Elizabeth Debold: Jenseits der Archetypen

Jenseits der Archetypen

Gedanken über C. G. Jung und höhere Individuation

Elizabeth Debold

König, Krieger, Magier, Liebhaber. Jungfrau, Mutter, Altes Weib. Ich finde es erstaunlich, wie populär diese Archetypen des „Maskulinen“ und des „Femininen“ heute sind. Sie schweben nicht nur durch unsere „Erinnerungen, Träume und Gedanken“, sie haben auch in unserer postmodernen spirituellen Welt fürstlich Residenz bezogen, vorrangig aus Interesse am Werk von C. G. Jung. Gerade in der jetzigen Zeit, wo die starren Unterscheidungen zwischen den Geschlechtern nachlassen und wir in die Lage versetzt werden, uns auf neue Weise als Männer und Frauen zu erfahren, scheint es interessanterweise eine Faszination für die archetypischen Figuren zu geben, die genau diese Unterschiede ausdrücken. Andererseits, so überraschend ist das vielleicht nicht. Über Jahrhunderte sind Frauen und Männer zunächst mit ihren kulturell unterschiedlichen Rollen und Aufgaben identifiziert worden – daher stammen Jungs Archetypen. Später dann wurden Frauen und Männer mit unterschiedlichen Eigenschaften, die sie als einander gegenteilig definierten, identifiziert. Diese uralten Unterscheidungen zerfallen – und mit ihnen unsere Sicherheit darüber, wer wir sind und wie wir sein sollten. Das ist weder einfach noch angenehm.
Da kann es zwar tröstlich sein, die alten, immer noch leuchtenden Bilder unserer gemeinsamen kulturellen Vergangenheit hervorzuholen, um darin zu entdecken, wer wir sind. Doch das hieße, mit dem Blick zurück in die Zukunft zu laufen. Wie können wir eine Zukunft erschaffen, die uns in eine neue Richtung führt, wenn wir weiter nach Sicherheit im Altbekannten suchen? Anstatt uns selbst durch unsere Identifikation mit diesen Archetypen finden zu wollen, wäre es nicht besser, unser Selbst von ihrem bestimmenden Einfluss auf unseren Geist und unser Herz zu befreien? Denn eine solche Befreiung hat die Kraft, neue Fähigkeiten in der menschlichen Psyche freizulegen, die es uns erlauben, mit der Komplexität der heutigen Welt umzugehen. Ich meine eine höhere Form menschlicher Reife, eine neue Art von Individuation, die über die Anziehungskraft dieser Archetypen und ihrer Energien hinausgeht und sie re-integriert. Und ich glaube, dass diese höhere Individuation sehr viel Resonanz in der Arbeit von C. G. Jung findet. Höhere Individuation war das Ziel seiner Arbeit – eine Individuation, die nicht einfach fordert, dass wir Archetypen in uns entdecken, sondern dass wir viel mehr unsere Identifikation mit ihnen transzendieren. In dieser Hinsicht ist Jungs Werk für jeden wichtig, der sich für höhere Ebenen menschlicher Entwicklung interessiert.
Doch zunächst möchte ich klarstellen, dass ich keine Jungianerin bin. Aber, ganz ehrlich, auch Jung war kein Jungianer – er hatte eine Abneigung gegen diejenigen, die seine Ideen kodifizieren und aus Jungs Gedanken Jungsches Dogma machen wollten. Seine Vorstellungen über Archetypen und Individuation waren Zwischenergebnisse, die sich aus der fruchtbaren Überschneidung seiner klinischen Arbeit mit eigener Kontemplation ergaben. Ich begann mich für Jung zu interessieren, weil seine Arbeit über Archetypen – bzw. die Arbeiten von Forschern, die er beeinflusst hat – eine solche Wirkung auf zeitgenössische Annahmen in Bezug auf Gender gehabt hat. An anderer Stelle* habe ich darüber geschrieben, inwieweit Jungs Vorstellungen vom Maskulinen und Femininen als Gegensatzpaare von bestimmten Aspekten des Modernismus herrühren und daher kulturell begrenzt sind. Doch viele von Jungs Gedanken haben mich zutiefst überzeugt und ich sehe sie in Übereinstimmung mit meiner eigenen Arbeit als Praktizierende einer evolutionären Spiritualität, die nicht nur mit Bewusstsein zu arbeiten sucht, sondern auch die grundlegenden Dynamiken der Kultur verändern will. Wir sind also beide daran interessiert, den Prozess des Reifens zum vollwertigen Erwachsenen auf neue Weise zu verstehen.
