Wir leben: Rückblick auf die Konferenz Heiligenfeld zum Thema “Wir”

IMG_4368Wir leben – Rückblick auf die Konferenz Heiligenfeld “WIR – Bewusstsein, Kommunikation und Kultur”
Mike Kauschke

Was ist ein Wir? Und was bewirkt ein neues Wir-Bewusstsein in unserer Kommunikation und unserer kulturellen Entwicklung? Diesen Fragen, denen wir auch unserer aktuellen Ausgabe von evolve nachgehen, widmete sich dieses Jahr vom 11. bis 14. Juni der Kongress der Akademie Heiligenfeld in Bad Kissingen mit dem Titel „WIR – Bewusstsein, Kommunikation und Kultur“ unter Leitung von Joachim Galuska und Albert Pietzko. Über 1000 Teilnehmer gingen vier Tage diesen Fragen nach, in einer Fülle von Vorträgen, Podiumsdiskussionen, Workshops, musikalischen und poetischen Beiträgen, Tanz und Theater – und den anregenden Pausengesprächen.
In dieser Fülle wurde schnell klar, dass die Frage nach dem Wir genauso komplex und vielschichtig ist, wie unser Menschsein. Was die vielen Referenten und Workshopleiter unter dem Wir, der Erfahrung und Vertiefung oder Bewusstwerdung des Wir verstanden, war sehr unterschiedlich. Aber diese Vielfalt der Zugänge zum intersubjektiven Raum unseres Lebens eröffnete ein weites Spektrum der Exploration.
20150611_202204Dass diese Vielschichtigkeit des Wir ein zentrales Thema wurde, zeigte sich schon bei der Podiumsdiskussion am Donnerstagabend, in der der Leiter der Heiligenfeldkliniken Joachim Galuska, der Soziologe Peter Spiegel, der Kommunikationswissenschaftler Claus Eurich, die Management-Beraterin Siglinda Oppelt, der Künstler Werner Ratering und evolve-Herausgeber Thomas Steininger die vielen Dimensionen des Wir für den Kongress öffneten. Dabei zeigte sich auch, wie wichtig es für ein Gespräch über Wir-Räume ist, sich dieser unterschiedlichen Ebenen und Verständnisweisen des Wir bewusst zu sein. In diesem Sinne wurde der Kongress zu einer gemeinsamen Untersuchung dieser Vielgestaltigkeit des Wir und der Herausforderungen und Möglichkeiten, die sich daraus ergeben. Das Wir des Kongresses erforschte also in einer Art Feldexperiment seine eigene Natur und die Reibungen und Entwicklungspotenziale, die darin spürbar werden. Nicht im Sinne einer Selbstbespiegelung, sondern eher so, dass sich die Themen, die uns allgemein in unserer Gesellschaft und krisenhaften Weltsituation bewegen, repräsentativ zeigten und gestaltbar wurden.
20150612_091720Der Vortrag von Claus Eurich vor dem gesamten Plenum setzte dafür den Ton. Er sprach über die Bedeutung der Kommunikation für jedes Wir. Dabei bezog er sich in einem geschichtlichen Abriss auf Schlüsselfiguren einer bewussten und engagierten Kommunikation wie beispielsweise Thomas von Aquin, Aristoteles, Martin Buber oder Hannah Arendt. Wichtig für mich war an seinem Vortrag die Betonung der ethischen Dimension jeder Kommunikation. Die Tiefe und Weite unserer ethischen Begegnungsfähigkeit mit der Welt, zeigt sich in unserer Kommunikation – nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch im Wir mit allen Wesen, der Natur. Damit war auch die Dringlichkeit angesprochen, die dem Thema des Kongresses eine existenzielle Aufladung gab. Denn viele der äußeren Krisen der Umweltzerstörung und bewaffneten Konflikte und der inneren Krisen wie Sinnleere oder Burnout sind auch darauf zurückzuführen, dass wir nicht wirklich kommunizieren – mit uns selbst, mit anderen Menschen, mit der Welt. Ein neues Wir-Bewusstsein wäre demnach die Sphäre einer lebendigen Kommunikation auf diesen Ebenen, die uns als verantwortliche Menschen zur Gestaltung unserer Welt ermutigt und befähigt.
