Leadership für Change-Maker: Eindrücke vom evolve LIVE!-Event in Wien

Martin Kirchner und Thomas Steininger

Leadership für Change-Maker im WIR-Prozess
Eindrücke vom evolve LIVE!-Event in Wien

Von Dr. Iris Kunze, Institut für Integrale Studien (IFIS)

Es war das erste einer Reihe von Live-Events der Zeitschrift evolve in mehreren deutschsprachigen Städten mit dem Ziel „die Zukunft im Dialog entstehen zu lassen“. Für das Thema des Events am 22. Juni in Wien – „Leadership für Change-Maker“ – war Martin Kirchner eingeladen, Co-Gründer der „Pioneers of Change“, einem Netzwerk, das Menschen auf ihrem Weg als Change-Maker coacht.
Samstagmorgen, 10 Uhr. Der Raum im Markhof war übersichtlich eingerichtet: ein Infotisch, ein einfacher Stuhlkreis. Nur 15 Teilnehmende ließen erwarten, dass es ein tiefgehender Dialog im Kreis werden könnte. Thomas Steininger, Herausgeber von evolve und Co-Moderator des Tages, lud, statt ein festes Programm vorzuschlagen, zu einem co-kreativen Tag der Vernetzung ein und zuerst einmal zu einer Vorstellungsrunde. Im versammelten Kreis öffneten sich interessante Welten, die ganz unterschiedliche Erfahrungen und Themen mit und zu Leadership ansprachen, wie kritische Architekten, motivierte Selbstständige, Abteilungsleiter mit Burnout, Heiler oder derzeit auf die Familie konzentriert Lebende.
Schließlich begann Martin Kirchner seine Erfahrungen zu teilen. Er wollte in seinem Leben etwas Sinnvolles für die Welt tun und kein „Rädchen in einem kaputten System“ sein. Aber wusste zuerst nicht, wo und wie er wirklich einen Unterschied machen könnte. Er entdeckte dann „Ökodörfer“ als Modellsiedlungen für nachhaltigere Lebensstile und versuchte dann über rund ein Jahrzehnt in immer wieder neuen Anläufen, ein Ökodorf zu gründen – aber es wollte nicht zünden. Schließlich entwickelte er auch ein Konzept für eine Ausbildung für „Weltverbesserer“ bzw. „Social Entrepreneurs“, wie er einer war – aber auch das kam nicht auf den Boden und beides fühlte sich eher nach Scheitern an.
„Ich habe die Idee einer Ökodorf-Gemeinschaft dann losgelassen. Und in dem Moment, als ich frei davon war, da ist es auf einmal entstanden. Natürlich habe ich da schon viel Kraft und Commitment reingegeben.“ Es wurde dann kein Ökodorf, sondern ein Cohousing-Wohnprojekt, eine pragmatische Variante mit Kompromissen, aber dort er lebt seit 2013 glücklich mit seiner Familie.
Fast zeitgleich gründete er mit zwei Weggefährten, die auch ins Wohnprojekt eingezogen sind, die Pioneers of Change und setzte dabei seine Idee einer Ausbildung für Visionär*innen um. Aus dem Bildungsprojekt wurden schließlich ein Netzwerk und eine Non-Profit-Organisation, die nach dem Organisationsmodell der Holakratie geführt ist. Dabei ist er immer Lernender und Forschender geblieben.
Thomas weist auf den veränderten Raum nach unserem Austausch hin und bittet uns, aufmerksam hineinzuspüren, was jede/r Einzelne von uns will, das heute geschieht und was vielleicht das Wir, der gemeinsame Raum will, was sich heute entwickeln kann. Ulrike Haiden, Co-Moderatorin und Gastgeberin des evolve Salons in Wien, erklärt, dass sie bei der Vorbereitung überlegt hat, ob sie die Mitte dekoriert. Sie ließ sie dann aber frei, um zu signalisieren: Die Mitte ist frei, alles ist möglich. Nach diesen Mitteilungen: Schweigen. Stille. Unsicherheit? Achtsamkeit? Schaffen wir das ohne Plan, Moderation, Struktur?
Die Redebeiträge werden achtsamer, jemand bringt das Bild von Samen ein, die wir alle mit unseren Fähigkeiten mitbringen, und das Potenzial, dass daraus ein bunter Garten wachsen kann. Die eigenen Samen geben reicht aber nicht. Es braucht Sonne und Wasser – Zuhören, Achtsamkeit und Mitgefühl für die Samen der anderen, damit sie aufgehen können und unser Garten wachsen kann. Aber was wollen wir, was ist das Ziel und warum tun wir es? Gibt es ein absichtsloses Verbinden? Wofür genau braucht es eigentlich Leadership?
Thomas lädt uns zu einer Übung ein, uns zurückzubeugen und in unseren Ich- Raum zu spüren, uns dann vorzubeugen und in den Wir-Raum zu spüren, im Wechsel. Dann tauschen wir uns in Dyaden-Zweiergesprächen darüber aus: Eine/r spricht ein paar Minuten, der/die andere hört zu, dann andersherum. Ich erlebe durch diesen Austausch eine weitere Vertiefung unseres Raumes. Die Mitteilung zu zweit schafft etwas mehr Intimität.
Auch in der großen Runde sprechen wir dann auf einer persönlicheren Ebene, mehr im tiefen, gefühlten Erleben, als in rein äußerliche Fakten. Zu diesem Punkt mussten wir erst einmal kommen.
„Die westlichen Sprachen sind auf Ideen ausgerichtet“, führt Thomas aus, „weniger auf das Verbindende“. Und eine Gruppe, wenn sie sich mehr in den gefühlten Bereich und das Verbindende entwickelt und Vertrauen entsteht, birgt die Gefahr der Manipulation. Das ist uns beim Thema „Führen“ gut bekannt, weswegen wir lieber unverfänglich das neudeutsche „Leadership“ verwenden. Oder ist Manipulation nur da möglich, wo blinde Flecken und blindes Vertrauen wirken? Wie können wir die Selbsterkenntnis aufbringen, um zu erkennen, wo wir unbewusst Verantwortung abgeben wollen?
