Wie wollen wir leben? Der Heiligenfeld-Kongress 2021

Neue Schritte in einer sich verändernden Welt

Anita Schmitt von der Akademie Heiligenfeld spricht mit dem Gründer der Heiligenfeld Kliniken und Kongressorganisator Dr. Joachim Galuska über den Heiligenfeld Kongress 2021.

Anita Schmitt: Die Akademie Heiligenfeld veranstaltet seit 2002 jährliche Kongresse jedes Jahr zu einem we­sentlichen gesellschaftlichen Thema. In diesem Jahr wird er zum Thema „Wie wollen wir leben?“ sein und gleichzeitig müssen wir die Einschränkungen durch Corona berücksichtigen. Wir werden dieses Jahr den Kongress jetzt schon beginnen. Wir wollen aus diesem Grund jetzt schon verschiedene Beiträge aufnehmen und unsere Kongressteilnehmenden und unsere Referenten sowie Referentinnen in diesen Prozess mit einbeziehen. Der Kongress ist ein Erlebnisraum, ein Begegnungsraum mit all unseren Teilnehmenden, mit unseren Referen­ten sowie Referentinnen, mit uns. Unsere Teilnehmenden melden uns oft zurück, dass dies eine wichtige Zeit im Jahr ist, von der sie zehren.

In diesem Jahr veranstalten wir eine viertägige Veranstaltung, einen Präsenz-Kongress in Bad Kissingen, zudem wird es einen Online-Kongress geben. Wir wollen beides kreativ zusammenzubringen, darauf freue ich mich besonders.

Jedes Jahr überrascht Heiligenfeld mit einem neuen Kongressthema. Welche Überlegun­gen stecken dahinter und wie kommt es zu dieser Themenfindung?

Dr. Joachim Galuska:Die Themen ergeben sich aus dem ganzheitlichen therapeutischen Konzept, in dem wir Medizin, Psychotherapie mit Geist, Seele und Spiritualität integrieren. Wir wollten diesen Ansatz für die Gesellschaft öffnen und haben deshalb Kongresse begonnen, um diese Themen von vielfältigen Seiten zu be­leuchten. Da wir ein Wirtschaftsunternehmen im Gesundheitswesen sind, spielt natürlich auch die Frage eine Rolle: Wie führt man ein Unternehmen in einer Marktwirtschaft? Deshalb haben wir diesen ganzheitlichen Ansatz auch auf unser Unternehmenskonzept angewandt und auch Kon­gresse zu diesem Thema: „Wie kann man mit Geist, Seele, Spi­ritualität wirtschaften?“. Während der ersten 10 Jahre waren die Kongresse dadurch geprägt.

Wir sind dann immer mehr zu den Fragen gekommen, die uns in der Tiefe bewegen: Was sind die Kriterien, nach denen wir leben? Wir haben so fundamentale Prinzipien wie Bewusstsein, Liebe, Wir-Bewusst­sein, Resilienz, Achtsamkeit, Spiritualität im Leben. Die Themen sind jedes Mal aus einer inneren Dynamik entstanden. Aus den Aus­einandersetzungen mit einem Thema haben wir uns gefragt, was als nächstes Thema sinnvoll ist. Dabei spielte auch die Auseinandersetzung mit der Welt, mit der Gesellschaft eine Rolle: Was bewegt die Welt, wie verändert sich die Welt – unsere eigene Welt, aber natürlich auch die große weite Welt, die globale Welt? Aus diesem Zusammenspiel von aktuellen Entwicklungen in der Welt und unserer Suche nach den tiefen inneren Wer­ten sind jeweils die nächsten Kongressthemen entstanden.

AS: Im vergangenen Jahr stand der Kongress unter dem Thema „Reifung“, dieser musste wegen der Corona-Situation aber abgesagt wer­den. Weshalb findet er in diesem Jahr nicht mit dem gleichen Thema statt, sondern zur Frage: „Wie wollen wir leben?“

JG: Wir hatten das Thema Reifung gewählt, weil wir beobachteten, dass in den gesell­schaftlichen Entwicklungen begrenztere Reifungsgrade zu erkennen sind, z. B. in den neuen Medien. Zugleich ist Reifung ein, auf eine gewisse Weise, tabuisiertes Thema, weil es ja immer auch die Frage hervorruft: „Was ist reif, was ist unreif?“. Und wir wollten uns auch diesen Fragen stellen: Was bedeutet eigentlich indivi­duelle Reifung, organisationale Reifung, gesellschaftliche Reifung. Wo sind sozusagen Reifungs­notwendigkeiten gegeben?

