Die doch nicht ganz so stille Revolution

Reflexionen zum 6. interdisziplinären Kongress Meditation & Wissenschaft: „Sehnsucht nach Zukunft – Achtsamkeit und Transformation‟

Lisa Baumann

Was vermag Achtsamkeit zu kulturellen Transformationsprozessen beitragen? Nachdem die positiven Wirkungen von Meditation auf die persönliche Gesundheit weitreichend erforscht wurden und Achtsamkeit inzwischen in aller Munde scheint, ist diese Frage aktueller denn je. Große Krisen prägen unser individuelles wie kollektives Verhältnis zur Welt, und sie verlangen uns Antworten ab, die sich nicht aus dem Status Quo generieren lassen. Schließlich lassen sich Probleme niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind, wie bereits Albert Einstein auf den Punkt brachte. Was nun?

Die Frage liegt nahe: Kann Achtsamkeitspraxis dabei helfen, transformative Bewusstheit, Resilienz und Zukunftsfähigkeit zu entwickeln? Oder hemmt sie im Gegenteil sogar Innovation, weil sie als Stressbewältigungsstrategie eingesetzt wird, die nicht an die strukturellen Missstände und Ursachen rührt? Oder, anders betrachtet, welche ethischen und systemischen Dimensionen müssen mitgedacht werden, um eine tiefgreifende und gesellschaftlich wirksame Transformation zu bewirken?

Auf dem zweitägigen Kongress in Berlin wurden auf Initiative der Identity Foundation, des Forum Humanum und der Willigis Jäger Stiftung verschiedene Perspektiven auf diese Themen beleuchtet und aktuelle Erkenntnisse aus der Achtsamkeitsforschung vorgestellt.

In einem interdisziplinären Kaleidoskop von Beiträgen wurde deutlich, welch kontrovers-fruchtbares Feld entstehen kann, wenn Expertisen in Bewusstseinsentwicklung und kollektiven Transformationsprozessen in Dialog treten. Auf diese Weise mögen einerseits Begrenzungen und falsche Hoffnungen aufgedeckt werden, allein durch Achtsamkeit und gute Absichten die Welt zu retten, andererseits können doch erst durch kritische Reflexionsprozesse und das Aushalten von augenscheinlichen Widersprüchen letztlich Synergien und wichtige Kulturimpulse erwachsen, für Erneuerung und Rückverbindung, für waches Leben und weises Handeln.

Transformation: Die Zukunft als Gegenwart gestalten

Das Spannungsfeld, das bei genauerer Betrachtung allein dem Begriff der Transformation innewohnt, wurde bereits im Eröffnungsvortag von Zen-Meister Dr. Alexander Poraj spürbar: Wesentlich für den Prozess der Transformation ist das verkörperte So-Sein im Jetzt, das Durchleben der Gegenwart. Jegliche Agenda, den jetzigen Zustand auf ein besser gedachtes Später hin zu überwinden, steht diesem Prozess im Wege. Und so mutet es auch fast wie ein Zen-Koan an – Transformation kann nur durch Gegenwärtigkeit im Hier und Jetzt geschehen.

Zwischen Selbstermächtigung und politischer Sprachlosigkeit

Die Wichtigkeit eines soziologischen Reflexionsprozesses und des kritischen Hinterfragens der Achtsamkeitspraxis zeigte Dr. Jacob Schmidt in seinem Vortrag auf. In seinen Thesen und Analysen untersucht er die Achtsamkeitsbewegung auf implizite Selbst- und Weltmodelle, und er warnt davor, dass die Popularität von Achtsamkeit letztlich in eine „zahnlose Selbstermächtigung‟ und politische Sprachlosigkeit münden könne, indem man strukturellen Krisen mit radikalem Individualismus und der Verheißung von persönlicher Freiheit und Selbstermächtigung begegne. Gesellschaftliche und politische Dimensionen müssten unbedingt einbezogen werden, damit die Welt nicht zum bloßen Epiphänomen verkomme.

Zukunftsfähigkeit entwickeln: Von der Ego- zur Eco-Perspektive

Denn Bewusstsein ist durchaus als politische und visionäre Kraft ernstzunehmen. Aus der Perspektive des Systems Thinking betonte Dr. Otto Scharmer, zugeschaltet aus dem MIT in Boston, die Unverzichtbarkeit von Bewusstwerdungsprozessen zur Transformation von Systemen. Wie können wir, statt bloß auf die Symptome zu reagieren, in einen transformativen Handlungszusammenhang finden, in dem wir die tieferen Ursachen verstehen und adressieren lernen?