Wie viele Formen diese Verantwortung für die Entwicklung einer Wir-Kultur nehmen kann, zeigten die Vorträge und Workshops. Es ging unter anderem um die psychologischen Voraussetzungen eines gesunden Wir, um die Möglichkeiten eines Wir-Bewusstseins in Unternehmen, das Wir in Partnerschaft und Beziehung, spirituelle Dimensionen des Wir, den Ausdruck eines globalen Wir oder die Bedeutung des Wir in Bildung oder Wirtschaft. IMG_4341Dazu kamen gemeinsame Wir-Erfahrungen bei einer fulminanten Show des Tanzenden Theaters Wolfsburg zum Thema des Kongresses oder einer Tanzparty in zwei Sälen des Regentenbaus.
Ein Thema, das in vielen Vorträgen und Workshops angesprochen wurde, war die Beziehung zwischen Ich und Wir: Wie können wir uns in ein Wir begeben, ohne unsere individuelle Freiheit zu verlieren? Wie hängen individuelle und intersubjektive Entwicklung zusammen? Kann man beides ausgleichen oder ergänzen oder verstärken sie sich? Die vielen verschiedenen Antworten zeigten, dass es offene Fragen sind, in die wir „hineinleben“ können – wie Rilke einmal den Umgang mit existenziellen Fragen beschrieb.
IMG_4305Zum Abschluss des Kongresses sprach Joachim Galuska die Bedeutung einer neuen Wir-Kultur für unsere Bewusstseinsevolution an. In die Mitte seiner Überlegungen stellte er den Begriff des Lebens und dessen Vergegenwärtigung. Wenn wir über unsere getrennte Individualität hinausgehen, können wir in einem „Seelenbewusstsein“ unsere tiefe Verbundenheit mit dem Leben erfahren – dem Leben in uns, in anderen Menschen und Wesen, in Natur und Kosmos. Diese seelische Verbundenheit mit dem EINEN Leben können wir im Ich und im Wir vergegenwärtigen, erfahren, erproben, zum Ausdruck bringen und entwickeln. Vor diesem Hintergrund zeigte Joachim Galuska den Schritt von der „Vergegenwärtigung des Lebens als Ich und Wir“ zu einer „absichtsvollen Evolution“, in der für uns die „gemeinsame Kreation einer intelligenten Evolution“ zum Anliegen, zur Möglichkeit und zur Aufgabe wird. Mit dieser Formulierung einer „neuen abendländischen Spiritualität“ ging Joachim Galuska dann in einen Ausblick auf die Konferenz im nächsten Jahr.
IMG_4381Unter dem Titel „Spiritualität im Leben“ wird die Frage gestellt, wie diese Vergegenwärtigung des Lebens sich ereignen kann und welche Konsequenzen dies für uns – Ich, Wir und Welt – hat. Ich bin schon sehr gespannt darauf, wie der Begriff und die Erfahrung des Lebens, der mindestens ebenso viele Dimensionen und Facetten hat, wie das „Wir“, im nächsten Jahr Gestalt annimmt, in den Dialog kommt und – lebendig wird.
Auf jeden Fall kann man dem Kongress selbst als ein lebendiges Wesen sehen und wahrnehmen. Als ich während des Kongresses an einer Pinnwand entlanglief, an der die bisherigen Kongresse mit den Themen und Sprechern vermerkt waren, wurde mir klar, dass ich schon beim ersten Kongress in Heiligenfeld 2003 Teilnehmer war, damals ganz begeistert von der Entdeckung einer „transpersonalen Psychotherapie“. In den über 10 Jahren hat sich der Kongress bemerkenswert entwickelt und bedeutsam dazu beigetragen, dass der Aspekt des Bewusstseins heute in Medizin, Psychotherapie oder Wirtschaft zunehmende Beachtung findet. Gleichzeitig hat sich aber auch das Verständnis von Spiritualität ständig entwickelt und erweitert. Ich freue mich schon darauf zu erleben, wie wir diese Entwicklung im nächsten Jahr weiterführen.

Videoimpressionen von der Konferenz

Foto-Gallerie

Aufzeichnungen von den Vorträgen kann man hier bestellen.