Leserstimmen evolve 17

Zu evolve 17 »Die Postmoderne – und darüber hinaus«

Der Artikel über und mit Sofia Gubaidulina hat mich so sehr angesprochen, inspiriert, bewegt, dass ich dazu noch ein paar Sätze loswerden muss. 
Vor allem diese nachdrückliche Betonung der Schlüsselrolle, die die ZEIT bei ihr und in ihrer Musik spielt und diese lebendige Art, wie sie das zur Sprache und zum Klingen bringt, trifft bei mir genau auf den Punkt, in dem ich den Sinn und die Zukunft aller integralen Kultur vermute: nämlich in der Neuordnung unserer Auffassung von ZEIT. 

Leider finde ich die Stelle in meinen Wilber-Büchern nicht mehr, an der er zwischen der klein geschriebenen Zeit und der groß geschriebenen ZEIT unterscheidet. Dieser »Kniff«, mithilfe der Schreibweise von scheinbar ein und demselben »Phänomen« zu sprechen und dennoch unterschiedliche Wahr-heiten an ihm zu entdecken, trifft genau den Punkt, der es so schwer macht, zwischen der Uhrenzeit und der dimensionalen ZEIT zu unterscheiden. Mit der dimensionalen ZEIT ist nämlich nicht nur eine höhere Ordnungsstufe in der objektiven Welt erschlossen (was Einsteins großes Verdienst ist!), sondern in eins damit öffnet sich auch ein erweiterter Horizont unseres subjekt-zentrierten Bewusstseins. 

Jean Gebser (den ich bei evolve bisher schmerzlich vermisse!) hat nach meinem Verständnis mit seiner »fünften« Bewusstseinsstufe, dem »integralen Bewusstsein«, nicht gemeint, dass da über das Mentale hinaus noch eine weitere, »post-mentale« Stufe käme. Die »fünfte Stufe« (die sich strukturell fundamental von den Stufen eins bis vier unterscheidet!) öffnet vielmehr die Diaphanie, d. h. diejenige Durchsichtigkeit, die alle vier vorausgehenden Stufen transparent werden lässt. Diejenige Stufe, die erkennen lässt, dass alle »Stufen« gleichzeitig, synchron nicht nur »vorhanden« (Achtung: Raum-Metapher!), sondern realisierbar sind.

Und noch eine Anmerkung: Der in evolve 17 oft verwendete Begriff »Post-Postmoderne« verdeckt nach meinem Verständnis etwas Wesentliches. Nämlich den springenden Punkt, der mich schon an der »Postmodernen Moderne« in W. Welschs gleichnamigem Buch elektrisiert hat. Nämlich: die Vision, dass es eine Horizonterweiterung geben könnte, in der das mentale (= moderne) Bewusstsein im doppelten Sinn aufgehoben ist. Der Schwerpunkt eines solchen Wandels, einer solchen Transformation, liegt nach meinem Ermessen nicht mehr nur in der Erkenntnis bezüglich der Objekte der Welt, sondern ganz wesentlich auch im Subjekt, d. h. in der »Heimat«, in der »Wiege« des Bewusstseins! (Diesen Zweifel hege ich auch gegenüber dem Konzept der »Spiral Dynamics«. Es suggeriert den Eindruck einer endlosen Verlängerung und bleibt damit in demjenigen Konzept, das die raumzentrierte Uhren-Zeit als Koordinatensystem benutzt. Im missverständlichen Begriff der »Ewigkeit« versteckt sich der strukturelle Unterschied zwischen der raumgestützten, Raumprozesse messenden Uhrenzeit und der dimensional, generativ gedachten ZEIT. Physik ist die Lehre vom Raum und seinen Eigenschaften. ZEIT ist mehr als Raum. »Ewigkeit« meint Meta-Physik, Trans-Physik.) 
Damit komme nochmals zu meiner Faszination für Sofia Gubaidulinas Ringen mit der Zeit-ZEIT zurück. Sie trifft damit diesen »archimedischen Punkt«, an dem sich Raum und Zeit in der Weise »kreuzen«, dass schließlich der Raum zu einer internen Eigenschaft der dimensionalen ZEIT wird.

