Eine Welt voller Zeichen: Die Bibliothek der unlesbaren Zeichen von Axel Malik in Weimar

Die Bibliothek der unlesbaren Zeichen

Eine Welt voller Zeichen

Die Bibliothek der unlesbaren Zeichen von Axel Malik in Weimar

Mike Kauschke

Schon viele Jahre verfolge ich die Arbeit des Künstlers Axel Malik mit seiner skripturalen Methode, wie er sie nennt. 1989 begann Malik damit, Zeichen zunächst in Tagebüchern, später auch auf Leinwand und verschiedenste Materialien zu schreiben, die sich dem Verstehen und Deuten im bekannten Sinne entziehen. Jedes Zeichen ist eine einzigartige Setzung – in den Millionen von Zeichen, die Malik geschrieben hat, ist jedes einzigartig. Die Zeichenfolgen, die unlesbare Schrift, eröffnen im Zusammenspiel der Zeichen eigene Dynamiken und Strukturen des Ausdrucks. Was mich an diesen Zeichen besonders beeindruckt, ist die ursprünglich schöpferische Lebendigkeit, die sich in ihnen ausdrückt. Wie geronnene Kreativität wirken sie. Und im Gegensatz zu einem wahllosen Gekritzel haben sie eine eigene Struktur und ästhetische Kraft. Malik selbst sagt über seinen Ansatz: „Beim normalen Schreiben wird unsere Wahrnehmungskraft und Aufmerksamkeit vollständig von dem, was wir sagen wollen, von den Gehalten unserer Gedanken absorbiert. Dreht man diese Gestimmtheit um, kommt es zu einer Rückkopplung. Plötzlich nimmt man von dem Zeichen selbst Notiz, sieht und spürt, aus welcher unglaublichen Intensität und Wucht heraus sie komplexe Gefüge, strukturelle Modelle, systematische Variationen und prozesshafte Ereignisse formulieren können.“

Ein Schwerpunkt in Maliks Projekt sind Installationen in Bibliotheken, 2003 in der Dombibliothek Hildesheim (mit einer 10 Meter langen Leinwand, auf der er über ein Jahr lang viele Tausend Zeichen geschrieben hat), 2006 in der Kornhausbibliothek Bern und 2015 unter dem Titel „Bibliothek der unlesbaren Zeichen“ in der Philologischen Bibliothek der Freien Universität Berlin, dem von Norman Foster konzipierten „The Brain“. Im gesamten Raum der Bibliothek stellte er dabei der lesbaren Schrift der Bücher seine unlesbaren Zeichen entgegen oder gegenüber. Begleitet wurde diese Ausstellung von einer Ringvorlesungsreihe „Schreiben als Ereignis“, in der sich Wissenschaft und Kunst in ihren unterschiedlichen Zugangsformen zur Wirklichkeit begegneten.

“Das Hemd des Bibliothekars”

Nun hat die Bibliothek der unlesbaren Zeichen einen neuen Ort gefunden. In der Bibliothek der Bauhaus-Universität Weimar hat Axel Malik seine Zeicheninterventionen noch intensiviert. Sie finden sich an den Fassaden und Innenwänden aus Glas, auf großformatigen Arbeiten an verschiedenen Stellen der Bibliothek, in ausgestellten Tagebüchern und dem „Hemd des Bibliothekars“, einem Objekt das sowohl von außerhalb wie innerhalb der Bibliothek aus verschiedenen Blickwinkeln ins Auge springt. Hierfür hat Axel Malik gemeinsam mit seiner Frau Anna Malik, die ihn bei dieser Arbeit intensiv unterstützt hat, ein überdimensionales Hemd (560 x 325 cm) entworfen und geschneidert, das mit zwei flüchtig wirkenden Zeichenhorizonten beschrieben ist, die trotzdem eine sehr präzise ästhetische Struktur bewahren. Für ihn ist dieses Objekt ein humorvoller Hinweis und eine Umkehr der Geschichte von des Kaiser neuen Kleidern. Keiner sieht und erkennt, dass Bibliothekare ein besonderes Hemd auf der Haut tragen, das auf die Sphäre der Unlesbarkeit ausgerichtet ist. Und es spielt mit der Tatsache, dass es für Bibliothekare keine eigene Uniform gibt – oder eben doch. Besonders beeindruckend für mich auch die Zeichen an den Glasfassaden, die in einen Dialog, ein Zusammenspiel mit der Außenwelt treten, dem Himmel, den Bäumen, den vorübergehenden Menschen.

