Stephan Guber im Interview

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Stephan Guber

Wenn die Sterne aufgehen
Kunst als seelischer Prozess

Die Ausgabe 09 von evolve wurde mit Zeichnungen, Malereien und Fotos von Skulpturen des Künstlers Stephan Guber gestaltet. Wir sprachen mit ihm über seine künstlerische Arbeit.
evolve: Wie würdest du zum Einstieg deine künstlerische Arbeit beschreiben?

Stephan Guber: Ich würde gleich an der Tatsache anknüpfen, dass wir jetzt nicht telefonieren, sondern dass ich hierher gereist bin und wir uns in die Augen schauen und ganz direkte Sinneswahrnehmungen haben. Ich erleb‘ dich als Mensch, du erlebst mich als Mensch – auch ganz leibhaftig und authentisch. Und das spreche ich deshalb so direkt an, weil das vor 25 Jahren ein Ansatzpunkt meiner Arbeit war. Ich habe damals etwas im Künstlerischen gesucht, das ich nicht beschreiben konnte und nur stammelnd mit Authentizität oder Echtheit übersetzt habe. Zuerst war die Annäherung an dieses Ziel, diesen ersehnten Punkt zunächst durch die Materialität gegeben. Normalerweise ist es ja so, wenn jemand einen künstlerischen Impuls in sich spürt, geht man in ein Geschäft für Künstlerbedarf und kauft sich Farbe, Pinsel etc. Und so habe ich es auch gemacht.

Damit wurde ich aber nicht glücklich, weil mir dieses Gefühl des Echten fehlte. Ich habe versucht, mit den künstlichen Materialien das Echte nachzuahmen, was mir in gewissem Maße auch gelang. Irgendwann kam dann ein Wendepunkt, wo ich mich fragte: Warum versucht du, diesen rotbraunen Acker, der auch noch duftet, mit Acryl- oder Ölfarbe nachzuahmen? Nimm ihn stattdessen so, wie er ist: echt. Das war der Beginn einer langen Phase meiner bildnerischen Arbeit als Maler, was in den ersten zehn Jahren meine Arbeit bestimmt hat. Ich habe mit Natur- und Erdfarben gemalt, um im Material selbst eine Authentizität zu erfahren. Ich wollte mit dem, was ich malerisch darstelle, auch durch das Material, das ich verwende, in einer Wirklichkeitsschicht sein.
Ein nächster Schritt kam, als ich merkte, dass Echtheit neben all dieser Suche nach dem authentischen Material auch bei mir selbst anfängt. So tauchte dann eine innere Dimension auf, die in den Dialog trat. Das erlebte ich auch als Intimität oder Nähe, weil man sich selbst aus einer wirk-lichen oder wirk-samen Kunst gar nicht heraushalten kann. Beim Schwimmen wirst du nass – du musst da rein. Das war ein Moment, wo ich spürte, ich bin nicht nur meiner Arbeit nahe, sondern ich bin immer ganz darin. In der Nähe spricht sich ja immer noch das Getrenntsein von zwei Dingen aus. Und im Spirituellen gibt es einen Punkt, wo man noch einen Schritt weitergeht und nicht mehr von Nähe spricht, sondern von Einheit.

e: Kannst du noch etwas erklären, wie du mit diesen Materialien gearbeitet hast?

SG: Ich habe Erde und Gestein gemahlen und gemörsert, habe sie als Farbe benutzt und neue Techniken entwickelt mit alten Materialien wie Knochenleim, Bienenwachs, Schellack, Blütenpollen, Kreide, Ei – alle möglichen natürlichen Stoffe. Durch die Beschäftigung mit den Materialien bin ich dann auch in eine Zeit gekommen, die weit vor unserer liegt. Denn diese Materialien erinnern auch an Steinzeitmalerei und die Höhlen von Lascaux. Und nicht von ungefähr, denn das sind Techniken, die man nicht in Handbüchern findet, da muss man sehr viel selbst experimentieren. Diese Materialien habe ich dann im Bildnerischen und auch in Installationen verwendet. In diesem Zusammenhang ist auch der Übergang zu den Holzskulpturen, den ich später vollzogen habe, stimmig.
In dieser intensiven Beschäftigung mit der Materialität tauchte irgendwann die Frage auf: Was machst du da eigentlich? Wo kommt in der Arbeit mit diesen natürlichen Materialien ein spezifisch menschlicher Ausdruck, eine menschliche Kundgabe, herein? In meinen künstlerischen Experimenten brachte ich in die natürliche Umgebung Dinge hinein, die wie Fremdkörper wirkten. Ich hatte den Eindruck, dass ein menschlicher, gestalterischer Eingriff in die Natur sehr schnell als Fremdkörper erscheint. Ich fragte mich: Wie muss mein künstlerisches Handeln sein, damit es stimmig und authentisch in seiner Umgebung erscheint, sodass das spezifisch Menschliche nicht als Fremdkörper wirkt.

