Dröhnende Unendlichkeiten: Das Selbst und der Sturm im Anthropozän

Dröhnende Unendlichkeiten

Das Selbst und der Sturm im Anthropozän

Jeremy Johnson

Es ist der 10. September 2017, der Hurrikan Irma rast auf Florida zu wie ein Titan oder ein Drachen – was immer es ist, es ist größer als diese Halbinsel. Mit anderen Worten, Irma erreicht eine Größe, die nicht mehr auslotbar ist. Auch wenn der Blick aus dem Weltraum uns hilft, uns eine Vorstellung von ihr zu machen, so vermindert er weder ihren Umfang noch ihre Kraft.

Was würde ich trotzdem dafür geben, dort oben in der relativen Ruhe des Weltalls zu sein. Beam mich hoch, ISS.

Vor Jahren, als der Hurrikan Sandy an die Küste New Yorks heranstürmte, schrieb ich darüber, dass Seeschlangen und Drachen in den Mythen oft mit Chaos und Unordnung assoziiert werden. Tiamat ist die Schlange in der sumerischen Mythologie, die erschlagen werden musste, damit die Erde begründet werden konnte – das Chaos unter den Füßen der Zivilisation. Aber jede Zivilisation kommt schließlich an den Punkt, wo sie auf den zornigen Geist des Drachens stößt, den sie erschlagen hat. Wir bemerken zu spät, dass dieser Geist niemals tot war, er wartete nur ab.

Falls wir als Menschheit überleben und uns in den nächsten Jahrhunderten weiter entfalten, wird dies meiner Ansicht nach nicht durch irgendeine mythische Schlacht mit Drachen möglich werden. Das ist nicht mehr nötig. Und vielleicht war es das noch nie.

Mythen helfen uns, Komplexität zu verarbeiten. Sie erstellen aus verschiedenen Elementen lebendige, sinnvolle Symbole und transformieren Komplexität in einen dramaturgischen Akt, eine spontane, man könnte sagen autopoetische Eruption der Psyche. Mythen sind ein Eingangstor zum Unbewussten, wo wir Zivilisationen erträumen und wo sich Wirklichkeit und Fantasie zu einer unentwirrbaren Einheit verweben. Das ist unsere Natur.

So sehr das Seemonster ein Bild für Chaos und Durcheinander ist und für eine Welt, die geschaffen werden muss, ist es auch ein Bild für die Welt, wie sie ist; sie ist ein Bild von uns selbst.

Während ich mich hier in Florida bei meinen Schwiegereltern auf das Unvermeidliche vorbereite, halte ich eine Webseite geöffnet, die mich live mit Nachrichten über Irma versorgt.

Satellitenbilder, fließende Vorhersagen, die den schwankenden Weg des Sturms nach Osten, dann nach Westen und noch weiter westwärts zeigen. Irma atmet und pulsiert, wird schwächer zum Sturm der Kategorie 3 herabgestuft, bevor sie wieder zur Kategorie 4 anschwillt. Irma lebt. Mein Freund an der Ostküste Floridas erzählt mir, dass der Regen sich anders anhört als bei normalen Stürmen. Irgendwie präsent. Auch ich spüre etwas. Es fühlt sich wie ein Unwetter an, nur etwas übersteigert. Es wirkt eher wie eine Invasion an. Aber eine Invasion von was?

In Videos kann man die Geräusche von Irma hören: Unmenschliche Stimmen heulen durch die schwankenden Palmen und umgestürzten Schilder. Wieder kommen die mythologischen Fantasien hervor. „Sie lebt“, sage ich. Und meine Vorstellung wechselt von den Geräuschen der Hölle zum Gedanken, das sie lebt, ja sie lebt. Sie ist das Leben.

Irma ist natürlich eine andere Art von Ungeheuer. Nicht nur ein Hurrikan, sondern die Summe aller Elemente der menschlichen Aktivitäten: unsere CO2-Emissionen, das Atmen, Pumpen und Klirren von Milliarden von Maschinen, die ratternd das Öl verschlingen, das aus Milliarden anderer Organismen entstanden ist. Irma ist der Hinweis eines viel, viel größeren, umfassenderen Lebewesens, das wir nicht sehen: das Lebewesen des Erde-Mensch-Organismus. Das Hyperobjekt des Anthropozäns.

Wir haben es mit Drachen zu tun, aber der Drachen ist irgendwie auch wir. Der Uroboros, der sich in seinen Schwanz beißt, ist der Sturm, der droht, uns zu verschlucken.

