Amir Freimann: Jenseits der Trennung – Bildung als spiritueller Weg

Amir Freimann

Jenseits der Trennung

Bildung als spiritueller Weg

Amir Freimann

 

“Tief im Herzen ist jedes Geheimnis des Geistes verborgen.

Nur aus einer Seele kann die Seele ihre Geheimnisse entdecken,

weder von irgendeiner Buchseite noch durch eine eloquente Rede.

Das Entscheidende ist die Seele, nichts sonst.”

(Jalāl ad-Dīn Rūmī)

 

Während ich nachdachte und Notizen für diesen Artikel vorbereitete, hatte ich die Gelegenheit, einen Workshop mit zwanzig erfahrenen Lehrern zu leiten. Ich stellte ihnen folgende Fragen, in dieser Reihenfolge: Was gibt Ihrem Leben Bedeutung? Was gibt Ihrer Arbeit Bedeutung? Wie haben Sie sich aufgrund Ihrer Arbeit als Mensch entwickelt? Wie würden Sie sich gerne weiterentwickeln? Wie können Sie dies in Ihrer Arbeit verwirklichen?

Nachdem sie diese Fragen in Zweier- und Vierergruppen diskutiert hatten, sagte ich ihnen, dass ich diesen Artikel schreiben werde und dass meine Fragen damit zu tun haben; und wir erforschten zusammen ihre Antworten. Einige der Einsichten in diesem Artikel stammen aus dieser gemeinsamen Exploration.

Worum geht es letztendlich in der Bildung? Was ist der Mittelpunkt und die Essenz der pädagogischen Begegnung zwischen Menschen? Was macht eine Interaktion oder eine Reihe von Interaktionen zwischen zwei Individuen zu einem pädagogischen Prozess? Über diese Frage nachzudenken ist wertvoll, weil wir alle – ob wir wollen oder nicht – gar nicht anders können, als pädagogisch zu wirken. Der einfache Grund dafür ist, dass Kinder und junge Menschen Bildung als einen Teil ihres Wachstums- und Entwicklungsprozesses brauchen und wünschen und in ihrer Umgebung ständig nach Anhaltspunkten für ihr Lernen suchen. Deshalb ist Bildung eine menschliche Tätigkeit, mit der wir alle befasst sind.

Bildung findet auf verschiedenen Ebenen statt, von der Ausstattung mit Informationen und dem Training von Fertigkeiten bis hin zur Bildung der Seele und spiritueller Begleitung. In diesem Artikel möchte ich die Bildung erforschen, deren Ziel es ist, zur tiefsten Ebene unseres Menschseins, der Entfaltung der Seele, des Erwachens des Bewusstseins und der spirituellen Entwicklung zu finden.

Auf dieser Ebene ist die Bildung eines anderen Menschen untrennbar mit der Bildung des eigenen Selbst verbunden und wird zu einem spirituellen Weg – »spirituell« in dem Sinn, wie Pierre Hadot das Wort verwendet, nämlich der »Transformation der Existenz eines Menschen«. Im Folgenden möchte ich einige Merkmale der »Bildung als spiritueller Weg« beschreiben.

Auf der Ebene von Bildung, über die wir hier sprechen, ist die Bildung der Seele eines anderen Menschen nicht abgetrennt von der Kultivierung der eigenen Seele. Von einem dualistischen Standpunkt aus betrachtet ist der Grund dafür, solch ein tiefes Interesse an einem oder mehreren Schülern und der Wunsch, das Beste in diesen Menschen zur Entfaltung zu bringen, dass auch das Beste im Pädagogen gefördert wird. Beispielsweise erzählte mir meine Frau Ruti, die als Gesangslehrerin mit ihren Schülern auch an den psychologischen und emotionalen Aspekten von Gesang arbeitet, wie ihr Wunsch, ihren Schülern zu einem volleren, freieren und authentischeren Stimmausdruck zu verhelfen, dafür sorgt, dass sie selbst ständig auf vielen Ebenen lernt und sich weiterentwickelt. Auch weil so viel in unserer psychologischen Entwicklung in dialogischen Beziehungen geformt wird, lebendig wird und zum Ausdruck kommt, kann sich die Entwicklung der Seele des Schülers nur in Verbindung und im Dialog mit der Kultivierung der Seele des Pädagogen entfalten.

Eine andere Art, diesen Prozess zu verstehen – oder vielmehr zu erfahren –, besteht darin, dass verbundene und liebevolle Fürsorge für die Begleitung der Seele des Schülers den Lehrer verstehen lässt, dass es auf dieser Ebene keine Trennung und keine Unterscheidung zwischen der Seele der Schülers und der eigenen Seele gibt. Auf dieser Ebene ist es nur die Seele, die durch die Interaktion zwischen zwei Individuen berührt, erweckt und entwickelt wird. Die Unterschiede zwischen ihnen (Alter, Erfahrung, Reife, usw.) können »von außen« wahrgenommen werden aber nicht »von innen«. Im »Inneren« ist nur die Entwicklung der Seele wahrnehmbar.

