Dem Unsichtbaren auf der Spur – Die Malerin Hilma af Klint

Über den Dokumentarfilm „Jenseits des Sichtbaren – Hilma af Klint“ von Halina Dyrschka

Andrea Klaßen

„Die Kunstwelt ist der reinste Herrenanzug. Der Stoff ist männlich“ erklärt die Kunstsammlerin Valeria Napoleone in dem Dokumentarfilm von Halina Dyrschka „Jenseits des Sichtbaren – Hilma af Klint“. Der Film gibt einen umfassenden Einblick in das außergewöhnliche Werk und Leben der schwedischen Künstlerin, die bereits 1906 ihr erstes abstraktes Bild malte, also mindestens vier Jahre vor Wassily Kandinsky. Bis heute steht aber Kandinsky in der allgemeinen Wahrnehmung an erster Stelle. Es könnte sogar sein, dass dieser ein Foto einer abstrakten Arbeit von Hilma af Klint besaß, als er 1910 sein erstes abstraktes Gemälde schuf.

Frauen jenseits des Rasters

Die Kunsthistorikerin Julia Voss und die Kuratorin Iris Müller-Westermann gehen im Film der Frage nach, warum af Klint bis heute eine so wenig beachtete Künstlerin der Kunstgeschichte ist. In der Auseinandersetzung mit ihrem spektakulären Werk untersuchen die Spezialistinnen in welchen gedanklichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen ihre künstlerische Abstraktion in der Moderne entstand und welche Konzepte von Künstlertum damit einhergingen. Sie betrachten ihr Werk somit unter einer erweiterten Perspektive, die bisher wenig gewürdigt wurde.
Was passiert zwischen den Kunstakademien, an denen immer wieder herausragende Künstlerinnen hervorkommen, und dem Kunstmarkt? Nur fünf Prozent der ausgestellten Bilder auf dem Kunstmarkt sind von Frauen. Wie entsteht diese Diskrepanz? Julia Voss spricht von einem Skandal, dass es nicht mehr Künstlerinnen gibt, von denen wir wissen, und nur so wenige gezeigt werden. Frauen passten nicht in das Raster. Genie wurde in der Kunstgeschichte nie mit einer Frau verbunden.

Eine Pionierin der Abstraktion

Wie wollen wir heute die Geschichte der Abstraktion erzählen und wie integrieren wir af Klints Kunst? Der Film nimmt uns mit auf eine spannende Reise und zeigt, dass es auch hier um Vermarktung geht. Hilma ist in dem Marktsystem nicht integrierbar. Mit ihr lässt sich kein Geld verdienen, stellt Voss fest. Ihre Bildsprache ist nur schwer einer stilistischen Tendenz oder einem bestimmten Künstlerkreis zuzuordnen; daher bedeutet sie für die Kunstgeschichte und insbesondere für die Geschichte der abstrakten Kunst eine Herausforderung.
Als das Museum of Modern Art in New York 2012 eine große Ausstellung mit dem Titel „Inventing Abstraction (1910-1925)“ präsentierte, hielt sie am „Geburtsjahr“ der Abstraktion 1910 und damit an der Vorreiterrolle Kandinskys fest, obwohl es das Ziel war aufzuzeigen, dass die Abstraktion nicht die Erfindung eines einsamen Genies, sondern eines Netzwerks („network thinking“) war. Hilma af Klint wurde nirgends erwähnt und war in der Ausstellung nicht vertreten.
Erst in den vergangenen Jahren wurde ihrem Werk eine größere institutionelle Aufmerksamkeit zuteil: Das Moderna Museet Stockholm feierte 2013 Hilma af Klint anlässlich der umfassenden Retrospektive als „Pionierin der Abstraktion“. Eine Millionen Menschen haben die Ausstellung in Stockholm gesehen. Damit hatte niemand gerechnet. Viele Menschen, die die Ausstellung besuchten, haben außergewöhnliche Reaktionen gezeigt, waren tief berührt und haben geweint. Hilma schaut bis in die Seele, hieß es. Sie schuf keine intellektuelle Kunst, sondern Werke, die mit dem ganzen Körper aufgenommen werden.
Die faszinierenden, oft betörend schönen und großformatigen abstrakten Werke der Ausstellung selbst geben schließlich Auskunft über die Geschichte der Kunst. Durch langsame Kamerafahrten ermöglicht der Film ihnen viel Raum für ausführliche Anschauung.
Af Klints künstlerische Versiertheit zeigt sich in souveränen Kompositionen und Farbkombinationen; leuchtende Paletten, orange, „gewagte“ Farben, unvergleichlich, fast Popart. Pink war ihre wichtigste Farbe. Mit blau verband sie Weiblichkeit, mit gelb Männlichkeit. Buchstaben, einzelne Figurationen, Symbole und Bildtitel machen deutlich, dass es sich bei dem Zyklus um eine breit angelegte Erforschung menschlicher Existenz handelte, die versuchte, die Dualität von Mikrokosmos und Makrokosmos, Leben und Tod, Irdischem und Geistigem, Weiblichen und Männlichem in eine Ganzheit oder Einheit zu überführen.