In seiner Arbeit mit Veränderungsmachern findet Scharmer immer wieder bestätigt, dass die Wirkung einer Intervention abhängig ist von der inneren Verfassung des Handelnden. Dass diesem inneren Ort sozialer Wirklichkeitsentstehung so wenig Beachtung geschenkt wird, bezeichnet Scharmer als den blinden Fleck der Sozialwissenschaften. In der Methodologie des Awareness Based System Change spielen die Qualität der Aufmerksamkeit und die Intention hingegen eine entscheidenden Rolle: Um ein System tiefgreifend zu verändern, müsse man ihm ermöglichen, sich selbst zu sehen und zu spüren, und systemische Veränderungsprozesse ließen sich nur führen, wenn die Zukunft gespürt und als Möglichkeit anwesend werden kann. Diesen Prozess nennt Scharmer Presencing. In seiner Theory U stellt er ihn dem Prozess des Absencing gegenüber, das „sich abwesend Machen‟, und damit einhergehend eine soziale Grammatik der Co-Kreation versus der Trennung und Zerstörung.

Daher brauchen wir soziale Techniken, die uns ermöglichen, von der Ego- zur Eco-Perspektive zu wechseln, und wir müssen neue soziale Räume schaffen für die Vertiefung von wissenschaftlichen, demokratischen, dialogischen und co-kreativen Prozessen. Allerdings, so die ermutigende Botschaft, müssten wir nicht ohnmächtig darauf warten, dass die Mächtigen dieser Welt endlich handeln. Vielmehr brauche es einen Bewusstseinsschub von der Peripherie, sei es es nötig, dass wir alle die Agency ergreifen, über die wir eigentlich verfügen.

Ein erwachendes Mitwelt-Bewusstsein

Von einem ähnlich tiefgehenden und folgenreichen Perspektivwechsel sprach der Religionswissenschaftler und Zen-Lehrer Prof. Michael von Brück, genauer von seiner Wahrnehmung, dass sich weltweit eine Sensibilität für die Vernetztheit allen Lebens entwickele, wie es sie bislang noch nicht gegeben habe. Es komme darauf an zu spüren, dass wir mit allem Lebendigen verbunden sind, bis hin zum Sternenstaub. Liebe als Grundprinzip alles Lebendigen sei überall da, wo Bezogenheit entstehe. Die Zuversicht, dass im menschlichen Bewusstsein noch enormes Potential schlummere und dies auch nicht zuletzt unter dem evolutionären Druck von Krisen realisiert werden könne, durchzog von Brücks Vortrag. Die Frage sei, wie die Wahrnehmung, dass wir einander Mitwelt sind, anstatt eine Umwelt zu haben, wie diese Ahnung der Einheit in Verschiedenheit gesellschaftliche Realität werde. Zu erkennen sei diese Wandlung der Wirklichkeit bereits in den vielen weltweiten Initiativen, nachhaltige und am Gemeinwohl orientierte Lebensräume zu schaffen. Bewegend auf den Punkt brachte von Brück das existentielle Wagnis ins Neue mit den Worten seines Lehrer Peter Heidrich: Weg wird Weg im Gehen.

Ist Weisheit Transformation?

Der Philosoph und Journalist Prof. Gert Scobel stellte den besonderen Wert von Weisheit in komplexen Lebens- und Weltlagen ins Zentrum seines Vortrags. Weisheit setzte er gleich mit der Kunst der Transformation, also der Kunst der Herstellung von sich im Wandel bewährenden Verhältnissen. Und Weisheit sei demnach mehr als Wissen. Sie umfasse, dass die Wirklichkeit, in der wir leben, trotz aller scheinbaren Stabilität hoch veränderlich ist. Durch Komplexität sind die vielen einzelnen Elemente und Systeme durch unterschiedlichste Wechselwirkungen zu Einem verbunden. Und somit ginge es bei Transformation um eine gute Gestaltung von Komplexität, das heißt, wir müssen mit der Gleichzeitigkeit von komplexen Bedingungen umgehen, und wir müssen unentscheidbare Fragen entscheiden. Genau dazu dient Scobels Praxis der radikalen Mitte: den dritten Ort zwischen den Polen finden, den Weg zwischen dem Diskursivem und Nicht-Diskursiven, die freie Mitte. Auf diese Weise kann die Schulung unseres Bewusstseins maßgeblich dazu beitragen, gute Entscheidungen zu treffen in einer Welt, deren Komplexität wir zwar nie beherrschen, wohl aber weise mitgestalten können.

