Elizabeth Debold: Was macht Bildung global?

Was macht Bildung global?
Elizabeth Debold

Im Niemandsland – das heißt, mitten in der Wüste – liegt eine eigentümliche Oase. Dort wachsen riesige Palmen mit dicken rauen Stämmen und wilden blättrigen Wipfeln angeordnet in einem Raster von 6 mal 6. Nirgendwo gibt es in einer Oase in der Wüste Palmen, die in einem Raster wie in einem kartesischen Koordinatensystem wachsen. Aber hier in der New York Universität (NYU) in Abu Dhabi, ist diese Art Oase sowohl das Zentrum eines modernen Universitätscampus als auch die perfekte Metapher für die besondere Art von globaler Bildung, welche die Universität anbietet. Ist das die Art von globaler Bildung, die die nächste Generation weltweit zusammenbringt? Ich bin mir nicht sicher.
Auf dem Heimweg von einer Indienreise machte ich in der NYU Abu Dhabi einen Zwischenstopp, um meine Mentorin Carol Gilligan und ihren Mann Jim zu besuchen.
Diese beiden Erfahrungen zeigten mir ganz unterschiedliche Möglichkeiten für globales Lernen. Carol und Jim unterrichten beide in der NYU Studenten, die die Gelegenheit haben, ein Semester auf dem „Ost-Campus“ der New York University zu verbringen – in Abu Dhabi.
Der moderne sandfarbene Campus wurde vor etwa sechs Monaten fertiggestellt und hat noch mehr Raum als Studenten. Die gesamte Universität wurde vollständig von einem Scheich finanziert, der eine Universität der Weltklasse in einem islamischen Kontext aufbauen wollte. Junge Muslime können dort in einer Umgebung studieren, die ihre religiösen Bräuche unterstützt. Außerdem ist die gesamte Ausbildung kostenlos und sogar ziemlich luxuriös (Studenten können z. B. einen persönlichen Fitnesstrainer haben). Die NYU führt das Auswahlverfahren durch und der Wettbewerb um die Plätze ist härter als in Harvard.
Nur 18 % der Studenten kommen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), weshalb die Studentenschaft wirklich global ist. Einige der weltbesten Studenten aus verschiedensten Ländern verbringen vier Jahre dort und entwickeln Freundschaften, die ein Leben lang andauern könnten. Allerdings hörte ich von einer jungen Frau aus einer von Carols Klassen, dass die kulturellen Unterschiede, die anfangs eine Anziehungskraft auf die Studenten ausüben, den Umgang miteinander schwierig machen können. Sogar mit den scheinbar sehr positiven Einstellungen der Studenten können uns Unterschiede verschieden und fremd werden lassen; es kann nicht so einfach sein, echte Beziehungen aufzubauen. Soweit ich es bei dem kurzen Aufenthalt sehen konnte, blieben die Studenten mit diesen Erfahrungen auf sich selbst angewiesen. Das Kollegium besteht vor allem aus Amerikanern, aber auch Lehrkräfte aus Europa werden an die Universität berufen, sie alle scheinen extrem liberal eingestellt zu sein – postmodernde Pluralisten könnte man sagen. Soweit ich sagen kann, können die Dozenten hier genauso arbeiten, wie an der NYU – es gibt keine Zensur. So gab beispielsweise auf Anraten des Kollegiums ein prominenter liberaler Rabbi eine Präsentation auf dem Campus. Ich weiß nicht, wie viele Studenten oder wie viele Muslime zu diesem Vortrag gingen, aber mit solchen Einflüssen kommen sie in Berührung.
Die Campussprache ist Englisch – und hier beginnen meine Fragen. Die Werte der Universität sind westlich und weltlich orientiert, sowohl mit dem modernistischen Glauben an die Objektivität der Wissenschaft als auch mit dem postmodernen Relativismus, der kaum Wertunterscheidungen macht – ausgenommen den Wert, dass jeder das Recht auf eine eigene Wahrheit hat. Auch wenn diese postmoderne Überzeugung in einem Zeitalter von Zivilisationskonflikten und Terrorismus zunehmend unbrauchbar wird, ist es der vorherrschende philosophische Ansatz in der liberalen akademischen Welt. (Tatsächlich ist der postmoderne Relativismus vermutlich der Grund, warum die NYU und ihre Lehrenden inmitten des massiven Ölreichtums arbeiten können, der die islamische Radikalisierung unterstützt hat, und dabei das Gefühl haben, dass sie etwas Gutes tun.) Die Investition von Prestige und Kapital, um die Universität und die Stadt zu gestalten, hat einen stabilisierenden Effekt auf die Region; aber erhalten die Studenten eine Ausbildung, die ihnen erlaubt, frei nachzuforschen und sich selbst und ihre Werte infrage zu stellen? Geschieht dies wirklich? Oder erlernen sie hier eine Weltsicht, die nicht wirklich global ist, sondern aus New York stammt? Solch ein Bildungsansatz ist extrem verführerisch. Aber ist er nicht vielleicht auch eine subtile neue Form der westlichen Vorherrschaft – dieses Mal nicht, indem Ressourcen mit Waffengewalt einverleibt werden, sondern durch den Versuch, die Kategorien und Werte von jungen Menschen zu verändern, damit sie in eine Welt des globalen Kapitals passen – versteckt hinter einer Fassade von pluralistischer Toleranz?