Die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Raum, Zeit und ZEIT wäre demnach nicht nur im objektartigen Welten-Raum, sondern auch im subjektzentrierten Bewusstsein zu suchen. Nicht mit den Augen, wohl aber mit solchen Lebens-Prozessen wie die Musik ein »Belebungs-Prozess«, ein Geschehen, eine Zeitigung ist. Auch Erfahrungen wie die auf dem Zen-Weg sprechen sehr für eine fundamentale Vertiefung der »Ein-sicht«. Nicht nur der Ein-sicht bei der Erforschung des Welt-Raums, sondern auch bei der »vertieften Zeitigung« des Bewusstseins. Ob dabei Musik den Ursprungs-Impuls beiträgt oder eine irgendwie geartete Grenzerfahrung, das ist zweitrangig. Ausschlaggebend ist der existenzielle, der dimensionale Rang der Erfahrung.
Was ich hier nicht auch noch ausführen kann, das ist die sukzessive Entfaltung bei der Evolution des Bewusstseins. Bewusstseins-Evolution ist (bis hin zum mentalen Bewusstsein) Raum-Erschließungs-Evolution. Trotz aller Dankbarkeit für Ken Wilbers phänomenales Werk bleibt Jean Gebser weiterhin mein maßgeblicher Lehrer in Fragen der Interpretation dessen, was integrales, transmentales Bewusstsein im tiefsten Sinn meint.

Karlheinz Gernbacher, Schwabach


Das evolve-Magazin finde ich von daher so ansprechend, weil es um Wahrheit und Erkenntnis ringt, viele Seiten zur Sprache bringt, ohne in irgendeiner Weise dogmatisch, belehrend oder anklagend zu sein. Ich wünsche es Ihrem Team sehr, dass Sie diesen Anspruch halten. Es ist zukunftsweisend.


Achim Gilbert, Goslar


Diese Ausgabe 17 »Die Postmoderne und darüber hinaus« finde ich sehr gelungen, nicht zuletzt auch, weil ich auch eine 68erin bin, im März wurde ich 68 – so kann ich zurückblicken und nachempfinden.
Danke für die inspirierenden und treffend formulierten Beiträge aus verschiedenen Lebensbereichen! Ich habe diese Ausgabe mehrfach weiter empfohlen, weil sie den Zeitgeist beleuchtet und die Konsequenzen klar aufzeigt. Hoffentlich erkennen viele Leser – mich eingeschlossen – wie (zu) weit wir gegangen und wo wir gelandet sind. 
Die Beiträge bestätigen mich auf der Suche nach neuen, ganzheitlichen und integralen WIR-Formen, denn ohne die errungene Eigenständigkeit aufzugeben, wird das Pendel wieder zurückschwingen!

Pia Bossi, E-Mail


Mein großes Kompliment für die neue Ausgabe »Die Postmoderne und darüber hinaus«! Das ist ein sehr gutes Heft zu einem sehr wichtigen Thema! Ich werde mein Werben für die evolve fortführen!
Hier einige Anmerkungen zum Thema, insbesondere zur »Postmoderne« und Jean Gebsers »Diaphanie«: Vor dem Hintergrund meiner großen Begeisterung für Jean Gebsers »Ursprung und Gegenwart«, weckte Wolfgang Welschs Buch über die »Postmoderne Moderne« meine Hoffnung auf ein Ende der maßlos überzogenen Dominanz der mentalen Bewusstseinsebene. Der Same von Gebsers integralem Bewusstsein schien aufzugehen. Doch diese Hoffnung löste sich bald wieder auf in einer Inflation des zwar sehr pluralistischen, aber auch sehr flachen instrumentellen Bewusstseins. Im Rausch der zahllosen Konzepte und ihrer scheinbar gleichen Gültigkeit – ihrer »GleichGültigkeit«! – versank das Gespür für eine Dimension, für eine gemeinsame »Wurzel«, die eine Verbindung zwischen den zahllosen Blättern und Blüten, Zweigen und Ästen erschlossen und begründet hätte. Der zentrale Schlüssel zu Jean Gebsers integralem Bewusstsein ist die »Dia-phanie«, ist eben diese integrale »Durch-sichtigkeit«, Transparenz, die in den Blättern die Wurzeln und in den Wurzeln die Blätter erkennen lässt. Die diaphane Ganzheit ist das einleuchtende, das große Geheimnis, die postmodern-plurale Vielfalt verdunkelt es!
Im Folgenden möchte ich nun noch ausführlicher auf den Artikel von Nadja Rosmann Bezug eingehen:

