Aussöhnen mit Deutschland

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Wir freuen uns, Medienpartner einer besonderen Veranstaltung zu sein, die sich mit der historischen Verantwortung und den Gestaltungsmöglichkeiten in Deutschland befasst:

Aussöhnen mit Deutschland: Verantwortung – Heilung – Transformation

21. – 23. März, Berlin

Neben evolve-Herausgeber Dr. Tom Steininger sind der Psychotherapeut und Coach Heiner Max Alberti und  die Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin Prof. Dr. Barbara v. Meibom die Initiatoren dieser Konferenz. In diesem Artikel beschreibt Barbara v. Meibom, die Chance und Aufgabe, vor der wir ihrer Ansicht nach heute in Deutschland stehen:

Deutschlands Chance – Mit dem Schatten versöhnen

Tagtäglich können wir sie hören: die Vergleiche des gegenwärtigen Deutschland mit der dunkelsten Epoche unserer Geschichte. Ob in Griechenland, in Portugal, in Italien oder Frankreich – die Politik Deutschlands in der Finanzkrise weckt bei unseren Nachbarländern Erinnerungen an eine überwunden geglaubte Dominanz und Beherrschung, an ein Unheil, das von unserem Land und seiner Politik während der NS-Zeit ausgegangen ist.

Dies muss uns als Deutsche beunruhigen. Das europäische Friedensprojekt nach 1945 ist die Frucht der deutschen Geschichte. Ein Land wie Deutschland in der Mitte Europas ist zwingend auf gute Nachbarschaft angelegt und angewiesen. Dieses Friedensprojekt ist der bislang erfolgreiche Versuch, aus der verhängnisvollen Spirale von erlebter nationaler Ohnmacht und beanspruchter Allmacht herauszutreten und eine Beziehung der Partnerschaft, der Kooperation und des Respektes nach innen und nach außen zu etablieren. Dieses Projekt ist heute in Gefahr.

Heute erscheint Deutschland in der Wahrnehmung seiner Nachbarstaaten als ein Land mit einer unübersehbaren Machtfülle. Diese Macht übersetzt sich – auf dem Hintergrund der Finanzkrise – in Vorschriften und Anforderungen an die europäischen Nachbarn, welche tief in deren soziales und politisches Gewebe eingreifen. Die Folgen für Wohlfahrt und Demokratiefähigkeit in unseren Nachbarländern sind gravierend und beunruhigend und werden letztlich auf uns zurückwirken.

In der deutschen Binnenperspektive fehlt hingegen vielfach ein Bewusstsein dafür, wie machtvoll das Land in der Mitte Europas ist. Diese Diskrepanz zwischen Außen- und Innenwahrnehmung fordert dazu auf, das eigene Verhältnis zur Macht zu hinterfragen. Dient der Machtgebrauch vor allem der Verfolgung eigener Interessen? Oder nimmt Deutschland seine faktische Macht wahr, um – politisch, ökonomisch, sozial und kulturell – Wege zu suchen und zu beschreiten, die helfen, das europäische Friedensprojekt und die Demokratiefähigkeit in den europäischen Ländern zu sichern?

Wer Antworten auf solche Fragen sucht, kann nicht um umhin, sich der belastenden historischen Vergangenheit, ihren Ursachen und ihren Folgewirkungen zu stellen. Dabei geht es nicht um die Vergangenheit als solche, sondern darum, sich  heute den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen. Solange in Deutschland kollektiv und individuell wichtige Kräfte blockiert sind aufgrund der dunkelsten Phase der deutschen Geschichte, kann dieses Land seine Rolle nicht angemessen wahrnehmen und die Gespenster unbewusster Wiederholungsprozesse innergesellschaftlich und zwischenstaatlich geistern nach wie vor umher.

Deutschland hat in den 12 Jahren der Naziherrschaft Europa mit Mord und Totschlag überzogen. Mit höchster Effizienz wurde von der politischen Führung eine Todesmaschinerie in Gang gesetzt, die im Namen einer fundamentalistischen politischen Religion eine Erlösung der Welt durch die arische Rasse versprach, eine Volksgemeinschaft zusammenschweißte, Begeisterung in den Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft entfachte und ihr Selbstwertgefühl steigerte. Die politische Religion des Nationalsozialismus legitimierte die Vernichtung all derer, die als Bedrohung für die „Herrenrasse“ erlebt wurden, insbesondere Juden und Bolschewisten.