Menschliche Reife ist genaugenommen ein bewegliches Ziel der kulturellen Evolution. Mit dem Heranreifen der Kulturen haben sich die Forderungen an uns verstärkt, uns über grundlegende Instinkte hinaus zu entwickeln. Im Traumzustand einer dunklen Vergangenheit haben unsere Stammesahnen mit der Pubertät Mündigkeit erlangt, denn das Erwachsensein erforderte nicht mehr als das Beherrschen von Ritualen und Praktiken, die den Lebensunterhalt betreffen. Dieser eher rudimentäre Welt-Raum und die darauf folgenden antiken Zeitalter, deren Reiche sich auf Herrschaft und Unterwerfung gründeten, sind die Quellen vieler archetypischer Inhalte, die uns heute beschäftigen. Sie statten uns in erheblichen Maß mit den Bildern des Erwachsenseins aus (oder den Gefahren auf dem Weg zum Erwachsensein), die aus Zeiten stammen, in denen die Anforderungen an reife Erwachsene sehr verschieden von heutigen Erfordernissen sind. Ihr Einfluss auf unsere Psyche – die Energie, die sie enthalten – muss losgelassen werden, damit wir eine Reife und Autonomie höherer Ordnung erlangen können.
Für Jung war der Prozess, ein vollständig individuiertes, reifes, autonomes menschliches Wesen zu werden, mehrstufig. Er sprach darüber zwar auf verschiedene Weise, der Prozess den er praktizierte, hatte aber grundsätzlich zwei wichtige Aspekte – einen persönlichen und einen kulturellen –, die sehr oft ineinandergreifen. Der persönliche Aspekt beinhaltet vieles, was wir von Tiefenpsychologie erwarten, also die Persona oder das egoische Selbst-Bild zu durchschauen, und den „Schatten“, die abgelehnten Teile des Selbst, zu integrieren. Doch nichts davon bezieht sich auf das Archetypische. Jung erkannte, dass die archetypischen Bilder sowohl unbewusst als auch kollektiv waren – ich bezeichne Letzteres als „kulturell“, denn sie sind typischerweise in den Besonderheiten des Erbes der westlichen Gesellschaft verwurzelt. Zum zweiten Aspekt von Jungs Individuations-Prozess gehört also, die eigenen unbewussten Identifikationen mit diesen Archetypen bewusst zu machen, um nicht von ihnen gesteuert zu werden. Wie Jung 1935 sagte: „Das Ziel der Individuation bedeutet nicht weniger, als das Selbst der falschen Hüllen der Persona auf der einen Seite und die suggestiven Kräfte der Urbilder auf der anderen Seite abzustoßen.“
Der Grund, weshalb es so wesentlich ist, sich von den „suggestiven Kräften“ dieser Archetypen zu befreien, ist gemäß Jung, dass sie ein falsches Gefühl von Individuation vermitteln. Diese Aussage finde ich faszinierend, denn Jung ruft uns gewissermaßen dazu auf, über die Vergangenheit hinauszugehen und befreit die Zukunft zu kreieren. Einige zeitgenössische Ansätze in Bezug auf die Archetypen nehmen alle Gottheiten und Naturgeister, die je in der Geschichte erwähnt wurden, und erklären sie zu Archetypen. Doch wenn wir die Hauptarchetypen betrachten, die das Maskuline und das Feminine definieren, dann folgen diese Archetypen den Handlungssträngen der vorherrschenden Erzählungen westlicher Kultur. König, Krieger, Magier und Liebhaber sind die verschiedenen Gesichter des Helden. Und die Heldenreise – über Trennung und Herausforderung bis zur siegreichen Rückkehr – ist der Individuations-Mythos, der bis heute das Leben des Mannes prägt. Diese Geschichte vom Heldentum des Individuums ist das Rückgrat westlicher Kultur, sie liefert den Antrieb für die Bestrebungen, die die moderne Welt hervorgebracht haben, mit all ihrer Herrlichkeit und ihrem Wahnsinn. Würden Männer, die vom Zwang zur Trennung befreit sind – einer Trennung, die zuallererst die Trennung von Mutter und Frauen ist –, eine andere Welt erschaffen?
Auch die weiblichen Archetypen beschreiben die vorherrschenden Rollen, die Frauen bislang eingenommen haben: Jungfrau, Mutter, Altes Weib. Frauen haben in der Geschichte keine öffentlichen, kultur-erschaffenden Rollen innegehabt, die Archetypen folgen daher der reproduktiven Laufbahn der Frauen, die bislang den Wert der Frauen für eine Kultur darstellte. Dieser Archetyp der „Dreifaltigen Göttin“, bringt keine selbstgewählten Rollen zum Ausdruck, wie das die maskulinen Archetypen tun. Sie sind verwurzelt in grundlegenden Gegebenheiten der Biologie. Selbstbestimmte Wahl kommt kulturell für Frauen erst seit relativ kurzer Zeit ins Bild, in der modernen Romanze, in der Frauen sich ihren Partner für eine Liebesbeziehung wählen.