e: Du meinst fremd in einer bestimmten Umgebung oder allgemein fremd in der Welt?

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Stephan Guber

SG: Beides. Vielleicht wird es an einem Beispiel klarer: Ich habe nach etwas gesucht, das dieser Prämisse gerecht werden könnte. Ich habe nicht viel gefunden, aber eines hat mich angesprochen: Im Hochgebirge gibt es weltweit die Angewohnheit, dass man Steinchen stapelt. Das wirkt nicht als Fremdkörper, ist aber ein spezifisches Zeichen menschlichen Seins und Tuns. Andere Wesen machen das nicht. Mit dieser Frage bin ich dann auch in die Vor- und Frühgeschichte gegangen und habe Felszeichnungen und auch Schriftgestaltung studiert. Und ich kam auch zu grundlegenden spirituellen Fragen der Menschheitsentwicklung. Denn in der Frühgeschichte gab es ja eine gewisse Einheit von Mensch und Natur und diese Einsgewahrwerdung fand Ausdruck in den ursprünglichsten Formen von Kommunikation. Darin wurde immer ein allumfassender Impetus verfolgt, es gab noch nicht die Trennung von Kunst, Wissenschaft und Religion – das war eine Einheit und Ganzheit. In dieser frühen Kunst habe ich einige Dinge gefunden, die dieser Prämisse, die ich vorher erwähnt habe, gerecht wurden, wie zum Beispiel Punktreihen. Für mich waren diese Experimente auch ein Selbstversuch, ein Selbsterforschen, also etwas sehr Nahes und Intimes.
Durch die Beschäftigung mit der Entwicklung von Kunst und Schrift im Laufe der Jahrtausende bemerkte ich, dass alles, was der Mensch in die Materie einprägt – und damit meine ich auch Architektur oder die Musik –, Fußabdrücke der Bewusstseinsentwicklung sind. Wir können sie lesen und je weiter es zurückliegt, desto einfacher ist es. Wenn man mit diesem Blick auf die heutige Zeit schaut, wird es schnell verwirrend, weil wir mitten darin sind: Da will sich etwas erkennen, das gleichzeitig Teil von dem ist, was erkannt werden soll.

e: Ist es dein Anliegen, eine Kunst zu schaffen, die aus einer Einheit oder Intimität mit der Schöpfung, mit dem schöpferischen Geschehen kommt? Denn wenn ich dich richtig verstehe, sagst du, dass es Schöpfungen gibt, die noch so nah an dem Schöpfungsprinzip in der Natur oder im Kosmos selbst sind, dass man das Gefühl hat, das gehört dazu.

SG: Ich würde es jetzt nicht in solch einer Prämisse festlegen wollen, das wäre mir zu eng. Das war eine Phase meiner Arbeit und das Schöne daran ist ja, dass sie nach hinten offen ist und man weiß nie, was als Nächstes kommt. Wobei natürlich ein Schritt auf dem anderen aufbaut. Und dabei gibt es natürlich auch eine Korrelation der eigenen und der künstlerischen Entwicklung.
Im Laufe der Jahre habe ich gemerkt, dass in der Interaktion zwischen Kunstwerk und Mensch ein sehr spannender Raum entsteht. Und so ging es für mich als Künstler immer mehr auch darüber hinaus, Einzelobjekte zu schaffen, sondern es entstanden vielmehr Atmosphärenräume, Spannungsräume, Kommunikationsräume. Dann ist es nicht egal, was da steht und wie es da steht. Es hat alles miteinander zu tun. Eine ähnliche Erkenntnis gibt es auch in der Geomantie, wo man auch davon ausgeht, dass alles in der Welt alles andere beeinflusst. Jede Gestaltung des Menschen hat im Feinstofflichen Auswirkungen auf Landschaftsorganisation und Atmosphären. Wenn wir das ernst nehmen, dann müssten wir auch jedem Kunstwerk solch eine Eigenschaft zueignen. Das bedeutet für den Künstler natürlich eine große Verantwortung, weil jedes Werk eine Wirkung hat.

e: Wie erlebst du diese Verbindung zwischen deiner eigenen und deiner künstlerischen Entwicklung?