Liebe und sehr geehrte Frau Rosmann!
Das muss ich Ihnen doch sofort mitteilen: Ich habe soeben Ihre außerordentlich aufschlussreichen, überzeugenden und dichten Überlegungen zum Kern unserer gegenwärtigen Suche nach einer Neuorientierung gelesen. Sie sprechen mir mit fast jedem Satz aus der Seele! Genau diese kritische Selbstbesinnung ist es, die ich in den vielen Kommentaren zur gegenwärtigen Lage oft schmerzhaft vermisse. Es ist eine extrem widersprüchliche Haltung, die da noch immer den Mainstream beherrscht: eine paradoxe »Arroganz der Solidarität und des Mitfühlens«, die mit denjenigen, »die es verdienen«, mitfühlt; die aber – auf der Rückseite dieser Solidarität – die »Bösen« mit Hohn, Zynismus und Aggression überschüttet. Ihnen, Frau Rosmann, gelingt in Ihrem Beitrag das, was ich für das Wesen eines integralen Bewusstseins halte, das diesen großen Namen verdient: nämlich auch diejenigen Geister mit zu bedenken, die erst einmal nicht »zur eigenen Mannschaft« gehören. Diese Wachheit – auch für die nicht Sympathischen (für den eigenen Schatten sogar) – ist es, was mich an einem integralen Bewusstsein, wie es sich in Ihrem Essay ausdrückt, so sehr überzeugt.
(Ich stelle mir die Jahre vor 1933 so ähnlich vor wie die gegenwärtige politisch-kulturelle Atmosphäre. Dabei drängt sich mir das Bild auf, dass damals die »Rechten« und die »Linken« (jedenfalls nicht die Integralen) auf beiden Seiten einer einzigen »Pumpe« standen: mit ihrem Wettkampf um Rechts und Links wurde die ohnehin kritische Atmosphäre bis zum Bersten aufgepumpt. Und sie barst auch: auf der rechten Seite. Das erweckt bis heute den Eindruck, dass – vor diesem historischen Hintergrund – die linke Seite für alle Zeiten die richtige ist.)
Dass Sie sich offensichtlich mit Wolfgang Welsch gründlich auseinandergesetzt haben, freut mich nicht zuletzt deshalb, weil ich da Neues von ihm erfahre. Für mich war schon seine »Postmoderne Moderne« ein außerordentlich wichtiges Buch. Vor allem deshalb, weil darin damals schon das »Integrale« durch diese Analysen und Interpretationen sehr überzeugend »hindurchschien«. (Kurz vorher war für mich Jean Gebsers »Ursprung und Gegenwart« eine Art Entdeckung des Lebens. Viel Verwandtes entdeckte ich nun auch bei Welsch.)
Ein sehr wichtiger Autor war und ist für mich auch Paul Tillich. Ich erwähne das, weil er in Band 1 seiner »Systematischen Theologie« drei »Ontologische Elemente« aufführt, die für mich im Zusammenhang mit dem integralen Bewusstsein außerordentlich gute Wegmarken geworden sind. Er unterscheidet in diesen »Elementen«: a) Individuation vs. Partizipation, b) Dynamik vs. Form und c) Freiheit vs. Schicksal. Alle drei Paarungen stehen in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis, das permanent neu ausbalanciert werden muss.
Ich könnte auch noch ein Loblied auf Romano Guardinis »Das Ende der Neuzeit« anstimmen, in dem dieser hoch gelehrte Katholik ein Bild, (ein Gemälde!!) des Mittelalters entwirft, das alle Defizite der Neuzeit in ein einleuchtendes »Ausgleichs-Licht« rückt. Bevor ich auch noch Joseph Ratzingers »Werte in Zeiten des Umbruchs« als Beispiel für Bedenkenswertes »von rechts« zu loben beginne, höre ich hier doch endlich auf!
Liebe Frau Rosmann, wie Sie merken: Sie haben es geschafft, heute am späten Abend mein etwas müdes Bewusstsein noch mal in Schwung zu bringen! Nicht zuletzt deshalb gilt Ihnen mein herzlicher Dank dafür, dass Sie mir in Ihrem evolve-Beitrag so wohltuend aus der Seele gesprochen haben!
 
Mit herzlichen Grüßen 

Karlheinz Gernbacher, Schwabach