Was für eine Zukunft könnten wir erschaffen, wenn Frauen von der tiefliegenden Identifikation mit biologischen, reproduktiven Rollen befreit wären? In meiner eigenen Arbeit mit Frauen stellt sich das oft als recht zäher Punkt heraus. Ich meine das Loslassen der Identifikation, Mutter oder Geliebte zu sein, die grundlegenden positiven Identitäten, die Frauen kulturell über die Jahrhunderte innehatten. Es handelt sich, mit anderen Worten, um Archetypen. Ich verlange von Frauen nicht, dass sie sexuell intime Beziehungen aufgeben sollen oder nicht länger Kinder bekommen und erziehen sollen. Der König ist auch ein Vater, der Krieger kann auch eine Liebesbeziehung eingehen. Doch allein Überlegung, dass sich Frauen nicht länger zuerst und an vorderster Stelle mit diesen biologischen Rollen identifizieren, ist Frauen hochgradig unangenehm. So wie einer Frau, die fragte: „Wer wäre ich dann?“ Genau darum geht es. Wahre Individuation fordert uns auf, herauszufinden, wer wir sind und sein können, wenn wir noch nicht wirklich individuiert sind, sondern lediglich akzeptierte Rollen, Motive und Verantwortlichkeiten übernommen haben, die die Welt so erschaffen, wie sie ist und immer war. Als die Archetypen der maskulinen Heldengeschichte unsere Kultur formten, zum Guten wie zum Schlechten, waren sie immerhin bewusst schöpferisch. Damit Frauen eine höhere und tiefere Fähigkeit zur Selbstbestimmung freisetzen, muss sich unsere Kreativität von passiver, biologischer Reproduktion zu aktiver, befreiter Autonomie verändern, in der wir bereit sind, schöpferisch Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Ist das menschliche Bewusstsein von der Vergangenheit befreit, öffnet sich ein weiter Horizont von Möglichkeiten und Potenzialen, die zu gestalten unsere Aufgabe ist.
Jung sagte, die „entscheidende Frage“ für uns Menschen ist, ob wir „mit etwas Unendlichem verbunden sind oder nicht.“ Die tiefe Arbeit, unser Selbst von Persona, Schatten und kulturellen Archetypen zu individuieren, die momentan eine tiefere Autonomie und Reife verhindern, konfrontiert uns mit dieser Frage. Loslassen wer wir glauben zu sein, das erfordert starkes Vertrauen zu unserer tiefsten Identität als GEIST. Sowohl GEIST als der unendliche Ursprung allen Seins, als auch GEIST-in-Aktion, der unaufhörliche kreative Prozess, der uns manchmal sanft, aber immer beharrlich weiter über das Bekannte hinausdrängt. „Nur wenn wir wissen, dass das Unendliche das wirklich Wichtige ist, können wir aufhören, unsere Interessen in Sinnlosigkeiten zu investieren und in alle möglichen Ziele, die eigentlich keine Bedeutung haben,“ sagte Jung. „Wenn wir verstehen und fühlen, dass wir hier in diesem Leben bereits eine Verbindung mit dem Unendlichen haben, ändern sich unsere Sehnsüchte und Haltungen.“ Er beschreibt damit einen grundlegenden spirituellen Prozess, der uns nur befreien kann, insofern wir uns zuerst mit dem identifizieren, was uns zutiefst menschlich macht – unsere Fähigkeit, die unendliche Einheit zu erkennen, aus der wir als Schöpfungsprozess selbst hervorgegangen sind. An diesem Punkt der Zeitgeschichte, in unserer chaotischen, konfliktreichen, pluralistischen Welt, scheint es mir notwendig, dass alle, die fähig sind, diese Art von Autonomie und Reife zu entwickeln, dies auch tun. Durch diese radikale Individuation können wir eine Zukunft erschaffen, die nicht länger einfach die Vergangenheit wiederholt, sondern endlich beginnt, sie zu transzendieren und einen neuen Weg in die Zukunft zu formen.

Elizabeth Debold erwarb an der Harvard University ihren Dokrtorgrad in Entwicklungsstudien und Psychologie und forschte unter der Leitung von Dr. Carol Gilligan. Debold ist Autorin und Redakteurin des Magazins evolve.