Die Algorithmen und wir

Wem gehört die Zukunft?

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Künstliche Intelligenz wird unsere Welt völlig verändern. Viele ihrer Vordenker haben die Vision, dass wir Menschen in naher Zukunft mit intelligenten Maschinen verschmelzen. Mit einer Intelligenz, die unsere Intelligenz weit in den Schatten stellt. Vielleicht ist das ein guter Zeitpunkt zu fragen, was ein Mensch und was eine Maschine ist.

Thomas Steininger

Wir leben mitten in der Big-Data-Revolution, und diese technische Revolution ist ein großer weltgeschichtlicher Umbruch, mehr – als uns oft bewusst ist. In großer Geschwindigkeit werden immer weitere Dimensionen unserer Welt Teil eines großen algorithmischen Netzwerks. Mit den Suchmaschinen, den sozialen Medien, mit unseren Smartphones, aber auch den Webkameras und der neuen Wearable Technology verbinden wir immer größere Bereiche unserer analogen Welt mit den Rechenzentren der Internetkonzerne.

Und diese Rechenzentren entwickeln in einem rasanten Tempo eine neue, künstliche Intelligenz, die wir uns vor wenigen Jahren noch nicht vorstellen konnten. Im Mai 2017 gewann Googles DeepMind-Programm gegen den chinesischen Weltmeister des Go-Spiels Ke Jie. Auch die Fachwelt war völlig überrascht. Go ist nicht Schach, es ist viel komplexer. Es braucht viel mehr Intuition und Improvisation – Fähigkeiten, die wir dem Computer noch nicht zutrauten.

Und DeepMind ist nicht einfach ein Programm. Es ist eine künstliche Intelligenz, die sich das Go-Spiel selbst beigebracht hat und täglich weiter lernt, viel schneller als wir. Die Verbindung der alles umspannenden digitalen Netze mit einer technischen Intelligenz, die in rasender Geschwindigkeit immer Neues lernt, wird unsere Zukunft bestimmen. Bald wird sie unsere gesamte menschliche Intelligenz überflügeln. Sie wird Lösungen für Probleme entwickeln, an die wir noch nicht einmal gedacht haben. Dieser Moment, an dem sie uns ein für allemal überflügeln wird, hat auch schon einen Namen. Ray Kurzweil, der technische Direktor von Google und einer der Propheten dieser digitalen Zukunft, nennt ihn Singularität, und er sagt ihn für das Jahr 2045 voraus.
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Bibel der Singularität

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Es gibt auch schon eine neue Bibel der Singularität. In dem weltweiten Bestseller Homo Deus beschreibt der israelische Historiker Yuval Harari mit einer brillanten Fülle an Details und Hintergrundinformationen, wie unsere bisherige menschliche Geschichte bald zu Ende gehen wird. Die Zukunft gehört ganz der künstlichen Intelligenz. Wir dürfen nicht vergessen, auch wir Menschen haben die biologische Evolution mit unserer kulturellen Evolution als bestimmendem Entwicklungsfaktor für den Planeten Erde abgelöst. Genauso wird jetzt die künstliche Intelligenz unsere bisherige menschliche Geschichte ablösen. Zu uns herkömmlichen Menschen wird diese neue technische Intelligenz, so Harari, ein ähnliches Verhältnis entwickeln, wie wir es zu unseren Nutz- und Haustieren entwickelt haben. Dieser Prozess ist schon im Gange. In dem Maße, in dem immer mehr Menschen mit dieser neuen künstlichen Wirklichkeit verschmelzen – nicht nur mit Smartphone und Computer, sondern bald auch durch Implantate, technische Schnittstellen und künstliche Verbesserungen unserer Körper – wird der neue Cyborg-Mensch so etwas wie unsterblich, allwissend und allmächtig werden. Deswegen nennt Yuval Harari sein Buch auch Homo Deus.

