Die explosive Kraft der Achtsamkeit

Über die Öffnung des kulturellen Blicks

Thomas Steininger

GaiaMotherTree im Hauptbahnhof Zürich,2018, Fondation Beyeler, ©Ernesto Neto, Fotos: Matthias Willi
Es gibt Bücher, die einen nie verlassen, auch wenn man viele Jahre nicht an sie gedacht hat. In meiner Schulzeit stieß ich auf das Buch »Der Weg der weißen Wolke« von Lama Govinda, einem deutschen Buddhisten, der in den 1930er und 1940er Jahren in einsamen Expeditionen das alte Tibet bereist hatte. Sein Reisebericht war eines der ersten Bücher über diese fremde Welt. Was mich als jungen Menschen an diesem Buch so nachdrücklich fesselte, war diese andere, magische Welt, eine Welt der Meditation. Tibet, das Land auf dem Dach der Welt, wurde für viele zu einem Mythos für eine andere Weise, die Welt zu sehen.

Warum erzähle ich von diesem Buch? Weil das Wort Achtsamkeit, das heute so verbreitet ist, ursprünglich aus Ländern wie Tibet oder Burma und ihren Meditationskulturen kommt, wo es viel mehr als nur tiefe Entspannung bedeutet. Es war ein radikal anderer Blick auf die Welt. Und dieses Buch beschreibt nicht das Tibet der »Erwachten«. Es zeigt auch die Welt einer ganzen Kultur von Bauern, Händlern, Männern und Frauen und ihrem so fremden Blick auf die Wirklichkeit.

Denn alle Kulturen haben einen eigenen Blick. Das ist ja eine der großen Einsichten der postmodernen Philosophen und integrale Denker versuchen hier anzuschließen, um zu verstehen, wie sich die verschiedenen Arten des Sehens in der Geschichte der Menschheit entwickelt haben.

Um tiefer zu verstehen, was Achtsamkeit ist, hilft es vielleicht, die Art und Weise unseres eigenen Sehens durch unseren eigenen kulturellen Blick näher zu betrachten. Denn auch unsere moderne, europäische Kultur hat ihre eigene Sichtweise, einen Blick, den andere Weltkulturen nicht teilen.

Eine Welt, in der unabhängige Individuen einer objektiven Wirklichkeit gegenüberstehen, ist eine Welt, die in Europa entstanden ist. Genauer gesagt, ist in Europa über die Jahrhunderte ein Blick entstanden, mit dem wir begannen, die Welt so zu sehen – eine Welt uns gegenüberstehender Objekte, die am besten auch fassbar und messbar sind. Dieser europäische Blick wurde zu einer Erfolgsgeschichte. Wir erlernten das Fassbare und Messbare zu berechnen und zu optimieren. Genau das ist die Erfolgsgeschichte der Naturwissenschaft, der Demokratie und der westlichen Marktwirtschaft.
Der erfolgreiche Blick hat aber auch seinen Preis. Er geht mit einer wachsenden Skepsis gegenüber all dem einher, was nicht fassbar und messbar ist. In unserer öffentlichen Kultur entstand der Konsens, dass alles nicht Fass- und Messbare nicht wirklich ist – dass es auf jeden Fall nicht wirklich zählt. Wir schufen ein Tabu, so etwas wie ein kulturelles Blickverbot, in dem ganze Welten verschwanden. Vielleicht sind wir ja auch kulturell erblindet, weil wir nicht wissen, wie wir dem Unfassbaren technisch, sei es psycho-technisch, sozio-technisch oder öko-technisch begegnen können. Und: Das nicht Fassbare macht auch Angst, weil es unverfügbar bleibt. Dieser Weltverlust unseres kulturellen Blicks ist Teil der großen Krise unserer Zeit.

Die Achtsamkeitsbewegung der letzten Jahrzehnte ist auch ein Einspruch gegen diesen verengten Blick.

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Lesen Sie den kompletten Text in der evolve Ausgabe 22 / 2019