Können wir uns noch mehr für das, was zwischen uns werden will, öffnen? Martin hat Co-Kreativität oft als Flow im Wir-Raum erlebt, „bei dem etwas entsteht, was schlauer ist, als wir Einzelnen“. Dazu gehört es aber auch, den Willen jeder/jedes Einzelnen anzunehmen und zu allem „‘Willkommen‘ zu sagen und es als Chance zu sehen“ – z. B. auch wenn jemand aus seiner/ihrer Aufgabe im Team aussteigen möchte, wie es gerade bei den Pioneers of Change einen Fall gab. Der Flow entsteht, wenn „alles da sein darf, wir als ganze Personen mit unseren Schattenanteilen, und wenn wir uns gegenseitig annehmen.“ Für Martin braucht es eine Wahrnehmung des gemeinsamen Feldes, und um das zu pflegen und zu gärtnern, „müssen wir auch mal meditieren oder uns raufen!“
Jemand mit Erfahrung beim Leiten von Gruppen sagt, dass er den Wir-Raum schrittweise mehr ins Fließen bringen konnte, als er sich als Leiter ehrlich mit seinen Schwächen und Verletzungen zeigte. Martin als Moderator des „Pioneer of Change“-Online-Gipfels wurde einmal von einem Hörer in einer Rückmeldung als „unbeholfen“ kritisiert, diese Person hätte sich jemand „Professionelleren“ gewünscht. Das hat ihn zuerst getroffen und verunsichert. Martin hat seinen Prozess dazu dann in einem persönlichen Video geteilt mit der Conclusio „wenn wir alle darauf warten perfekt zu sein, dann geht nichts weiter“ und dass „große Kraft darin steckt, unsere Verletzlichkeit zu zeigen“. Dieses Video hatte dann eine starke Resonanz und machte sehr vielen Menschen Mut, denn die Angst vor Kritik und uns deshalb nicht zu trauen, unsere Träume außerhalb unserer Komfortzone zu verfolgen, ist durchaus verbreitet in unserer Kultur. Thomas merkt an, dass die Betroffenheit über die Kritik in Martins Fall offensichtlich nicht aus einer Verletzlichkeit des Egos gekommen ist, sondern aus einer Verantwortung für die Qualität des Online-Gipfels, also für den Wir-Raum, nicht den Ich-Raum. Das erst schafft Verbindung.
Das Thema Verletzlichkeit ruft kritische Fragen hervor: Wenn man schon negative Erfahrungen gesammelt hat, zeigt man sich aus gutem Grund nicht mehr so offen. Außerdem gibt es mehr oder weniger heikle Themen. In der Politik darf man sich kaum verletzlich zeigen. Zudem besteht die Herausforderung darin, wie man mit Leuten umgeht, die nicht passen, inkompetent sind oder wenn die Gruppe sehr heterogen ist. Vielleicht ist es die Kunst, das passende Maß zu erspüren, was eine Gruppe und man selbst als Leader (aus)halten kann. Aber das begrenzt. Aus meinen Forschungen mit intentionalen Gemeinschaften, habe ich die Erkenntnis gewonnen, dass es Schutz braucht, um Vertrauensräume zu sichern, wenn man weitergehen und das Achtsamkeitsniveau anheben möchte. Aber wer bestimmt diese Grenzen?
Martin hat viel Zeit in Gruppengründungen verbracht, weil er sich nicht getraut hat, in seine Quellkraft zu gehen und die Verantwortung dafür zu übernehmen, diesen Gruppenraum zu halten: Kompetenz und Wissen verpflichten. Ein Paradox: Als er schließlich so eine innere Entschlossenheit entwickelt hat, dass er bereit war, sein Projekt mit oder ohne andere Leute anzugehen, kam die Vision auf den Boden. Seine Entschlossenheit hat ausgestrahlt und wiederum entsprechende Menschen angezogen. Quellkraft muss nicht unbedingt heißen, nur neue Projekte im Außen zu erschaffen. Laut der Tiefenökologin Joanna Macy gibt es drei Formen von Wandlungsarbeit: Protest („Holding Actions“), neue / alternative Strukturen schaffen und ein neues Bewusstsein anstoßen. Für einen gelingenden Wandel brauchen wir Aktivitäten auf allen Ebenen – und jede/r von uns kann entscheiden, auf welche Ebene er oder sie wirken will.
Thomas wünscht sich, dass evolve auch nährende Kontexte als Biotope des Wandels für Menschen schafft, die sich an problematischen Positionen in den herrschenden Systemen befinden.
Eine Erkenntnis des Tages, dass wir eigentlich immer co-kreieren, bewusst oder unbewusst, hat mich fast erschreckt. Geht es noch mehr darum, uns die Prozesse unseres Kreierens bewusst zu machen und uns achtsam zu beobachten, statt zu meinen, wir seien im leeren Raum und starten einfach mit einer Co-Kreation?
In der abschließenden Runde, in der gefragt wurde, was die Teilnehmenden mitnehmen, war als Essenz für mich spürbar, dass nicht nur der inhaltliche Austausch, sondern vor allem die über den Tag entwickelte Achtsamkeit und das Mitgefühl füreinander sowie die unterschiedlichen Erfahrungen als bereichernd empfunden wurden. Und diese Qualität kann vielleicht tatsächlich mitgenommen werden.

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