Wenn wir einen Kongress vorbereiten und organisieren, dann planen wir schon das Thema des nächsten Kongresses. Nach Reifung sollte eigentlich „Würde des Lebens“ folgen. Die tiefe Erkenntnis, wie wir gesellschaftlich und global im Leben stehen, erfordert eine Rückbesinnung auf etwas ganz Fundamentales: die Würde im Leben, im Ster­ben, im Umgang mit Krankheit, im Umgang mit den Lebewesen. Mit der Corona-Pandemie wussten wir nicht, wie der nächste Kongress genau stattfinden kann. Deshalb haben wir sowohl die Themen als auch den Ablauf in Frage gestellt. In dieser großen gesellschaftlichen Veränderung wollten wir die Themen­findung etwas verändern und eher eine Frage stellen als ein Kriterium oder Prinzip in den Vordergrund zu stellen, das schon wieder eine Antwort ist. Die Würde wäre eine Antwort. Achtsamkeit, Bewusstsein, auch das sind Antworten auf Fragen des Lebens.

Aber wir wissen nicht genau, wie sich im Augenblick die Welt verändert. Deshalb haben wir uns die Fragen gestellt: Wie wollen wir leben, mit Corona, nach Corona oder überhaupt als Menschen? Es war uns sehr wichtig, das Ganze in der Thematik weit aufzumachen, und diesen Kongress in eine neue thematische Offenheit zu bringen.

Auch das Kongress­format kennen wir noch nicht und wir wissen nicht genau, wie viele Teilnehmer*innen wir dieses Jahr haben können. Diese neue Offenheit, die jetzt auch durch die vielen Veränderungsprozesse entsteht, wollen wir auch dafür nutzen, unseren Kongress zu verändern, vielleicht zu erweitern.

Es gibt zum einen in der Kongresskultur eine Bewegung hin zur Digitalisierung, zu Online-Formaten, zum anderen wollen wir den Kongress mehr in einen Prozess bringen. Dieser Heiligenfeld Kongress wird ein Kongress in Entwicklung sein, weil wir einzelne Elemente – auch neue Elemente – schon jetzt einführen wollen. Wir wollen Interviews mit den Referent*innen führen, die wir schon jetzt online stellen und in einem abgeschlossenen Bereich für die Teilnehmer*innen veröffentlichen. Möglich sind auch Kurzvorträge, Auszüge aus Vorträgen, Live-Gespräche. Damit gestalten die Teilnehmer*innen schon jetzt den Prozess des Kon­gresses mit. Auch den Kongress vor Ort in Bad Kissingen wollen wir zusammen mit den Referent*innen und den Teilneh­menden entwickeln. Wir werden wahrscheinlich nicht so viele Workshops machen wie sonst, vielleicht mehr parallele, größere Veranstaltungen. Er wird ein Erlebnisraum, ein Begegnungsraum, es wird Dichtung und Musik geben, es wird Möglichkeiten geben, sich zu begegnen.

Reale Erlebnisse, reale Begegnungen sind uns sehr wichtig und wir verstehen diese zusätzlichen Ele­mente als Ergänzungen, die den Kongress in Zukunft bereichern können. So wird sich auch der Kongress auf eine gewisse innere Weise in diese neue Welt hinein verändern und wachsen.

AS: Joachim, was verbindest Du mit dem Thema: Wie wollen wir leben?

JG: Wie wollen wir leben?Also, da ist zuerst mal die Frage nach dem Wie. Das fragt nach den Kriterien, nach denen wir unser Leben ausrichten. Die Prinzipien, nach denen wir leben wollen. In der Tiefe erschließen sich diese Prinzipien durch die innere Verbundenheit mit dem Le­ben. Durch das innere Einswerden, das innere Erkennen, dass wir alle Lebende sind. Und wenn wir das spüren, dann spüren wir natürlich auch grundlegende Prinzipien, die das Leben in sich trägt.

Wenn ich mich frage, wie wollen wir leben, dann erschließt sich für mich z. B. die Fürsorge: Die Fürsorge, die wir füreinander haben, die Liebe zum Leben, die wir finden, denn das Leben trägt in sich eine Liebeskraft. Das Leben ist permanent in Entwicklung, es entfaltet sich. Wir können diese Entfaltung z. B. im Bildungssystem fördern, sodass das Leben oder die Lebendigkeit, die in jedem von uns ist, in Kindern und Erwachsenen, zum Ausdruck kommen, sich entfalten kann. Dieses Potential des Lebens zu nutzen, zu fördern und sich ent­falten zu lassen, ist auch für mich ein ganz wichtiges „Wie“.