Mystik zwischen Tradition und Fortschritt

Den Ursprung meditativer Praktiken in mystischen und religiösen Traditionen thematisierte der Psychiater Prof. Stefan Brunnhuber. Dabei ginge es in den spirituellen Traditionen im Gegensatz zu so manchen Auslegungen der modernen Achtsamkeitsbewegung keineswegs um die Optimierung der persönlichen Gesundheit, sondern um die Steigerung und Veränderung des Bewusstseins und die Erlangung transpersonaler Bewusstseinszustände, zum Beispiel im Zen oder bei den Wüstenvätern. Ihrem Wesen nach seien die traditionellen Praktiken dabei weniger Karma aus der Vergangenheit als ein Zug aus der Zukunft. Die Bedeutung von transpersonalen Bewusstseinszuständen für Fortschritt und Entwicklung der Kultur mag also ein in Vergessenheit geratenes und unterschätztes Potential darstellen, dem man durchaus mehr Beachtung wünschte.

Resonanz als mediopassive Weltbeziehung

Eine humorvoll pointierte und zugleich kritisch differenzierende Perspektive auf die Soziologe der Achtsamkeitsbewegung skizzierte Prof. Hartmut Rosa. Bei allen Rufen nach Transformation stelle sich doch zunächst die Frage, was genau denn eigentlich wohin transformiert werden solle. Schließlich reiche es nicht, ein bisschen ökologischer und sozialer zu leben, ein tiefgreifender Paradigmenwechsel sei vonnöten, ja, nichts weniger als die Transformation der Weltbeziehung.

Im Hinblick auf die Popularität von Achtsamkeit sei daher eine entscheidende Frage, ob sie das bestehende Weltverhältnis bestätige und fortführe. Diene sie der Selbstoptimierung, sei sie lediglich eine Ressource im Wettbewerb, ein Resilienzfaktor im Hamsterrad. Dann würde Meditation zur Copingstrategie im dominanten Weltverhältnis, das auf Steigerung ausgelegt ist und letztlich auf Angst und Aggression beruht.

Demgegenüber stellte Rosa die Möglichkeit von Meditation als subversiver Praxis, als anderer Weise des Bezugnehmens auf die Welt. Wenn sich in der Meditation das Zentrum der Agency vom Subjekt weg in ein Geschehen verlagere, könne sie Ausgangspunkt werden für eine Form des Weltverhältnisses, bei dem Subjekt und Objekt sich nicht mehr so leicht trennen lassen; man ist gewissermaßen dazwischen. Daraus erwächst ein mediopassives Weltverhältnis, eine Resonanzbeziehung, in der man sich von etwas berühren lässt und darauf antwortet, sich auf eine dynamische Bewegung einlässt, in der etwas neues entsteht. Resonanz, auch das ist wichtig, lässt sich aber nicht erzwingen, ist per se unverfügbar; doch wenn sie eintritt, dann kann niemand sagen, was dabei herauskommt. Das etwas einen Eigensinn, eine eigene Agency hat, nicht beherrschbar und nicht immer verfügbar ist, sei eine Voraussetzung für eine Resonanzbeziehung. Und daher, so Rosas Forderung, müssen wir Resonanzräume politisch gestalten und die dispositionalen Voraussetzungen dafür schaffen, als Individuen und Kultur resonanzfähig zu werden.

Neues aus Forschung und Praxis: Was man mit Achtsamkeit machen kann (und sie mit uns)

Zahlreiche weitere spannende Beiträge gab es von Wissenschaftlern und Praktikern, die das Potential der Achtsamkeit in ganz unterschiedlichen Arbeitskontexten nutzen. So berichtete unter anderem Dr. Corina Aguilar Raab von dem Bildungsprogramm SEE Learning, das mittels erfahrungsbasiertem Lernen Menschen unterschiedlichen Alters erfolgreich dabei unterstützt, Gewahrsein, Mitgefühl und Engagement zu kultivieren.