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Stephan Guber

SG: Ich möchte kurz etwas voranstellen, bevor ich antworte: Das, was man Kunst nennt, ist ja etwas spezifisch Menschliches, kein anderes Wesen tut das. Diese Kreativität, dieses Sich-durch-Äußerung-auf-etwas-Beziehen ist etwas, das den Menschen definiert.
Und um auf deine Frage einzugehen, vielleicht ein Beispiel: Es gibt ja die große Bewusstseinsentwicklung durch die Jahrtausende hindurch und es gibt die kleine Bewusstseinsentwicklung, die jeder Mensch durchmacht. Und da gibt es auch interessante Parallelen. Ich möchte hier eines herausgreifen, das deiner Frage sehr nahekommt: Mit ein oder zwei Jahren beobachten wir bei Kleinkindern die ersten zeichnerischen Äußerungen und während dieser Zeit sagt der Hans zu sich Hans. Dann gibt es einen Zeitpunkt, wo der Hans mit zwei oder drei Jahren nicht mehr Hans zu sich sagt, sondern ich. Er geht also einen Bewusstseinsschritt aus dem träumerischen Eingebundensein in seiner Umwelt und mit seiner Mutter. Etwas in seiner inneren Struktur, in seiner Wahrnehmung, in seiner Selbstgewahrwerdung ändert sich. Und da gibt es ein frappierendes Phänomen, bei dem es mir immer kalt den Rücken herunterläuft: Kleine Kinder werden dann fähig, beim Zeichnen bewusst einen Kreis zu schließen. Vorher ist alles Zufall. Aber mit dem Kreis trennt das Kind etwas ab, es schafft einen Innenraum und einen Außenraum. Das ist der Moment, in dem ich mich als Ich erkenne, wodurch ich dich als ein Du erkennen kann. Das Kind macht das aber nicht bewusst, der kleine Hans sagt sich ja nicht: Oh, ich sage jetzt ich zu mir, deshalb muss ich den Kreis schließen. Da ist ein viel tieferer Prozess wirksam, den man mit Worten kaum berühren kann. Aber wenn wir im weiteren Leben damit forschend weitergehen, können wir in verschiedenen Momenten durch den Schleier hindurchschauen und diese Parallelprozesse erkennen oder vielleicht erahnen. Kunst ist eine Möglichkeit dafür, diesen Schleier zu lüften. Und manchmal ist man sich selbst im eigenen Tun schon weit voraus und man kann es erst in der späteren Reflexion bewusst verstehen. Mich trägt ein Vertrauen in diese urkünstlerischen Prozesse, in denen sich oft schon Dinge zeigen, die wir mit dem Verstand noch nicht ganz greifen können. Das macht ja auch den Reiz der Kunst aus. Sie schafft ein Feld oder einen Raum, in dem ein Faszinosum lebt, das einen zieht, wo aber auch noch eine Frage mitschwingt. Es ist nicht beliebig – damit es ein Faszinosum ist, muss schon etwas hindurchkommen, was irgendwo im Menschen Resonanz erzeugt, aber noch nicht eingelöst wird. Wirklich lebendige Kunstwerke sind solche, bei denen ich eine starke Evidenzerfahrung habe: Ich spüre schon das Beben, aber es wird noch nicht eingelöst. Dann ist es nicht beliebig, denn dann wäre keine Resonanz zu spüren. Es muss etwas Wesensgleiches spürbar sein, das dich zieht und herausfordert. Früher habe ich Kurse für Künstler gegeben, da habe ich gesagt: «Ich habe nur eine Bitte: Versucht euch selbst zu überraschen.» Sich selbst zu überraschen geht ja eigentlich nicht, aber es spricht eine offene Haltung an, dieses Vertrauen, dass durch das eigene Tun Dinge entstehen, die über den eigenen bekannten Horizont ein Stück weit hinausschauen.
Das kann jeder in einem Experiment herausfinden: Wenn du ein Blatt Papier nimmst und einen Strich darauf setzt und dann noch einen, dann spürst du spätestens bei der zweiten Setzung eine gewisse Stimmigkeit oder Unstimmigkeit. Du bist also im Gestaltlosen, hast keine detaillierte Idee, was es werden soll. Aber wenn du dich selbst beobachtest, kannst du ein abwägendes Moment in dir bemerken. Woher kommt das? Wohin treibt dich das? Wer spricht da in dir? Oder: Wer spricht in dem kleinen Hans, der ihm sagt: Jetzt schließe ich den Kreis willentlich? Irgendetwas in ihm sagt es, aber eben nicht sein Verstand. Also wo ist die Instanz, die uns vielleicht auch jenseits des Verstandes in einem Prozess trägt? Man könnte es Intuition oder Bauchgefühl nennen, aber da ist etwas, dem wir in einem offenen Prozess vertrauen können. Vielleicht sind das Kräfte, denen wir auch in anderen Feldern begegnen, die jetzt erst langsam in unseren Blick treten, wie morphogenetische Felder.
Im Künstlerischen gibt es noch so viele Unbekannte und das macht diese Arbeit so spannend. Es ist ein lebendiges, aktives Feld, das den Menschen seit Beginn seiner Entwicklung begleitet hat. Ein Feld, das parallel zur Entwicklung des Menschen ständig mitwächst und einen Fußabdruck setzt.