Das sind sehr religiöse Töne, und das ist besonders interessant, weil die Transhumanisten rund um Ray Kurzweil oder Yuval Harari meist überzeugte Materialisten sind. Ihr Traum ist, und das sprechen sie ganz offen aus, dass uns die Technik von unseren Unzulänglichkeiten erlösen wird. Dieser Erlösungsgedanke hat viel mit ihrer Vorstellung des Menschen zu tun. Wir sind, so ihre Meinung, eine Form hoch entwickelter biologischer Technik. Yuval Harari, der sich in seinem Buch gleichzeitig als Buddhist und Materialist darstellt, bringt diese Ansicht so auf den Punkt: „Alle Lebewesen sind eine Form von Algorithmus.“ Das ist für ihn die logische Schlussfolgerung aus den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft. So wie Nietzsche Gott für tot erklärt hat, spricht Harari heute vom Tod des Humanismus. Die Zukunft gehört dem „Dataismus“, einer Welt, in der nicht mehr die Menschenrechte den höchsten Wert unserer Gesellschaft darstellen werden, sonden der frei lernende Informationsfluss im globalen Datennetz.

Das ist vielleicht der Kern der Big-Data-Revolution, die wir gerade erleben. Die Frage ist, ob wir diesen Übergang wirklich so wollen. Aber das hängt auch davon ab, wer wir als Menschen eigentlich sind. Die gängige materialistische Naturwissenschaft neigt ja wirklich zu der Ansicht, wir seien hochkomplexe biologische Algorithmen. Sollte das so sein, haben wir von der transhumanistischen Zukunft vielleicht nichts zu befürchten. Wir bauen, so ein wesentliches Argument der Transhumanisten, einfach die besseren algorithmischen Maschinen. Wäre unser Dasein damit erfüllt? Um diese Frage zu beantworten, ist es heute so wichtig, noch einmal darüber nachzudenken, wer wir unserem Wesen nach wirklich sind. Gibt es etwas in uns, das Maschinen nie sein können? Wenn dem so ist, stehen wir an einem kritischen Punkt. Dann müssen wir dringend darauf achten, wie wir unsere technische Zukunft so gestalten können, dass wir diese besonderen Qualitäten des Menschseins nicht von einer anderen, der künstlichen Intelligenz, einfach an die Seite drängen lassen. Vielleicht ist das ja der Moment, einen alten Humanisten zu Wort kommen zu lassen. Goethe meinte in seiner Ballade „Der Zauberlehrling“: „Die ich rief, die Geister werd ich nun nicht los.“ Es ist ein guter Zeitpunkt, darüber nachzudenken: Was bedeutet es, Mensch zu sein? Wir können uns dabei nicht allein auf persönliche, vielleicht religiöse oder spirituelle Glaubenssätze zurückziehen. Diese Frage betrifft uns alle gemeinsam, als ganze Menschheit. Wir müssen in unserer offenen Gesellschaft miteinander Antworten finden, zusammen mit Agnostikern, Traditionalisten, Fundamentalisten, postmodernen Spirituellen und allen anderen Menschen. Wir brauchen einen gesellschaftlichen Dialog darüber, wer wir sind.
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Wir sind hier

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Der kürzlich verstorbene amerikanische Philosoph Hubert Dreyfus hat uns hier vielleicht etwas zu sagen. Schon in den 60er Jahren war Dreyfus einer der ersten prominenten Kritiker der künstlichen Intelligenz. Er machte darauf aufmerksam, dass uns Menschen etwas Prinzipielles von künstlicher Intelligenz unterscheidet. Es ist fast zu offensichtlich, um es bewusst zu sehen: „Wir sind hier. Die Welt betrifft uns. Sie berührt uns. Sie ist uns ein Anliegen. Du bist mir ein Anliegen.“ Diese Fähigkeit, in diesem Sinn anwesend zu sein, betroffen zu sein, können auch die intelligentesten Maschinen nur simulieren. Auch wenn sie mit aller nur denkbaren zukünftigen Rechenleistung perfekte fürsorgliche Antworten auf alle Fragen dieser Welt finden werden, so werden diese Antworten doch nur berechnete Antworten, Algorithmen sein. Da ist niemand in der Maschine, der in unserem Sinne von der Welt persönlich betroffen ist. Diese Betroffenheit unterscheidet uns. Und nur weil uns die Welt betrifft, empfinden wir so etwas wie das Bedürfnis nach dem Wahren, dem Guten und dem Schönen. Aus dieser grundlegenden menschlichen Fähigkeit entsteht ein ganzes, eigenes Universum, in dem wir einander etwas bedeuten. Nur so gibt es Sinn in der Welt.