Diese Fragen wurden für mich sehr viel bedeutsamer, aufgrund meiner Indienreise. Ich war dort Teil eines kleinen Teams, welches das Potenzial von neuen, bewussten Dialogprozessen erforscht, um die Vielfalt in einem Kontext tieferer Einheit zu erfassen. Wir trafen uns im Konferenzzentrum von SIDH (Society for Integrated Development) im Himalaja, der Gesellschaft für integrierte Entwicklung, die von zweien der Teilnehmer unseres Dialogs gegründet wurde. SIDH unterstützte bis zu 19 Schulen in abgelegenen Dörfern in den Bergen, die von der Regierung nicht erreicht wurden. Heute sind noch drei Schulen verblieben, weil die Regierung inzwischen die meisten Dörfer mit Schulbildung versorgt.
Alle Inder, die teilnahmen, machten sich Gedanken bezüglich der tiefgründigen Effekte der Moderne auf die Traditionen der Gemeinschaften, die in Indien zusehends verschwinden. Ein Teilnehmer sprach sehr beeindruckend darüber, wie die Dorfbewohner mit einem Bewusstsein für das ganze Dorf leben, und sich in ihrem Leben dafür engagieren, die Bedürfnisse und Anliegen des Ganzen als erstes zu berücksichtigen. Das ist ein Wert und eine Fähigkeit, die wir Modernen und Postmodernen wiedergewinnen müssen, aber aus Sicht des individualisierten Selbst-Bewusstseins, das wir im Westen entwickelt haben. Diejenigen von uns aus dem Westen, die an diesen Dialogen teilnahmen, waren ebenso besorgt bezüglich der Effekte der Moderne, weil sie – ungeachtet der Nützlichkeit und aller Fortschritte – nicht nur den Planeten vergiftet, sondern auch die menschliche Seele. Die Individuation und Handlungsfähigkeit, welche die menschliche Kreativität vorantrieb, führte auch zu einer tiefen Entfremdung von uns selbst, voneinander und von der Welt, in der wir leben.
In einer sich schnell verändernden globalen Wirklichkeit eine angemessene Bildung zu entwickeln, kann paradoxerweise bei der Bildung von Kindern in Dörfern bedeuten, dass sie ihre Wurzeln mehr wertschätzen, als dass sie in den Wettbewerb auf dem Markt geschoben werden. Meine neuen Freunde von SIDH sprachen über ihre Arroganz und ihre Vorstellungen von dem, was die Dorfbewohner lernen sollten, mit denen sie die Dorfbewohner überzeugen wollten. Die Anziehungskraft der modernen Welt, die durch die Städte repräsentiert wird, lockt sehr viele junge Menschen aus den Dörfern. Geködert von den wunderbaren modernen Dingen und dem Versprechen eines besseren Lebens lassen sie ihre Heimatdörfer hinter sich und allzu oft stellt sich in großer Enttäuschung heraus, dass sie einen Fehler gemacht haben. Schulden und niedrige Löhne halten sie davon ab, einen Weg zurück nach Hause zu finden.
SIDH nimmt manchmal Teenager mit in die Stadt, damit sie die brutale Lebensrealität der ehemaligen Dorfbewohner sehen können. Sie entwickelten auch neue Lehrpläne, um den Dorfbewohnern zu zeigen, wie sie Pflanzen, Materialien und die Arbeit im Dorf als Grundlage für Lernen nutzen können. Als Antwort auf das Eindringen der globalen Modernität in die Intaktheit des Landlebens haben dien Lehrer diese Integrität bestärkt, anstatt dass eine Bildung anzubieten, die von der Lebenswirklichkeit der Kinder abstrahiert. Die Führungskräfte von SIDH haben wenig Hoffnung, die tiefe gemeinschaftliche Tradition aufrechterhalten zu können – die zerstörerische Kraft der Moderne ist möglicherweise zu stark. Und wie einer der Leiter von SIDH wiederholt sagte: „Wir können nicht zurückgehen.“