e: Und die Kunst hält den Raum offen für das Geheimnis, für das, was wir noch nicht wissen.

SG: Voraussetzung dafür ist, dass ich vertraue, dass sich in diesem Prozess etwas aussprechen kann. Ich habe versucht, das in einem Bild zu fassen: Es ist so, als ob man auf der Spitze eines fliegenden Pfeils steht und dann noch einen Fuß nach vorn setzt. Oder manchmal beschreibe ich meine künstlerische Arbeit auch so, dass ich einen Enterhaken in die Landschaft werfe, der sich dann irgendwo in der Zukunft verkrallt. Und ich ziehe mich dann an diesem Seil an den Ort, wohin ich den Haken hingeworfen habe. Und der Haken ist das Kunstwerk.

e: Bei einigen deiner Skulpturen hat man das Gefühl, dass man etwas Wesenhaftem begegnet. Wie erlebst du dieses Wesenhafte?

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Stephan Guber

SG: Ja, es ist schon ein Faszinosum, wenn du nur einem Stück Holz begegnest, aber das Gefühl einer Wesensbegegnung hast. Es ist aber auch eine gute Gelegenheit, forschend und denkend dieses Erleben zu befragen. Denn das sind ja Wahrnehmungen, die unser Alltagsbewusstsein aushebeln können.
Wenn wir ausleuchten, was Begegnung eigentlich bedeutet, dann eröffnet sich ein großes unbekanntes Feld. Und die Frage: Was kommt nach nah? Wann wird Nähe zu Einheit?

e: Deine Arbeiten drücken alle in gewissem Sinne eine Intimität oder auch eine Erfahrung von Einheit aus, in deinen Skulpturen ist es dieses Wesenhafte, in den Zeichnungen etwas Ätherisches und in deiner Malerei eine kosmische Dimension. Kannst du diese Wahrnehmung nachvollziehen?