Die unsichtbare Welt sichtbar machen

Hilma af Klint (1862-1944) war eine gebildete schwedische Künstlerin, die an der Königlichen Kunstakademie in Stockholm studierte und 1887 mit Auszeichnung abschloss. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Kunstzentren wurden hier seit 1864 auch Frauen zum Studium zugelassen. Wenn Frauen Kunst studierten, ging man davon aus, dass sie Kunst schufen bis sie heirateten. Hilma blieb immer unabhängig und hat ihr eigenes Geld verdient. Sie passte also auch hier nicht in das vorgesehene Raster. Bereits in der Kunstakademie widersetzte sie sich den Regeln (z. B. beim Aktzeichnen der männlichen Models malt sie die Männer ganz nackt, obwohl sie einen Lendenschutz tragen).
Sie hat nie versucht, die Menschen schöner zu machen in ihren Bildern. Ihr Anliegen war es, die Welt um sich herum zu verstehen. Das Atelier von Hilma af Klint befand sich im Zentrum der Kunstszene Stockholms. Hier konnte sie nicht nur selbst ausstellen, sondern auch die aktuellen Debatten um Künstler wie Edward Munch aus nächster Nähe verfolgen.
Zu Beginn ihrer Laufbahn war sie eine traditionelle Landschafts- und Porträtmalerin. Af Klint löste sich aber schon sehr bald von dem Erlernten, den Konventionen akademischer Kunstproduktion. Im Wesentlichen ging es Hilma af Klint darum, die unsichtbare Welt sichtbar zu machen. Sie veranschaulichte komplexe philosophische Ideen, geistige Konzepte und religiöse Erfahrungen physisch auf der Leinwand.
Sie beschäftigte sich intensiv mit theosophischem Gedankengut und trat der schwedischen Theosophischen Gesellschaft schon in ihrem Gründungsjahr 1889 bei. Die Theosophie gab den Frauen die Möglichkeit, als Künstlerin zu leben. Sie gab Frauen eine Infrastruktur. Hier waren Frauen willkommen.
Ab 1896 traf sie sich mit Freundinnen in der Gruppe De Fem („Die Fünf“), deren Programm christliche, rosenkreuzerische und theosophische Elemente vereinte. Die Zusammenkünfte fanden über zehn Jahre statt und waren für af Klints spirituelle Entwicklung und die Annahme des Auftrags der Malereien für den Tempel zentral. „Die Fünf“ führten Séancen durch, bei denen mediumistisches Schreiben und Zeichnen praktiziert wurde. Das dabei Erlebte und die von Geistern empfangenen Botschaften wurden in ausführlichen Notaten dokumentiert und analysiert. Die so entstandenen Bleistift- und Farbstiftzeichnungen nehmen bereits einige formale Elemente der späteren Werke vorweg, darunter Schnecken, Rosen und Lilien, weitere florale Motive und geometrische Formen. Ganz offensichtlich wurde die abstrakte Bildsprache von af Klints Werk im Kontext dieser Gruppe vorbereitet.
Ab 1906 schuf af Klint großformatige abstrakte Malereien aus dem Geist des Spiritismus und der Theosophie. Dabei diente sie, nach eigener Aussage als Medium für die immateriellen Botschaften einer höheren, geistigen Welt. Von 1906 bis 1908 schuf af Klint mit immenser Ausdauer, Sorgfalt und großer Wucht ihre ersten 111 Werke des Zyklus Malereien für den Tempel. Die visuelle Sprache der Tempel-Bilder ist weitgehend abstrakt, integriert anfänglich Formen, die an Botanisches, Organisches und physikalische Darstellungen anknüpfen, und wird zunehmend geometrisch.
In einer zweiten Phase von 1912 bis 1915 entstanden weitere 83 Werke. Auch für diese spätere Werkgruppe hatte sie die Funktion eines Mediums, doch wurde ihre Hand nicht mehr direkt geleitet, vielmehr dienten ihr nun Visionen als Inspiration. Dabei war es ihr erlaubt, die in ihrem Inneren erscheinenden Worte und Bilder zu interpretieren und freier zu malen als zuvor.
1908 lernte af Klint in Stockholm Rudolf Steiner kennen, damals noch Generalsekretär der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft. Sie zeigte ihm ihre Arbeiten; dieser lobte die Symbolik, lehnte jedoch die mediumistische Praxis ab. Steiner hatte Fotografien von Hilmas ersten abstrakten Arbeiten als er 1908 auf Kandinsky traf. Er zeigte Kandinsky Hilmas Fotos!
Mit vielen Anhängern Steiners vollzog sie ab 1913 den Wechsel von der Theosophie zur Anthroposophie als einer stärker auf die Entwicklung des Menschen ausgerichteten Weisheitslehre und spirituellen Wissenschaft. In der Folge studierte sie intensiv seine Lehren wie auch die ihnen zugrunde liegenden Quellen, zu denen Goethes Schriften, insbesondere die Farbenlehre gehören. Im Jahre 1920 trat Hilma af Klint der Anthroposophischen Gesellschaft bei und besuchte das Goehtheanum in Dornach. 1921 vertiefte sie sich in das Studium von Goethes Farbenlehre und malte kein einziges Bild. Doch im Jahr darauf nahm sie die Malerei wieder auf – nun arbeitete sie mit „fließenden Farben“ oder „nass in nass“. Diese Technik führte sie schließlich bis zu ihrem letzten Bild im Jahr 1941 fort.
1928 gelang es Hilma af Klint mit der Hilfe von Freunden, ihre Gemälde auf der World Conference of Spiritual Science in London zu zeigen. Im Jahr 1931 entwarf sie ein spiralförmiges Tempelgebäude als passenden Rahmen für ihr Werk; es sollte auf der Insel Ven im Öresund errichtet werden, wurde aber nicht ausgeführt. In dieser Zeit muss sie zu der Überzeugung gelangt sein, dass erst zukünftige Generationen ihre Arbeit verstehen würden. Deshalb hielt sie 1932 fest, dass ihre Werke frühestens zwanzig Jahre nach ihrem Tod gezeigt werden dürften.
Zum ersten Mal waren Hilma af Klint Werke in der Ausstellung The Spiritual in Art: Abstract Painting im Los Angeles County Museum of Art 1986 zu sehen. Seit ihrer Wiederentdeckung in den 1980er Jahren überraschen nicht nur die Breite und Ambition von Hilma af Klints Werk, sondern vor allem auch ihre innovative und radikale Bildsprache. Ihr Weltbild breitete sich nicht nur über Hunderte von Gemälden und Zeichnungen aus, sondern auch auf Tausenden von Notiz- und Skizzenbuchseiten.