Bruno Latour hat uns so treffend daran erinnert, dass uns das Anthropozän in eine prekäre Fremdheit mit der Welt, mit „Gaja“ versetzt. Die letzte Bastion der Trennung zwischen Chaos und Ordnung ist schon in den nostalgischen Horizont der Vergangenheit zurückgewichen: Die Natur und die menschliche Natur sind miteinander kollidiert und das Ungeheuer im Sturm ist der Spiegel, so wie ein Doppelgänger aus einem Film von David Lynch, der uns aus dem Dunkel angrinst. Als Teilhard de Chardin von der Noosphäre träumte oder als Julian Huxley vorschlug, dass wir das Universum sind, das sich seiner selbst bewusst wird, dachten sie da an die dröhnenden Unendlichkeiten des Anthropozäns? Der Mensch-Sturm, der Mensch wird? Die seltsame Schleife, in der wir uns befinden, zwingt uns jetzt, das zu beachten, was der Philosoph Jean Gebser uns über die Phänomenologie eines neuen Bewusstseins sagte: Hier bedeutet Integralität, dass die Existenzkräfte in uns und durch uns verwirklicht werden – auf die eine oder andere Weise. Das Integrale kommt also nicht nur durch Mythen zu Bewusstsein, noch allein durch das Verstehen des Klimawandels, sondern wir werden uns wirklich bewusst, dass wir schon Teil eines planetaren Super-Organismus sind (und nicht nur das, sondern auch, dass alles Sein ein nicht-wissbares, unerschöpfliches Mysterium ist.) Grenzenlose Ganzheit, die Schönheit und Schrecken durchdringt. Wie ein Mentat, die menschlichen Computer in Frank Herberts Science-Fiction-Roman Dune müssen wir Multiplizitäten, Vergangenheit und Zukunft, Beziehungen, die mit unsichtbaren Linien alle Aktivitäten durchdringen, vorausahnend wahrnehmen.

In dem Animations-Film Akira wird der Hauptprotagonist Akiba zu einer Singularität, oder bemerkt vielmehr, dass er eine Singularität ist. Die Kräfte, die er auf der Welt entfesselt, sind letztendlich unkontrollierbar und kommen deshalb entfesselt auf ihn selbst zurück. In dem evolutionären Sprung, den er unternimmt, wird er alles, und nur, wenn er diese Bewusstseinstransformation vollendet, kann er hoffen, sein Gleichgewicht wiederzufinden (und vermeiden, die Welt zu zerstören). Man könnte annehmen, dass die Entdeckung, dass wir Menschen als Spezies ein Hyperobjekt, das „Anthropozän“, sind, auch dazu führt, dass wir erkennen, welch fürchterliches und furchterregendes Wesen wir geworden sind, und uns aus der selbstzerstörerischen Katastrophe steuern. Vielleicht. Es gibt Grund zur Hoffnung.

Es ist Nacht und still, hier wo ich bin. Ich empfinde den kommenden Sturm als Präsenz, einen fürchterlichen Freund. Ich teile die Stille mit dem Sturm, weil ich fühle, dass er auch durch mich hindurch fegt. Könnte ein Sturm auch Rilkes „überfließende Himmel“ sein? Können Stürme durch unsere inneren Himmel rauschen, wie große und wirbelnde Vögel? Wenn ein Sprung, eine Bewusstseinsmutation in uns geschieht, dann geschieht sie uns auch. Als ob wir in uns selbst einen unendlichen Diamanten finden. Welch seltsame Kräfte wurden entfesselt – was für ungeheure Wesen können wir dadurch wohl werden? Das Morgen hat uns in seine Mysterien eingeweiht, ins Menschsein-und-Weltsein. Das Morgen kommt, wie ein Sturm, und wir haben wenig Mitsprache dabei. Wie bei jeder Transformation (wie Geburt und Tod). Deshalb werden wir den Sturm in uns aufnehmen und die Erde atmen.

 

Jeremy D. Johnson hat einen Master in Consciousness Studies vom Goddard College in Vermont. Er ist Autor und Journalist mit einem Interesse für Bewusstsein, Kultur und Futurismus sowie Präsident der International Jean Gebser Society. Momentan arbeitet er an seinem ersten Buch »Passages From Tomorrow«.

www.jeremydanieljohnson.wordpress.com/

Ein Artikel von Jeremy Johnson ist erschienen in evolve 15
MENSCH & MASCHINE
Big Data und die Zukunft der Menschlichkeit