Spirituelle Menschen können natürlich noch viel weiter gehen. Eine grundlegende spirituelle Erfahrung ist ja, dass diese Sinnerfahrung nicht eine willkürliche persönliche Erfahrung ist, sondern dass sie eine universelle Wirklichkeit besitzt. Da würden Atheisten oder Agnostiker vielleicht nicht mitgehen. Aber wir können uns darin treffen, dass uns die Welt als Menschen etwas angeht, dass wir in ihr einen Sinn empfinden oder zumindest einen Sinn suchen. Kein Transhumanist behauptet, dass das in absehbarer Zeit eine noch so intelligente Maschine auch so empfinden wird. Aber wenn, wie die Transhumanisten hoffen, die künstliche Intelligenz uns ab 2045 in der Gestaltung der Welt überflügelt, dann wird diese Frage auch nicht mehr in unserer Hand liegen. Wir leben in einem Moment der Geschichte, in dem wir vielleicht die Deutungshoheit über unser Menschsein verlieren. Wir haben ein Zeitfenster, in dem wir uns neu besinnen können, welche Zukunft wir wollen.

Wir haben uns so daran gewöhnt, die Welt und uns selbst, unser eigenes Menschsein mit einem technisch-instrumentellen Blick wahrzunehmen. Wir schauen sozusagen von außen durch unsere technisch-instrumentelle Brille auf uns selbst zurück. Auf diese Weise nehmen wir uns aus einer Perspektive wahr, aus der wir vielleicht auch Maschinen sein könnten. Unsere materialistisch-moderne Zivilisation ist heute größtenteils von dieser Art der Wahrnehmung durchdrungen. Und unsere großen technischen Zukunftsprojekte wie das der künstlichen Intelligenz werden von Menschen konzipiert, deren nahezu gesamtes Leben von diesem Blickwinkel bestimmt ist. Wenn das einzige Werkzeug, das du kennst, ein Hammer ist, dann kann es leicht geschehen, dass alles in der Welt wie ein Nagel erscheint. Die Menschen in all den Silicon Valleys dieser Welt haben eine gigantische Vision, wie unsere gemeinsame Zukunft aussehen wird. Doch es werden wahrscheinlich Menschen mit einer anderen Wahrnehmung sein müssen, die diesen verengten Blick infrage stellen können.
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Die technische Brille

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Es ist gar nicht so leicht, die technische Brille als technische Brille zu erkennen – und es braucht Mut. Der Schlüssel dazu liegt darin, dass ich mich von der Welt ansprechen lasse. In dem Augenblick, in dem ich wahrnehme, dass ich wirklich von etwas oder von jemandem gemeint bin, eröffnet sich eine völlig andere Welt. In diesem Angesprochensein wird mir mein unmittelbares In-der-Welt-Sein bewusst, es ist ein umfassendes Empfinden, das unsere üblichen Wahrnehmungsgewohnheiten aufbricht. Erst in dieser Unmittelbarkeit entdecken wir auch wirklich einander. Ich erlebe, dass ich von dir angesprochen bin und du von mir. Eine spirituelle Sichtweise lässt diesen Horizont noch weiter werden. Es ist Teil der spirituellen Erfahrung, dass auch die Natur, die Welt, der Kosmos uns meint, uns anspricht. Wir sind nicht in ein bedeutungs- und beziehungsloses Universum geworfen. Alles, was ist, spricht uns an. Wir fühlen uns vom Ganzen angesprochen. Es ist das Wesen der mystischen Erfahrung, dass das, woraus alles kommt, mich, uns meint. Auch hier würden agnostische Menschen natürlich nicht mitgehen. Diese Erfahrung geht ihnen zu weit. Aber dass wir uns als Menschen voneinander angesprochen fühlen, dass wir einander meinen, ist eine universelle menschliche Erfahrung, wenn wir uns auf sie einlassen. In dieser Fähigkeit zeigt sich unser Menschsein in einer besonderen Art, in einer Art, die wir von außen, mit dem analytischen Blick der gängigen Wissenschaft übersehen. Eigentlich wird diese Sicht in der konventionellen Wissenschaft sogar tabuisiert. Nur die Außensicht ist für sie gültig, so als gäbe es im Weltinnenraum nichts zu sehen. Aber erst in diesem direkten Blick sieht man, dass Maschinen, auch superintelligente Maschinen, kein wirkliches Du sein können – kein Du, das mich anspricht, das mich meint. Wie können wir diese authentische Ich-Du-Beziehung, die Fähigkeit, gemeint zu sein und den anderen als Du zu meinen, in einer Zukunft schützen, die uns vielleicht nicht mehr gehört? Diese Frage müssen wir heute an die Transhumanisten richten und an jene, die diese Singularität möglichst schnell technisch verwirklichen wollen.
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Ein globaler Besinnungsprozess