Ein Lehrer erzählte mir, der am meisten herausfordernde Aspekt seiner Arbeit sei die tägliche Reflexion darüber, was er in den Interaktionen mit den Schülern empfangen hat. »Von Zeit zu Zeit wird es unerträglich«, sagte er. »Ich möchte weglaufen, aber wie  könnte ich? Ich muss im Feuer bleiben und mich meinen eigenen Begrenzungen stellen, sowohl meinen automatischen und unbewussten Antworten als auch meinen Fixierungen.« Und die Rückmeldungen und die Forderungen an den Lehrer, die eigenen Begrenzungen und  Fixierungen zu transzendieren, werden umso heftiger, je mehr die Begegnung auf einer Ebene von Seele zu Seele stattfindet.

In unserem Lehrerworkshop kam im Verlauf das Thema der »diskriminierenden Liebe« der Lehrer zu ihren Schülern auf. Unvermeidbar empfinden Lehrer zu einzelnen Schülern spontan mehr Verbindung und Liebe und zu anderen weniger – und sie sind sich bewusst, welche Wirkung dies auf die weniger bevorzugten Schüler haben kann. »Oft ist es nur eine Frage der persönlichen Sympathie«, sagte einer von ihnen, »und da ich eine so wichtige Rolle im Leben meiner Schüler spiele, wäre es unfair, sie deshalb anders zu behandeln.«

Einige der Lehrer sprachen über ihre Bemühungen, ihre weniger beliebten Schüler kennenzulernen und eine enge Beziehung herzustellen, und über die verschiedenen Versuche, ihre persönlichen Präferenzen zu überwinden. Die Schwierigkeiten und die Anstrengungen, die solch ein Versuch erfordert, der Schmerz, den sie fühlten, wenn sie ihre Grenzen nicht überschreiten konnten, und die Gefühle von Erleichterung und Triumph, wenn es ihnen gelang, zeigten sich spürbar in ihren Berichten darüber.

Die Absicht der Lehrer, die Schüler weniger zu indoktrinieren, sondern vielmehr zu befreien, erfordert, dass sie von den Schülern nicht blinde Verhaltensweisen (Weltsichten, Überzeugungen, Werte) erwarten. Stattdessen müssen sie die besten Voraussetzungen schaffen, damit die Seelen der Schüler frei und unbelastet aufblühen können. Das ist leichter gesagt als getan. Der Lehrer oder die Lehrerin kann noch so gute Absichten haben, die Meme oder Annahmen, die er oder sie in sich trägt, haben ihre eigene Agenda – wie es passenderweise durch den Ausdruck »das egoistische Mem« (Richard Dawkins) verdeutlicht wird. Die Meme oder Vorstellungen des Lehrers »wollen« sich den Schülern aufdrängen – um zu vermeiden, dass der Pädagoge einen signifikanten Grad von Objektivität über sich selbst gewinnt. Um eine solche Objektivität zu erreichen, muss der Lehrer oder die Lehrerin in sich selbst das kennen, was absolut frei und niemals konditioniert werden kann, was eine spirituelle Empfindsamkeit erfordert. Auf dieser Basis kann er oder sie alles in sich selbst erkennen, was konditioniert und unfrei ist. Das ist eine große spirituelle und psychologische Aufgabe, die eine ernsthafte, gewissenhafte und unablässige Lebenspraxis erfordert.

So wie wir die absolute Wirklichkeit, den Urgrund des Seins – oder wie immer wir diese Wirklichkeit nennen –  nicht objektivieren und mit unserem Geist oder unserer Vorstellung begreifen können, so können wir die menschliche Seele, die Essenz unseres Seins, weder objektivieren noch begreifen. Um die Seele eines Schülers zu entwickeln, muss der Lehrer deshalb willens und fähig sein, unbekanntes Gebiet zu betreten und sich darin mit den geschlossenen Augen des Verstandes bewegen.

Vielfältige Techniken und Praktiken und einige Arten von Wissen können dem Lehrer und dem Schüler helfen, die Tore dieses Gebietes zu erreichen, aber jenseits der Tore sind sie nicht nur unbrauchbar, sondern sogar ein Hindernis. Im Gebiet der Seelenentwicklung kann der Lehrer oder die Lehrerin seinen/ihren Schülern und Schülerinnen nur Liebe, Vertrauen und das nackte Sein anbieten, so wie es wunderschön von Khalil Gibran ausgedrückt wird:

»Der Lehrer, der im Schatten des Tempels mitten unter seinen Schülern geht, gibt nicht von seiner Weisheit, sondern vielmehr von seinem Vertrauen und seiner Barmherzigkeit. Wenn er wirklich weise ist, wird er dich nicht in das Haus seiner Weisheit einladen, sondern vielmehr führt er dich zur Schwelle deines eigenen Geistes.«

 

Amir Freimann ist Gründer und Leiter des Israeli Education Spirit Movement. Er verfasste zwei Bücher über die Verbindung von Bildung, Philosophischer Forschung und spiritueller Suche. “Education – Essence and Spirit”, “Education – The Human Questions” Gerade arbeitet er an einem Buch: “(Trans)formative Relationships: Paradoxes, Dilemmas and Open Questions in the Teacher-Student Relationship” Er ist involviert in das beantragte Erasmus+ Project „Creating a Caring Culture (CCC)“ zusammen mit 5 europäischen Universitäten.

 

Weitere Beiträge zum Thema in evolve 14: LEBEN LERNEN: Bildung und die Entwicklung unserer Seele

Amir Feimann ist Referent auf dem Symposium “Bildung und Bewusstsein”