Ein weiterer Aspekt ist, in Würde zu leben. Das wäre eigentlich das nächste Kongressthema gewesen: Wie wir dem Leben seine Würde geben, wie wir würdig leben können. Was bedeutet das in der Medizin, im Gesundheitssystem, im Umgang mit Altern und Sterben?

Albert Schweitzer sprach von „der Ehrfurcht vor dem Le­ben“, was die Würde in den Vordergrund stellt. Natürlich geht es auch darum, in Toleranz mit der Vielfalt zu leben. Das Leben ist etwas, was sich sehr unterschiedlich ereignet, in vielfältigen Formen, nicht nur bei uns als Menschen. Aber eben auch bei uns Menschen und die Toleranz für die Unterschied­lichkeit der Kulturen, der Geschlechter und der verschiedenen Menschen ist ein ganz wichtiges Thema in der heutigen der Zeit.

Natürlich geht es hier auch darum, möglichst bewusst zu leben. Das ist eines der Kernthemen in meinem Leben gewesen: ein erwachtes, möglichst waches, bewusstes Leben zu leben. Sowohl individuell, damit wir als Menschheit immer besser verstehen, wer wir sind, wie wir sind und wie wir leben, wie wir miteinander umgehen.

Dieses Bewusstsein halte ich auch für ganz zentral und daraus stellt sich auch die Frage: Wie wollen wir kreativ leben? Die Evolution trägt ein großes Potential, eine große Kraft in sich. Dieses Neue, das wir schaffen können, das sich in uns als Fähigkeiten entwickelt und sich kreativ oder künstlerisch ausdrückt und damit auch für sich steht, ist für mich ein unverzichtbares, ganz wichtiges Kriterium des Wie.

Und im nächsten Schritt können wir fragen: Wie wollen wir leben? Das Wollen spielt eine größere Rolle, als wir bisher dachten. Wenn wir uns mit dem Leben verbunden fühlen, wenn das Leben und wir nicht getrennt sind, wenn wir ein Teil des Lebens sind, das uns hervorgebracht hat, dann entsteht eine gewisse innere Verantwortlichkeit für das Leben, für unser Tun. Dann können wir nicht mehr sagen: „Es geht hier nur um mich und meine individuelle Entfaltung, und den Rest benutze ich dafür.“ Alles was ich benutze, gehört zu mir, insofern bin ich verantwortlich für das, was ich tue! Das Wollen hat auch die Bedeutung, in Verantwortlichkeit zu leben.

Natürlich gibt uns das Leben frei. Es ist wunderschön, die Freiheit zu spüren, die das Leben jedem schenkt, indem es uns in die Welt so hineingegeben hat. Aber diese Freiheit in Verantwortlichkeit zu leben, ist individuell und gesellschaftlich eine große Herausforderung.

Als weiteren Schritt können wir uns der Frage zuwenden: Wie wollen wir leben? Wer ist denn dieses Wir? Damit meine ich nicht nur jeden einzelnen von uns, sondern auch jedes Wir, zu dem wir gehören: die Familie, die Freunde, mit denen wir zusammen sind, die Kultur oder Subkultur, in der wir leben und die Gesellschaft. Aber es geht hier na­türlich auch um alle Menschen oder sogar alle Lebewesen, mit denen wir uns verbunden und für die wir uns verantwortlich fühlen. Dann stellt sich die Frage so: Wie wollen wir aus Verbundenheit mit allen Lebe­wesen leben? Und diese Frage nach einer großen Verantwortung ist nicht leicht zu beantworten. Es gibt keine einfachen Antworten, aber wir können dieses Wir als Herausforderung nehmen, uns zu öffnen. Es läuft auf die Frage hinaus, wie weit wir uns für das größere Wir, den Planeten, den Kosmos, an dem wir teilhaben und von dem wir ein Teil sind, öffnen können.

Und schließlich kommen wir zum Leben: Wie wollen wir leben? Was ist das Leben? Das ist für mich die wichtigste Aufgabe: das Leben verstehen. Was ist eigentlich mein Leben inmitten von Leben, was ist unser Leben inmitten von Leben? Wie fühlt sich das an? Welche Dynamik, welche Kraft, welcher Sinn, welche Werte treiben das Leben? Wir geben dem Leben eine Chance, indem wir es ver­gegenwärtigen. Wie wollen wir ein vergegenwärtigtes Leben führen?

Und vielleicht können wir die Frage auch andersherum stellen: Wie möchte das Leben leben? Wie will das Leben leben – als ich, als du, als wir, als alles, was lebt?