Editorial 07 / 2015

Ich schreibe dieses Editorial am Tag nach dem Referendum in Griechenland. Es ist noch unklar, was die Entscheidung mit „nein“ zu den Sparmaßnahmen, die von den europäischen Institutionen verlangt werden, im weiteren Verlauf bedeuten wird. Im Vorfeld gab es eine kontroverse Diskussion über diesen Konflikt, der die europäische Einheit in Frage stellt. Gleichzeitig sterben an den Grenzen eben dieses Europas fast täglich Flüchtlinge, die vor Krieg und Hunger fliehen und ein besseres Leben suchen. Zur selben Zeit wird das Buch „Das sechste Sterben“ von Elizabeth Colbert zum Bestseller, in dem sie beschreibt, wie wir als Menschen ein globales Artensterben verursachen. Und die Warnungen vor einem unumkehrbaren Klimawandel werden immer dringender, was sogar Papst Franziskus bewogen hat, eine Enzyklika zur ökologischen Erneuerung zu verfassen.

Ganz klar, wir leben in herausfordernden Zeiten und können die Komplexität der politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Ereignisse und Interaktionen kaum erfassen und einschätzen. Deshalb hatten wir auch großen Respekt, als wir begannen, an einer Ausgabe zur Dynamik sozialer Transformation zu arbeiten. Denn wenn man hier mit einem Thema beginnt, wird einem sofort bewusst, wie eng die Prozesse in Ökologie, Wirtschaft und Gesellschaft im globalen Kontext miteinander verbunden sind. Dabei gibt es schon eine Fülle an Theorien und praktischen Vorschlägen, die eine nachhaltige und bewusste Veränderung unserer Gesellschaft anstreben. In unseren Redaktionsgesprächen, den Interviews und unseren Artikeln versuchen wir zu verstehen, welcher Wandel eigentlich nötig ist, wie er umgesetzt werden kann und wie wir an dieser Transformation mitwirken können.

Für den Umweltaktivisten Duane Elgin ist es wichtig, dass wir die Erfahrung machen, in einem lebendigen Universum zu leben. Denn dann wird sich auch unser Umgang mit dem Leben, mit unserer Welt radikal verändern. Dieser Wandel unseres Seins in der Welt wird auch unsere Ideen von Aktivismus transformieren, die oft Teil des Bewusstseins sind, das unsere Krisen verursacht. Dieser Überzeugung ist Charles Eisenstein, der uns im Übergang von einer Kultur der Trennung zu einer Kultur der Verbundenheit sieht – mit uns selbst, mit anderen Wesen und dem Kosmos.

Die tieferen Quellen hat auch Elizabeth Debold bei ihrem Engagement in der Frauenbewegung erfahren. In ihrem Artikel zeigt sie, dass Qualitäten wie Liebe für das Mögliche und den tiefsten Ausdruck anderer Menschen der Grund sein können, aus dem wir unser Miteinander neu erfinden können. Solch ein Aufblühen unseres Menschseins und unserer innewohnenden Freiheit und Kreativität wird im Zentrum der notwendigen sozialen Transformation stehen, sagt Enno Schmidt in unserem Gespräch über die existenziellen Dimensionen eines bedingungslosen Grundeinkommens.

Als Berater für Regierungen und Großkonzerne versucht Otto Scharmer auch auf der systemischen Ebene von Wirtschaft und Politik eine Erneuerung anzustoßen. Scharmer ist der Ansicht, dass wir in dieser Transformation vom „Ego-System-Bewusstsein“ zum „Öko-System-Bewusstsein“ gehen werden. Eine konkrete Idee für eine Veränderung auf systemischer Ebene entwirft Marina Weisband mit ihren Gedanken zu einer liquiden Demokratie, in der wir alle von Konsumenten zu Gestaltern unserer Gesellschaft werden können.

Was wohl alle Mitwirkenden in dieser Ausgabe verbindet, ist die Überzeugung, dass ein tief greifender Wandel möglich ist, aber von unserem schöpferischen Engagement abhängt. Wie das Erahnen von etwas Möglichem zu manifester Wirklichkeit werden kann, ist auch ein Thema der Kunst. Deshalb freuen wir uns besonders, dass wir in dieser Ausgabe mit dem Künstler Alfred Bast zusammenarbeiten können (s. S. 81) Er hat uns großzügig seine Werke zur Verfügung gestellt und unsere Art-Direktorin Renata Keller hat sie in einen Dialog mit unseren Texten gebracht. Wir hoffen, dass dieser Dialog zwischen Text und Kunst auch für Sie neue Räume des Verstehens öffnen wird.

In unserer letzten Ausgabe haben wir Sie auch um finanzielle Unterstützung für evolve gebeten und möchten uns ganz herzlich bei allen bedanken, die uns unterstützen. Für dieses Jahr haben wir unser Erscheinen fast gesichert (s. S. 6), sind aber auch auf weitere Unterstützung von Ihnen angewiesen, um in den nächsten Jahren weiterhin mit Ihnen gemeinsam die Zukunft in uns Wirklichkeit werden zu lassen. Wir freuen uns auf Ihre Unterstützung. Eine einfache Möglichkeit ist immer, ein Abonnement von evolve weiterzuempfehlen oder zu verschenken.
Wir freuen uns auf Ihre Reaktionen zu dieser Ausgabe und wünschen Ihnen einen schönen Sommer.

Herzlichst
Mike Kauschke