Eine Besonderheit dieser Ausstellung – und vor allem einer parallelen Ausstellung im Goethe- und Schiller-Archiv – sind eine Reihe von Arbeiten, die sich auf die arabischen Schreibübungen Goethes beziehen. Im Zuge der Arbeit am „West-östlichen Diwan“ hat Goethe als „geistig-technische Bemühung“, wie er es selbst nannte, arabische Schriftzüge kopiert, nachgebildet und nachgeschrieben, ohne deren Bedeutung zu kennen. Im Sinne seines Lernens durch Anschauung wollte er durch das Nachvollziehen der Schrift die Stimmung und Qualitäten dieser Sprache und Kultur nachempfinden. „Der ungewöhnlichste Aspekt seiner Schreibübungen“, so Malik, „liegt für mich darin, dass er das unverständlich Fremde und befremdlich Neue zu einem Gegenüber, einem direkten Du macht, dem er sich nicht nur zuwendet, sondern dem er sich empathisch einschreibt.“ (Für mich ein beeindruckendes Zeugnis der lernenden Annäherung an eine fremde Kultur, die Goethe hier für sich entdeckt hat und die gerade heute nachahmenswert scheint.)

Ausstellung im Goethe- und Schiller-Archiv

Eine Reproduktion dieser Schreibübungen, die Malik 1995 entdeckte, war ihm seitdem eine ständige Inspiration. In den Ausstellungen in Weimar hat er diese Schriftübungen Goethes einer weiteren skripturalen Umformung unterzogen und mit eigenen Zeichen-Setzungen verbunden. Dazu nutzte er eine moderne technische Lösung: Er wandelte die Schriftzeichen Goethes zunächst in Vektordateien um, um danach über ein elektronisches Schreibtablett auf bestimmte Aspekte der Schriftzüge zu reagieren und in Korrespondenz zu treten. So entstand ein Zyklus von 11 großformatigen Werken, die in der Verschmelzung der Originalzeichen Goethes und Maliks Annäherungen und Antworten darauf dynamische Zeichenstrukturen und sehr unterschiedliche Schrift-Räume erzeugen. Jedes davon in einer anderen Dichte und Begegnungsenergie. Eine Rolle bei dieser Wirkung spielt auch das Material, das Malik teils aus praktischen aber auch konzeptuellen Gründen gewählt hat. Er ließ die im digitalen Format entstandenen Zeichenbilder auf hochweiße LKW-Planen drucken. Dieses ganz heutige Verfahren und Material bietet für Malik einen spannungserzeugenden Gegensatz zu Goethes Zeit, und zeigt, wie sich Handschrift in andere Medien übersetzt und in die feine, klassizistische Architektur des Goethe- und Schiller-Archivs moderne Schriftbilder und Zeichentexte setzt.

Bei der Vernissage der Ausstellung am 20. August ergründete der Kulturwissenschaftler und Philosoph Joseph Vogl die Weltwahrnehmung und Forschungsrichtung, der Axel Malik mit seinen unlesbaren Zeichen folgt. Was mich dabei besonders beeindruckte (so wie ich es bei den philosophisch anspruchsvollen Ausführungen verstanden habe), war zunächst der Hinweis, dass diese unlesbaren Zeichen auf nichts verweisen als sich selbst. Jedes lesbare Wort verweist sofort auf einen geistigen oder materiellen Gegenstand. Die unlesbaren Zeichen verweigern sich dieser Abstraktion und sind als das, was sie sind, präsent. Und laden den Betrachter ein, in diesen Momenten ganz bei den Zeichen und Zeichenfolgen und ihren Dynamiken zu sein. Vogl erklärte, dass sich in dem Nachvollzug der Bewegung der Zeichen doch eine Form von Lesen einstellen kann, in der so etwas wie eine Energieübertragung stattfindet. Vogl sprach auch über die Differenz in den Zeichen Maliks, da kein Zeichen sich wiederholt, ist jedes in sich, als Bewegungsprozess und komplexe Beziehungsstruktur einzigartig. Diese Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit bedingt ihre Unlesbarkeit. Gleichzeitig ist in den Zeichen eine Art Metaebene zu finden, in der die die Zeichen so etwas wie die Schrift vor jeder Schrift darstellen. Vogl zitierte den französischen Schriftsteller und Philosophen Roland Barthes: „Damit sich die Schrift in ihrer Wahrheit offenbart (nicht in ihrer Instrumentalität), muss sie unlesbar sein.