Vorwärts zu gehen, über die zivilisatorischen Unterschiede hinweg, war die Absicht unseres Treffens in Indien. Wir teilen die tiefe Beunruhigung über die Moderne – nicht so sehr in Bezug auf die materiellen Auswirkungen als über den Verlust des Zusammenhalts der menschlichen Beziehungen und der Wahrheit der Nicht-Getrenntheit. Die Kraft des Individualismus benötigt ein Fundament in der Tiefe der menschlichen Wechselbeziehungen und eine gemeinsame Absicht, das Leben auf diesem Planeten zu fördern. Für uns, die Teilnehmenden aus dem Westen, ist das ein Teil unserer spirituellen Praxis – das Erwachen zu einem Höheren Wir einer lebendigen Nicht-Getrenntheit. Für unsere Freunde aus Indien ist diese Tiefe der ursprünglichen Einheit eine naheliegende Erfahrung, die tief in ihrer Kultur verwurzelt ist. Unsere gemeinsamen Dialoge öffneten einen weiten Raum zwischen uns, der komplexe Diskussionen über Kernprinzipien, die die Wurzel der Trennung zwischen Indien und dem Westen bestimmen, ermöglichte. Obwohl während unserer gemeinsamen Zeit nicht alles glatt lief, konnten wir in eine gemeinsame Erkundung kommen, in der trotz der Unterschiede eine Ganzheit lebendig war. Aus meiner Sicht ist es in unserer Zeit eine Notwendigkeit, Beziehungsräume zu schaffen, in denen Einheit und Vielfalt gehalten werden können. Am Ende waren wir der geteilten Meinung, dass wir diesen Dialog fortsetzen wollen.
Wie hängt das mit der globalen Bildung zusammen? Jede Bildung auf dem Planeten hat heute die Tatsache der Globalisierung als Kontext. Ob in einem kleinen Dorf in Indien oder in einer Weltklasse-Universität in der Golf-Wüste – der homogenisierende Effekt der Moderne und der Weltwirtschaft eines multinationalen Kapitalismus müssen hinterfragt werden, weil er zu einer tiefen Entfremdung führen. Ist es möglich, Kommunikationsmittel zu schaffen – durch Dialog oder Bildung –, welche die westliche Art des Denkens und Seins nicht privilegieren und sie dennoch nicht in Abrede stellen? Das ist unsere Herausforderung. Können wir an einem Tisch sitzen und uns gegenseitig auf Augenhöhe menschlich tief begegnen, ohne die Spannungen zwischen uns zu übersehen? Tatsächlich argumentierte der Philosoph Jürgen Habermas, dass Kommunikation ohne Vorherrschaft („herrschaftsfreier Diskurs“) die Herausforderung unserer Zeit sei. Vorherrschaft kann brutal und offen sein oder weitaus subtiler. Sogar die Forderung, dass wir alle englisch sprechen, verzerrt das Vermögen, einander zu verstehen, und die Chance für jede(n), sich vollständig auszudrücken. Unsere Fähigkeit, zusammenzukommen und Ganzheit zu finden ohne die Unterschiede zu verdrängen, wird möglicherweise nicht nur die Qualität der Bildung der nächsten Generationen bestimmen, sondern auch, ob wir es schaffen, gemeinsam in unserem Projekt Menschheit zusammenzuarbeiten, damit sich das Leben auf diesem Planeten weiter entfalten kann.
***************************************************************************

Wenn Sie mehr über unseren ersten „One World Dialogue“ in Indien hören möchten, Thomas Steininger und ich werden darüber in einer kostenfreien Sendereihe „Integral Voices“ der Meridian University sprechen. Unser Thema lautet Integral We-Spaces: A New Context for Global Dialogue?
Der Termin ist Montag, der 15. Juni, 19 bis 20 Uhr dt. Zeit. Hier können Sie sich anmelden (auf der Seite herunterscrollen, um die Info zusehen) und finden die Zugangsdaten.

Ich möchte mich auch ganz herzlich bei meinen Kolleginnen und Kollegen Mary Adams, Steve Brett, Sri Pingali, Thomas Steininger und unseren Freunden und Kooperationspartnern in Indien bedanken.