Solche Erfahrungen werden transgenerational weitergegeben, bei den Opfern ebenso wie bei den Tätern. Sie sind so monströs, dass sie im Sinne der Schamabwehr (Stephan Marks) abgespalten, geleugnet, beschwiegen (Hermann Lübbe) oder auf andere projiziert wurden und werden. Nur wenige Menschen haben den Mut und die Kraft, sich den Kräften des Unbewussten (Schuld, Scham, Aggression, Wut, Verzweiflung) zu stellen und ihre Erfahrungen zu verarbeiten und in eine lebensbejahende Haltung zu transformieren. Doch die traumatisierenden Inhalte der Vergangenheit wirken bis heute im Unbewussten nach und blockieren Selbstverantwortung, Empathie, Lebensfreude und Begeisterungsfähigkeit. Vielfach unbewusst, werden diese Einschränkungen an die nachfolgenden Generationen weitergegeben, tragen bei zu Bindungs- und Beziehungsunfähigkeit, Depression und Burnout. Für die Existenz eines demokratischen Gemeinwesens ist dies alarmierend. Wo die Demokratie nicht „libidinös“ (Mitscherlich) besetzt wird, gerät sie in Gefahr. Wo Begeisterung und Verantwortung sich nicht auf das Gemeinwohl richten, machen sich Werteindifferenz und „Coolness“ breit.

Dies alles müsste nicht so sein. 70 Jahre nach Kriegsende sind wir von den Schatten der Vergangenheit zwar alles andere als frei – dies belegt das Versagen gegenüber dem NSU, dem nationalsozialistischen Untergrund, ebenso wie die Ergebnisse des entsprechenden Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages. Doch der zeitliche Abstand ist groß genug, um sich den alten Fragen mit einem neuen Grad an Bewusstheit und neuem Engagement zuzuwenden: Worin bestand die Verführbarkeit und der Missbrauch der Menschen zwischen 1933 und 1945? Wie hat es zu einer solchen Dehumanisierung auf allen Ebenen kommen können? Was können wir daraus für heute lernen? Gibt es auch Ansatzpunkte im „deutschen Sozialcharakter“, die darauf hinweisen, dass die Katastrophe des Nationalsozialismus nicht unvermeidlich war, und die überdies helfen können, zu einer posttraumatischen Reifung zu gelangen?

Diesen und ähnlichen Fragen gehe ich in einem Buch nach, das im unter dem Titel “Deutschlands Chance. Mit dem Schatten versöhnen” im Europa Verlag Berlin erschienen ist. Dabei zeigen sich drei Charakteristika im deutschen „Sozialcharakter“, die es lohnt näher anzuschauen: eine sich immer wieder kollektiv manifestierende Ohnmachts- Allmachtsdynamik, eine Öffnung für den transpersonalen Raum, die das mentale Bewusstsein überschreitet und eine Herausbildung von Sekundärtugenden, die maßgeblich zum Erfolg der deutschen Ökonomie beitragen. Bei allen drei ist es zu einem eklatanten Missbrauch gekommen. Hier nach Ansatzpunkten für Heilung und Transformation zu suchen, ist daher eine wichtige Aufgabe. Gelingt dies, so kann sich eine „Führungskunst“ entwickeln, die „dem Leben dient“.  Auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte muss dies vor allem die Fähigkeit beinhalten, der Würde des Menschen in allen ihren Facetten Rechnung zu tragen und Brücken zu bauen zwischen unterschiedlichen Interessen und Anliegen. Genau diese Fähigkeiten werden heute nicht zuletzt von unseren europäischen Nachbarn von dem machtvollen Deutschland erwartet. Dass Menschen und herausragende Persönlichkeiten mit diesem Anliegen unterwegs sind, zeigen zahlreiche Beispiele, die ich in meinem Buch aufführe. Es sind dies Mutmacher und Mutmacherinnen eines Machtgebrauchs, in dem sich Macht und Liebe versöhnen.

Mit den Fragen und Anliegen dieses Buches stehe ich nicht allein. Ich bin Teil eines breiteren Stromes von Menschen, die sich diesem Ziel verpflichtet fühlen – im In- und Ausland. Zu ihnen gehören auch der Psychotherapeut und Coach Heiner Max Alberti (Lübeck) und der Philosoph und Publizist Dr. Tom Steininger (Frankfurt). Dieses kleine Team hat sich daher für 2014 ein Dialogprojekt zum Ziel gesetzt, das dem „Aussöhnen mit Deutschland“ dienen soll und sich dabei der Verantwortung, der Heilung und der Transformation verpflichtet weiß. Aussöhnen verlangt Bewusstheit, Hin-Sehen und Hin-Spüren, damit das Alte bewusst und das Neue erkannt, gesucht und umgesetzt werden kann.

Prof. Dr. Barbara v. Meibom war Univ. Prof. für Politik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und leitet heute das Communio-Institut für Führungskunst in Berlin/Essen. www.communio-fuehrungskunst.de