Werke für die Zukunft

1944 starb Hilma af Klint im Alter von 82 Jahren an den Folgen eines Verkehrsunfalls in Stockholm. Im selben Jahr starben auch Kandinsky, Mondrian und Munch. Sie war eine mutige Frau, die stets Grenzen überschritten hat. Hilma af Klint war Künstlerin und Forscherin und schuf ihre Werke für die Zukunft. Ein Wissenschaftler erklärt in dem Film, dass wir die Welt noch gar nicht gesehen hatten. Röntgenstrahlen, Radiowellen, die Relativitätstheorie wurden genau zu der Zeit entdeckt, als Hilma Wellen, Spiralen, Atome zeichnete.
Der Film macht deutlich, dass es nicht darum geht, den einen Namen eines Vorreiters der Abstraktion durch einen neuen zu ersetzten, vielmehr geht es um den Diskurs der Anerkennung von Hilma af Klint stellvertretend für vielleicht viele noch unbekannte Künstlerinnen. Bis heute gibt es in Stockholm keine Gedenktafel, die an Hilma af Klint und ihr großartiges Werk erinnert und sie würdigt. Vielleicht braucht es noch weitere 10 oder 20 Jahre, erklärt uns die Kuratorin Iris Müller-Westermann, bis Hilma in Schweden als wichtigste Künstlerin anerkannt wird, so wie Edward Munch in Norwegen.
Auch wenn der Film zum Teil ein wenig hölzern wirkt und es ihm bisweilen an Spannung und Fluss fehlt, ist er wegen der spannenden Geschichte und dem herausragenden Werk von Hilma af Klint unbedingt sehenswert. Der Film leistet einen wertvollen Beitrag für eine Erweiterung des Kunstbegriffs der modernen Kunst und der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, ohne Ausschluss aufgrund des Geschlechts, gesellschaftlicher oder politischer Situation, geografischer Lage oder eines anderen Verständnisses von Kunst und Kreativität. Der Film wird ab dem 5. März 2020 in den Kinos sein.

Andrea Klaßen ist Kunsthistorikerin M.A. und schrieb ihre Magisterarbeit 1991 über die Entstehung der abstrakten Kunst. Sie arbeitet als Feldenkrais-Lehrerin und Dozentin an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn. www.movingmatters.de