verfügung haben. Dieses Kapital muss für Beuys im Zentrum auch aller wirtschaftlichen Prozesse stehen. Seine Formel „Kapital = Kunst“ deutet auf diesen kreativen Kern aller menschlichen Betätigungen hin. In Zeiten der Wirtschaftskrise, steigenden Burn-out-Zahlen und Arbeitslosigkeit finden sich hier viele Impulse, um neu darüber nachzudenken, was eigentlich die Grundlagen von Wirtschaft und Arbeit sein könnten.
Als Kultur sah uns Beuys auf dem Weg in einen „vierten Zustand“. Ähnlich wie der Bewusstseinsforscher Jean Gebser sah er die Entwicklung des Menschen in vier Stadien: Erstens eine ursprüngliche Einheit des Anfangs, zweitens einer Differenzierung in die Dualität, drittens die Weltbeherrschung mittels Rationalität und viertens der Schritt in eine neu gefundene, integrative Einheit, die, wie Beuys hervorhob, kein Rückschritt sein darf und kann. Die selbstbestimmte Freiheit des einzelnen Menschen ist und bleibt das Zentrum aller Erneuerung. Dieser vierte Zustand wurde mit der „aperspektivischen“ Stufe verglichen, die Gebser beschrieben hat. Hier wird ein Bewusstsein angesprochen, das viele Perspektiven gleichzeitig wahrnehmen und in einer Einheit integrieren kann und dadurch einen größeren Horizont von Wirklichkeit sieht. Diesen Einheitsblick (der die Differenzierung nicht auflöst) hat Beuys versucht konsequent umzusetzen und Kunst, Wissenschaft, Spiritualität, Ökonomie und Rechtsformen in einen Lebenskontext gesetzt, in dessen Mittelpunkt die freie, evolutionäre Entfaltung des Menschen steht.

Menschsein als Gespräch

Beuys hat sich mit ganzer Kraft und bis zur physischen Erschöpfung in die Umsetzung dieser Ideen gewagt (gemäß seinem Motto: „Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung“). Seine soziale Plastik war die Übertragung des Schöpferischen in den gesellschaftlichen Raum und er hat sie in vielen Aktionen erprobt. Beispielhaft ist seine Aktion „7000 Eichen“, bei der in Kassel 7000 Bäume gepflanzt wurden, die je von einer Basalt-Stele begleitet werden. Diese „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ griff die ökologische Fragestellung in kreativer Weise auf. Mit seinen Aktionen stellte sich Beuys auch persönlich mitten in die Gesellschaft. Sicher zeigen sich hier selbstdarstellerische Züge, aber bei all seinen Aktionen, inklusive seines Engagements in der Anfangszeit der Grünen, ging es ihm auch immer um die Einlösung seines kreativen Menschenbildes.
Dieses Menschenbild war verbunden mit einem Vertrauen in die Kraft des Gesprächs. Beuys war ein unermüdlich Sprechender, Diskutierender, auch mit großem Missionsdrang.
Bekannt sind seine Gespräche mit den Studierenden in seiner Zeit als Professor an der Kunstakademie, in denen er erstarrte universitäre Strukturen aufbrechen wollte. Das Bildende, Schöpferische des Gesprächs hatte für ihn einen „Wärmecharakter“, den er auch mit Liebe gleichsetzte. Einige seiner Werke thematisieren dieses kommunikative Element des sozialen Organismus, etwa die Installation „Richtkräfte“, die aus übereinander geschichteten Wandtafeln besteht, die Beuys während Gesprächen mit Besuchern einer seiner Ausstellungen beschrieben hatte. Und vor allem seine berühmte „Honigpumpe am Arbeitsplatz“, durch die während der „Documenta 6“ Honig in Röhren durch einen Gesprächsraum gepumpt wurde, in dem Beuys 100 Tage lang seine Vision der ständigen Konferenz erprobte, bei der sich Menschen unterschiedlichster Hintergründe über die wichtigen Fragen der Zeit austauschten. Der Honig symbolisierte den Wärmefluss des Gesprächs, Honig war für Beuys aber auch mit dem gemeinschaftlichen Wesen eines Bienenstocks verbunden, das er auf höherer Ebene sozusagen wiederbeleben wollte.
Beuys sah Kommunikation im Zentrum des sozialen Prozesses: Durch Gespräch formt sich der soziale Organismus, den jeder von uns plastisch gestalten kann. Es ist eine Begegnung freier Menschen, um an der Gestaltung der Welt mitzuwirken. Und ein Aufruf zu einer verantwortlichen Haltung gegenüber dem Ganzen, die jeden Zynismus oder das, was heute als Politikverdrossenheit bezeichnet wird, aus den Angeln hebt. In diesem Sinne ist Beuys vielleicht heute aktueller denn je und der Aufruf „Befreit Beuys!“ sollte nicht nur für seine Kunst, sondern auch für sein Denken gelten (was eine kritische Annäherung nicht ausschließt).
Dass Beuys immer noch Antworten geben könnte, scheint auch der Kunstbetrieb zu ahnen. Bei der letzten „Documenta“ war Beuys‘ Vermächtnis sehr spürbar, wie Kommentatoren bemerkten und wie in einer Aussage der Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev auch anklingt: „Wenn es um etwas geht, dann ist es Heilung. Die Kunst kann etwas verändern, sie kann uns verändern.“ Und auch bei der aktuellen Biennale in Venedig ist er präsent, wie der Kurator Massimiliano Gioni sagt: „Ich wollte Beuys lieber evozieren, als ihn auszustellen.“
Es könnte der Kunst und uns allen guttun, mehr Beuys zu wagen. Mehr Kreativität und Mitgestaltung. Mehr Risiko und Unbequemlichkeit. Mehr Spiritualität und Transformation.