Vogl endete seinen sehr konkreten, aber mit abstrakten Denkfiguren ausgestalteten Vortrag mit einem poetischen Bild: Die Einzigartigkeit jedes Zeichens in Maliks skripturaler Methode und die Dynamik ihrer Verbindung in Zeichenfolgen kann auch als eine Chiffre für die Wirklichkeit gesehen werden. Denn ist nicht jeder Zweig, jede Wolke, jedes Gesicht, jede Blume, jeder Gegenstand solch ein einzigartiges Zeichen, solche eine unlesbar lesbare Schrift?

In der gespannten Stille, die dieser Frage folgte, begann Malik eine Schreibperformance. Auf einer breiten Leinwand wurden Zeichensetzungen projiziert, die er auf einem elektronischen Schreibtablett schrieb. Es war etwas von der Unendlichkeit spürbar, die Vogl in seinem Vortrag erwähnt hatte. Kein Zeichen gleicht dem anderen, eine unendliche Potenzialität wird spürbar. Einzigartig lebendig jedes Zeichen. Unlesbar, aber in seiner Bewegung nachempfindbar. Und im Schauen überträgt sich diese unerschöpflich, kreative Lebendigkeit, wird mitspürbar. Besonders aufgeladen auch der Moment der Stille und des Innehaltens, bevor ein neues Zeichen entsteht.

Viele der sehr gut besuchten Vernissage waren beeindruckt von der Intensität dieser Zeichen und konnten sich eine eigens von der Thüringer Landeszeitung gedruckte Seite mit Zeichen vom Künstler signieren lassen. Und selbst skripturale Snacks gab es: Ein lokaler Bäcker – und Vorsitzender des Karnevalsvereins – hatte in einer humorvollen Aktion Gebäck gefertigt, das den Zeichen Maliks nachempfunden war.

Ein starker Eindruck für mich beim Rundgang durch die Ausstellungen war, dass Axel Maliks Arbeiten mit unlesbaren Zeichen in die Räume einer Bibliothek oder eines Handschriftenarchivs so etwas wie Tore in eine andere Welt setzen. In Umgebungen, die von der Lesbarkeit leben, setzen sie immer wieder diese Öffnungen der Unlesbarkeit, die Eindeutigkeit, Bedeutung und Antworten verwehren. Stattdessen erwecken sie Ungewissheit, Staunen und Fragen. Und als ich nach dem Ausstellungsbesuch durch die Stadt und den Park an der Ilm ging, fragte ich mich, ob es uns nicht gut täte, das scheinbar Eindeutige und Lesbare, Bekannte, manchmal ganz neu, ohne Bezug auf seine Bedeutung, als unlesbar im herkömmlichen Sinn, als einzigartig das, was es in seiner eigenen Lebendigkeit ist, wahrzunehmen.

 

Info

Noch bis zum 17. November ist die Bibliothek der unlesbaren Zeichen in Weimar geöffnet.

Bauhaus-Universität Weimar Universitätsbibliothek

Öffnungszeiten:

Mo – Fr: 09.00 – 21.00 h

Sa: 10.00 – 16.00 h

 

Klassik-Stiftung Weimar Goethe- und Schiller-Archiv

Öffnungszeiten (der Ausstellungen):

Mo – Fr: 10.00 – 18.00 h

Sa – So: 11.00 – 16.00 h

 

Radio LOTTE Weimar
Gespräch mit Axel Malik über seine Bibliothek der unlesbaren Zeichen: Hier
 
Link zur Webseite von Axel Malik: Hier