SP: Ja, manchmal gibt es einfach Schlüsselerlebnisse, die das ganze Erleben verändern können. Für mich ist das ein Erlebnis, das ich hatte, als ich einmal in den Sternenhimmel schaute. Dabei erlebte ich das, was Octavio Paz in seinem Gedicht «Brüderlichkeit» schreibt, intellektuell und emotional genau so:
Bin ein Mensch, nur kurz mein Leben
und unermesslich die Nacht.
Doch ich blicke hinauf,
sehe die Sterne schreiben.
Ohne zu verstehen begreif ich:
Auch ich bin Schrift
und eben jetzt entziffert mich jemand.
Ich erlebte plötzlich eine Umstülpung: die Wahrnehmung von etwas Äußerem, die auf die Reflexion einer inneren Verfasstheit getroffen ist. Und das hat auch meine Kunst verändert. Ich habe schon früh gemerkt, dass man durch das Nachvollziehen von Entstehungsprinzipien auf ähnliche Ausprägungen kommt, auch in ganz unterschiedlichen Medien. Ganz zu Beginn meiner Arbeit habe ich zum Beispiel Auswaschungen an einer Felswand abzuzeichnen versucht. Irgendwann habe ich gemerkt, dass das der falsche Weg ist. Ich erkannte, dass ich die Bedingungen dafür schaffen musste, damit die gleichen Wirkmechanismen entstehen können, die zur Entstehung dieser Felswand nötig waren. Also habe ich Auswaschungsprozesse geschaffen. Ich habe Schicht um Schicht Erde aufgehäuft und sie wieder durch Auswaschung abgetragen. Also ein Nachvollzug des Entstehungsprozesses.
In der Folge sah ich immer klarer, dass im künstlerischen Arbeiten evolutionäre, schöpferische Prozesse nachvollzogen oder wiederholt werden. Neben dem künstlerischen Prozess verläuft immer auch ein seelischer Prozess, wo es auch manchmal richtig dunkel werden kann. In meiner künstlerischen Arbeit versuche ich im Prinzip solche Prozesse zur Wirkung zu bringen. Also nicht nur etwas darzustellen, sondern innerlich nachzuempfinden. Wie beispielsweise bei den Malereien, die eine kosmische Anmutung haben. Aber wie kann man den Urknall nachvollziehen?
Die «Sterne», die leuchtenden Elemente gebe ich ganz zu Anfang darauf und zwar mit ganz viel heißem Bienenwachs, in das ich ein Küchensieb eintauche und dann mit einem Gebläse auf der weißen Leinwand verteile. Hunderte von Bienenwachstropfen fliegen in die Höhe und fallen durch die Schwerkraft auf die Leinwand. Und das Ergebnis hat eine Authentizität, die man nicht willentlich erzeugen kann. Dann wird es dunkel. Ich bedecke diese Setzung mit dunkler Farbe. Ich lasse sie trocknen und bringe dann durch Wärme das Licht zurück. Das Bienenwachs löst sich dann auf und strahlt von unten durch das Dunkel hindurch. Und das Licht, das durch das Dunkel leuchtet, erscheint viel heller, stahlender. Das Licht leuchtet stärker im Kontext der Dunkelheit. Das ist so ein berührender Moment, wenn du diese Sterne freilegst, wenn die Sterne aufgehen. Und du ahnst, dass das auch etwas mit deiner Seele zu tun hat.
Wenn man den Begriff «Stella Maris» betrachtet, so wie ich diese Arbeiten nenne, dann ist darin das Wort Stern enthalten, aber auch Meer und Maria. «Stern des Meeres» kann man aber auch auf eine Perle beziehen: Abgeschnitten vom äußeren Licht entsteht durch Impulsierung im Inneren eines Lebewesens eine sich entwickelnde Qualität, die dann beim Aufbrechen das äußere Licht in ganz besonderer Weise reflektieren kann. Und das ist ein Gleichnis für seelische Prozesse und Prozesse der Bewusstseinsbildung.
Wenn ich im Eingedenk dessen in den Sternenhimmel schaue, dann bin ich mittendrin im Faszinosum. Wir verstehen es nicht, aber wir können etwas Tiefes der Wirklichkeit nachempfinden. Ich spüre, dass die Lichtpunkte da draußen mit meinem Innerlichen verbunden sind, darin wiederschwingen.

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Stephan Guber – Stella Maris

e: Du versuchst also mit deiner Kunst die schöpferische Dynamik des Lebens zum Ausdruck zu bringen?