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Der philippinische Soziologe Nicanor Perlas, den wir für diese Ausgabe von evolve interviewen konnten, hofft, dass dieses Gespräch in der globalen Zivilgesellschaft stattfinden wird. Dort sieht er den globalen Ort, an dem wir für ein neues Verständnis unseres Menschseins eintreten können. Diese Zivilgesellschaft ist neben den internationalen staatlichen Strukturen und den großen wirtschaftlichen Playern die dritte weltweit wirkende Kraft, die unsere planetare Zukunft mitgestalten kann. In diesem immer dichter werdenden Netzwerk treffen sich in erster Linie nicht politische oder wirtschaftliche Interessen, sondern Menschen und Kulturen mit ihren Werten und ihren Beziehungen. Vielleicht ist die globale Zivilgesellschaft wirklich jenes internationale Forum, in dem es gelingt, gerade durch den Druck der Big-Data-Revolution ein weltweites Gespräch anzustoßen, sozusagen im letzten möglichen Augenblick: Wer sind wir eigentlich? Wer wollen wir sein? Und wie können wir unseren menschlichen Freiraum und Gestaltungswillen auch in einer umfassend digitalisierten Zukunft nicht nur schützen und bewahren, sondern ihm immer neue Ausdrucksformen verleihen? Mit der für 2045 angekündigten Singularität hat Ray Kurzweil eine Vision unserer Zukunft zur Diskussion gestellt. Es liegt an uns, ob es die einzige Vision bleiben wird. Möchten wir, dass eine auf Algorithmen basierende, vernetzte Intelligenz unsere Kultur dominiert? Oder wollen wir darüber sprechen, wie wir unserer menschlichen Intelligenz und Empfindungsfähigkeit im bewussten Umgang mit den Technologien Ausdruck verleihen können, sodass wir mehr und etwas Anderes als biologische Algorithmen sind? Wir sind in der Welt. Wir fühlen uns von ihr angesprochen. Aus dieser Perspektive können wir das Menschsein neu entdecken.

Eine der Herausforderungen, die Nicanor Perlas in diesem historischen Augenblick sieht, liegt darin, dass auch viele Aktivisten der globalen Zivilgesellschaft einem materialistisch-mechanistischen Menschenbild anhängen, das dem der Transhumanisten durchaus ähnelt. Aus dieser Perspektive ist es schwierig, die bestehende Herausforderung in ihrer Tiefe wahrzunehmen. Deswegen ist es wichtig, dieses Gespräch anzustoßen. Wer sind wir eigentlich? In einer unserer Initiativen, unserer Online-Plattform „One World in Dialogue“ machen wir auch die überraschende Erfahrung, dass es gerade mittels der neuen Technologien möglich ist, global auf eine ganz neue, unmittelbare Weise zusammenzukommen. Gerade im Kontrast zu dem, was Technik sonst oft ist, entsteht in diesen digitalen Dialogräumen eine Erfahrung dieser Ich-Du-Wir-Beziehung, die sich über Kontinente und Kulturen hinweg entfaltet und in der sich Menschen als angesprochen und gemeint erkennen. Es ist eine Beziehung, die unser Menschsein ganz neu in die Sichtbarkeit bringt. Ich glaube, wir erleben gerade einen globalen Besinnungsprozess. Menschen fragen sich heute weltweit, wie es uns gelingen kann, die kommende Big-Data-Kultur so zu gestalten, dass sie zu einer neuen menschlichen Kultur wird. Ein wesentlicher Beitrag dazu ist, dass wir uns gemeinsam unserer selbst neu besinnen.
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