Adrian Wagner: Europa als Real-Labor – Eindrücke von der OpenLivingLab-Konferenz in Krakau

Adrian Wagner beim OpenLivingLap in Krakau

Europa als Real-Labor

Eindrücke von der OpenLivingLab-Konferenz 2017 in Krakau

Adrian Wagner

Die Sonne lacht und bäumt sich auf in Krakau, vermutlich ein letztes Mal, die nächsten Tage wird es Regen geben. Die Luft scheint eine andere zu sein, hier im Osten von Europa, sie flimmert so schön, als ob mehr Licht den Raum am Firmament erfüllt.

Nach einer langen Reise hatte ich etwas Zeit am Montag anzukommen, in der Altstadt. Plötzlich in einer anderen Welt, wo Glaube und Tradition gefühlt noch viel stärker zum Alltag gehören. Durch einen Zufall stolperte ich in eine orthodoxe Messe – Gold, Gewänder, die Frauen mit Kopftücher, der Patriarch, der durch den Raum zog und in wehendem Gewand heiliges Wasser in die Menge warf. Frauen, welche die Heilige Schrift küssten, die auf dem Altar thront. Männer, die auf die Knie fallen und sich verbeugen.

Ein anderes Krakau erlebe ich im Technology Park, wo sich die Region Krakau auf die Produktion von Videospielen konzentriert und in der die OpenLivingLab Conference 2017 stattfindet. Organisiert wird sie vom europäischen LivingLab-Netzwerk, ein Zusammenschluss von mehren Hundert Real-Laboren in ganz Europa und darüber hinaus. Real-Labore sind Räume, in denen durch Ko-Kreation, Innovation und der Vernetzung unterschiedlicher Akteure aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft an konkreten Fragen und Projekten geforscht und experimentiert wird. Viel wird diskutiert, die ersten zwei Tage sind dicht getaktet.

Prozess-Tools, User Orientation. Ideation, Co-Creation, Smart Everything – leider sind es auch oft Worthülsen und abstrakte Begriffe. Mit einer Wissenschaftlerin aus Russland diskutiere ich anfänglich über die deutsche Flüchtlingspolitik. Ein weiteres Highlight ist der Vortrag eines Rumänen, der mit seiner Stiftung „Altart“ den rumänischen Kultursektor stärken will. Wie er in seinem Projekt Vertrauen zwischen ihm und den Roma geschaffen habe, wird er gefragt. Seine Antwort: „Ich haben ein paar aktive Anarchisten engagiert, und Schamanen, es braucht Schamanen.“ Er macht deutlich, dass die Prozessgestaltung von herrschaftsfreien Räumen, wie sie unter anderem in anarchistischen Kreisen praktiziert werden, und der bewusste Umgang mit struktureller Gewalt, notwendig sind, wenn Living Labs nicht einfach ein weiteres Marktinstrument der Mittelklasse bleiben wollen. Er eckt an, bricht aber durch seine Authentizität den Raum der losen Floskeln auf.

Neben ihm ein Mensch aus der Europäischen Kommission, mit dem ich später über Quantenphilosophie diskutieren werde. Es gibt sie, die tiefen und freien Denker auch in der Europäischen Kommission. Es ist bereits das zweite Mal in wenigen Wochen, dass ich Gespräche mit EU-Offiziellen über die realpolitischen Implikationen von Quantentheorie und Blockchain-Technologie für die Zukunft Europas führe.

Als ich am Ende der Konferenz die russische Wissenschaftlerin wieder treffe, entsteht bei aller Differenz ein tiefes Verständnis, dass es in Europa Deutschland in seiner Stärke braucht, um Russland letztendlich eigenständig entgegen zu treten. Es braucht Heilung, kollektiv. Tätig in der Schweiz berichtet sie von der verdrängten Schuld, welche die Schweizer in NS-Zeiten auf sich geladen haben – und die nach ein paar Gläsern Wein zum Vorschein kommt.  Mit einem Spanier sprechen wir plötzlich im Rahmen eines Workshops zu Governance über kollektive Traumata: Was wäre, wenn es Living Labs gäbe, geschützte Räume für unterschiedliche Akteure und Politiker, in denen kollektive Themen einen Raum hätten, die Auswirkungen auf globale Politik getestet und nachvollzogen werden könnten? Schon heute taucht der Begriff Living Lab in Strategiepapieren der Europäischen Union im Rahmen einer Digital Single Market Strategie auf. Was aber, wenn Europa selbst als Living Lab verstanden wird? Was wenn wir Ko-Kreation großschreiben und gemeinsam in Europa auch in der Wandlung des politischen Lebens verwirklichen? Ein großer Traum. Jedoch überrascht mich die Offenheit, mit welcher diese Themen mit Führungskräften aus Wirtschaft und Politik diskutiert werden können. Europa muss sich neu erfinden, Europa in diesem Sinne ist nicht tot, sondern ein Real-Labor und jeder einzelne Citoyen ein Teil dieses Experiments.

Morgen werde ich mit Belgiern, Franzosen und Engländern nach Auschwitz fahren, gemeinsam werden wir der Toten gedenken. Heute Abend jedoch steht Tango mit einer Französin auf dem Programm. Für mich macht es deutlich, in welchem Europa ich heute lebe. Es braucht nicht die Schwere von gestern, jedoch die Erinnerung, dass wir auch heute, 80 Jahre nach den Schrecken des Krieges – und mit der realen Gefahr, Länder wie Polen zu verlieren – noch immer auf der Suche nach neuen Formen der Partizipation sind. Dialogarbeit, einmal mehr, für ein lebendiges Europa.

 

Adrian Wagner, digitaler Nomade und intellektueler Shamane, lebt zwischen Brüssel, Tel Aviv und Freiburg. Er führte u. a. Real-Labore in Ägypten für das Auswärtige Amt und in Sekem im Rahmen einer Transformationspartnerschaft durch. Als Prozessgestalter begleitete er zahlreiche Leadership-Trainings für internationale Organisationen wie UNIDO, UNAOC, Goethe Institut, Caritas und Rotes Kreuz. Momentan forscht er im Auftrag des Global Cooperative Trust über Bewusstseinsentwicklung, Nachhaltigkeit und Politik.