SG: Ja, und wir sind Teil dieses Schöpferischen, denn das gestalterische Tun gehört zu unserem Menschsein, es ist uns unmöglich, nicht gestalterisch tätig zu sein. Wenn man dieses gestalterische Grundpotenzial – das Joseph Beuys in die Worte «Jeder Mensch ist ein Künstler» gebracht hat – ernst nimmt, dann kommen auch Aspekte der menschlichen Gestaltung in den Fokus, die man normalerweise nicht als solche anerkennt. Ist dann nicht auch der Versuch des Menschen, sich im Seelisch-Geistigen und Kosmischen zu verorten, bis hin zur gedanklichen Aktivität, die zu äußeren Formen ausfließen, ein künstlerisch gestalterischer Akt? Ist dann auch die Spiritualität Kunst? Die Spiritualität wird ja häufig als gegeben empfunden – früher noch mehr als heute. Gott wurde oft als «etwas da draußen» gesehen, zu dem man sich verhält. Wenn wir aber den Kreator – wieder ein Ausdruck von Beuys – ernstnehmen, dann sind auch die Versuche des Menschen, sich selbst wieder rückzubinden – religere –, kreative Akte, die sich in religiösen Lehren, Formen und Riten zeigen. Dazu gehören auch die Vorstellungen über die Ebenen des Spirituellen oder über das Verhältnis des Göttlichen zum Menschlichen.
Wenn wir Spiritualität in diesem Licht sehen, ereignet sich ein Paradigmenwechsel, denn wenn Spiritualität als Kunst gesehen werden kann, dann würde dem Menschen eine große Verantwortung anheimgestellt. Er ist Gestalter dessen, was er vorher als gegeben begriffen hat. Der Mensch erkennt: Ich gestalte diese spirituelle Wirklichkeit und bin dafür verantwortlich.

e: Das ist ja auch der tiefste Punkt, auf den eine evolutionäre Spiritualität hindeutet: Alles – einschließlich wir selbst – geschieht innerhalb des Schöpferischen. Da bekommt dann der Satz, «Jeder Mensch ist ein Künstler», eine neue Aufladung.

SG: Ja, Beuys meinte ja nicht, dass jeder Mensch Bilder malt oder Skulpturen macht. Er beschrieb beispielsweise auch die Lautbildung der Sprache als einen plastischen Akt durch die Stimmorgane. Jedes Wort, das wir ausformulieren, ist ein Lufthauch-Skulpturen-Gebilde, das ich informiere und du exformierst oder entschlüsselst und das dann eine Verständigung zulässt. Wir können noch einen Schritt weiter zurückgehen: Auch Gedanken, Ideen und Vorstellungen sind Gestaltungen künstlerischer Art. Und das geht bis in die spirituellen Denkformen hinein.
Hier liegt für mich auch eine neue Möglichkeit der Verbindung von Kunst, Wissenschaft und Spiritualität. Zwischen Wissenschaft und Spiritualität gibt es schon verschiedene Annäherungsversuche, vor allem auch über die neue Physik. Die Kunst wird aber meines Erachtens noch oft verkannt und isoliert betrachtet. Denn in der Kunst liegt das gestalterische, schöpferische Grundprinzip, das wir eben angesprochen haben und das auch Wissenschaft und Spiritualität verwandeln kann.
Dazu wäre, um wieder mit Beuys zu sprechen, ein «erweiterter Kunstbegriff» notwendig. Wir haben einen engen Begriff von Kunst. Wie wäre es, wenn wir zwischen Kunst, Wissenschaft und Spiritualität ein Gleichzeichen setzen? Denn wenn wir die Kunst mit in diese Gleichung nehmen, dann kommt das Element der Eigenverantwortung ins Spiel: Ich bin der Gestalter. Die Kunst könnte so ein Impuls sein, der die Trennung zwischen Spiritualität, Kunst und Wissenschaft wieder zu einer neuen integrativen Einheit führt, ohne die Bereiche zu vermischen. Und getragen wird diese Integration von der Erkenntnis der schöpferischen Grundstruktur der Wirklichkeit und der gestalterischen Möglichkeiten unseres Menschseins.

In gekürzter Fassung erschienen in evolve 09: GANZ NAH – Intimität als Herz des Lebens

Das Gespräch führte Mike Kauschke.

Stephan Guber, 1965 in Bad Nauheim geboren, lebt und arbeitet in Nidda. Der Künstler studierte von 1987 bis 1989 an der FH in Wiesbaden. Den Umgang mit Erdmaterialien, seinem bevorzugtem Material, erlernte er jedoch im Selbststudium. Zahlreiche Studienreisen und Arbeitsaufenthalte führten ihn nach Skandinavien, Ungarn und Australien. Im Mittelpunkt von Stephan Gubers Arbeiten steht der Mensch. Seit mehr als 25 Jahren nähert der Künstler sich aus verschiedenen Richtungen und in unterschiedlichsten Medien, Grafik, Malerei, Bildhauerei und Installation diesem zentralen Thema. www.stephan-guber.de