Editorial 15/2017

Während der Arbeit an dieser Ausgabe von evolve wies mich ein Freund darauf hin, welche Bücher gerade die Spiegel-Bestsellerliste anführen: Da finden sich Bücher über »Das geheime Leben der Bäume“ und das »Heilen mit der Kraft der Natur« neben »Homo Deu« von Yuval Harari. Die Sehnsucht nach einer tieferen Verbundenheit mit der Natur neben den technologischen Zukunftsvisionen, die Harari beschreibt. Sein viel diskutiertes Buch war einer der Anlässe für das Thema dieser Ausgabe und hat uns bei unseren Gesprächen dazu begleitet. Die immense Aufmerksamkeit für das Buch zeigt die Brisanz der Frage, wie wir in Zukunft angesichts sich rasant entwickelnder Technologien leben werden. Dass neben ihm Autoren erfolgreich sind, die den tieferen Zusammenhängen der Natur und ihrem Wechselwirkungen mit uns nachspüren, deuten daraufhin, dass in Zeiten der zunehmenden virtuellen Welten der Technik die Frage nach unserem Sein in einer lebendigen Welt dringlicher wird.

Was bedeuten die rasanten Entwicklungen bei künstlicher Intelligenz, Big Data, sozialen Medien, virtueller Realität, Cyborgs und Robotern für unser Menschsein? Und genauer: für unsere Menschlichkeit? Sich diesen Fragen wirklich zu stellen, kann uns erschüttern, denn die Komplexität unserer digitalisierten Lebenswelt ist überwältigend und lässt sich nicht kontrollieren. Doch wir sind ihr nicht ausgeliefert. Wir können den neuen Technologien anders begegnen, wenn wir uns bewusst werden, wer wir als Menschen wirklich sind.

Thomas Steininger geht in seinem Leitartikel einem Perspektivwechsel nach, in dem die technologisch-materialistische Brille abgelegt wird und wir uns der Wirklichkeit unseres Hierseins bewusst werden, als von der Welt, der Natur und unserem Mitmenschen gemeinte und Antwort gebende Wesen. Es ist der Kern des Humanen, erklärt Roland Benedikter in unserem ausführlichen Interview. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit den Veränderungen unserer Lebenswelt durch die neuen Technologien und erklärt, dass transhumanistische Visionen davon ausgehen, dass wir schon alles über den Menschen – und vor allem über seine Unvollkommenheiten – wissen und deshalb ein technologisches Update des Menschen nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert oder gar zwingend sei, um die nächste Stufe unserer Evolution zu erreichen. In dieser technologischen Revolution sieht er aber Gefahr und Chance zugleich, denn für ihn könnten wir durch die Auseinandersetzung mit den reduktionistischen Ideen der Technikutopisten herausfinden, dass unser Menschsein der Horizont ist, der für uns auf neue Weise gestaltbar wird. Auch die Theologin und Computerwissenschaftlerin Anne Forst spricht von einer Wertschätzungsgesellschaft, die sich auf neue Weise dem Mit-Menschlichen, dem Sinn unseres Menschseins und seinem kreativen Ausdruck und unseren ungenutzten inneren Potenzialen zuwendet.

Im Gespräch zwischen dem transhumanistischen Philosophen und dem von der Tiefenökologie inspirierten Journalisten Geseko von Lüpke treffen diese Hoffnung auf technologische Verbesserung des Menschen auf den Blick für die inneren evolutiven Möglichkeiten eines Bewusstseinswandels aus dem Gewahrwerden unserer Verbundenheit mit dem Kosmos. Der philippinische Soziologe Nicanor Perlas geht ausführlich auf diesen Wandel ein und ist – wie viele unserer GesprächspartnerInnen – der Ansicht, dass heute eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung zu diesen technologischen Utopien braucht, in der wir alle gefragt sind. Die Revolution von Big Data und Algorithmen fordert uns auf, unsere tiefste Menschlichkeit in unsere Kultur einzubringen. Hier sehen wir auch die Aufgabe unseres Magazins, die wir in eine neue Vision gefasst haben (S. 5), an de wir zusammen mit unseren LeserInnen, UnterstützerInnen, PartnerInnen und AutorInnen arbeiten wollen.

An der Schnittstelle zwischen dem Wandel unseres Bewusstseins und neuen technologischen Möglichkeiten arbeitet auch der Medienkünstler Wolf Nkole Helzle. Mit seinen Arbeiten, die von einer tiefen Wahrnehmung des Menschen, der Natur, des Lebens zeugen, konnten wir diese Ausgabe gestalten. Das Titelbild entstand im Rahmen seines Projekts »Ich Bin Wir_I Am We«, bei dem er 40.000 Gesichter verschiedener Menschen fotografiert und diese dann mit einem Computerprogramm dicht übereinandergeschichtet hat, sodass ein universelles Antlitz des Menschen entsteht: Homo universalis. Wir empfinden es wie einen Ruf aus der Zukunft nach uns als werdende Menschen. Wir hoffen sehr, dass Sie diesen Ruf der Menschlichkeit in den Seiten dieser Ausgabe auch hören können, und freuen uns auf Ihr Feedback zu diesem komplexen und auch kontroversen Thema.

Herzlichst
Mike Kauschke