Der Frage nachgehend, ob sich prosoziales Verhalten gezielt fördern lässt, stellte Prof. Anne Böckler-Raettig die Ergebnisse einer großen Längsschnittstudie vor, in der die Wirkung meditations-basierter Trainings auf verschiedene Aspekte von sozialem Verstehen und Prosozialität untersucht wurde, und die aufzeigen, dass besonders das Training von Mitgefühl sich positiv auf altruistisch motiviertes Verhalten auswirkt.

Prof. Myriam Bechtholdt berichtete von ihren Forschungsarbeiten zum Umgang mit existentiellen Herausforderungen. Während des ersten Lockdowns untersuchte sie die spannende Frage, wie Menschen mit dem enormen Verlust an persönlicher Freiheit zurechtkamen, und fand unter anderem heraus, dass Personen mit höherer dispositioneller Achtsamkeit die Krise besser bewältigt haben.

Entgegen des Trends zur Instant-Achtsamkeit, also immer kürzeren und knapperen Übungen im Zeitgeist der Effizienzmaximierung, beschäftigt sich Prof. Stefan Schmidt in seiner Forschungsarbeit mit den langfristigen Effekten von Meditation. Nachdem Achtsamkeit und Meditation, zunächst Ausdruck von Sehnsucht und Gegenbewegung, kulturell etabliert wurden, seien sie Teil der Kultur geworden und damit in die allgegenwärtige Beschleunigung hineingezogen worden. Aber gibt es nicht Wirkungen, die man realistischerweise nur als Früchte vieler, vieler Stunden der Praxis erwarten kann? Das Forschungsteam um Prof. Schmidt konnte zeigen, dass bei Meditierenden mit langjähriger Praxis Degenerationsprozesse des Gehirns langsamer fortschreiten, was im Hinblick auf die Prävention des epidemischen Gesundheitsproblems Demenz von großer Bedeutung ist. Außerdem berichtete er von besonderen Bewusstseinszuständen bei Langzeitmeditierenden, deren weitere Erforschung auf interessante Einblicke in das Potential des menschlichen Geistes hoffen lässt.

Quo vadis, Achtsamkeitsbewegung?

Weitgehendes Einvernehmen herrschte unter den Sprecher*innen hinsichtlich dessen, dass Achtsamkeitspraxis nicht mehr nur auf der rein individuellen Ebene betrachtet werden, und erst recht nicht als Trostpflaster oder gar Sedativum angesichts wahrlich beunruhigender Entwicklungen herhalten darf. Doch ist kulturelle Transformation Zukunft, vielleicht sogar Aufgabe von Achtsamkeit? Diese Frage stellte Moderator Dr. Thomas Steininger im Podiumsgespräch.

Liane Stephan, Mitbegründerin der Unternehmensberatung awaris, bewertete die Erfolgsgeschichte individueller Achtsamkeitspraxis als einen guten Start, die logische Folge sei, sie nun in die soziale und organisationale Ebene einzubringen. Doch erst wirklich verkörperte Achtsamkeit bewirke Veränderung. Im Rahmen der Inner Green Deal Initiative arbeitet ihr Team mit Führungskräften aus der EU-Kommision. Die Idee dahinter: Wenn wir innere Qualitäten entwickeln, kommt es zu einem Shift im Mindset. Schließlich, so der Verweis Liane Stephans auf Prognosen aus der Wissenschaft, wird die technologische Entwicklung weniger Einfluss haben als dieser Shift und der damit einhergehende Paradigmenwechsel.

Dr. Sonja Geiger wies darauf hin, dass die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeiten nicht die hoffnungsvolle Annahme bestätigen konnten, Achtsamkeit sei ein Selbstläufer und übertrage sich automatisch von der individuellen auf die soziale oder ökologische Ebene. Es gelte, die sozial-ökologische Transformation ganz aktiv zu gestalten und den Blick zu heben hin zu den Institutionen.

Auch Dr. Ulrich Ott sprach sich dafür aus, größere Perspektiven stärker in den Fokus bringen. Dazu brauche es einen Dialog zwischen Disziplinen wie Psychologie, Soziologie und Philosophie, und es brauche Visionäre. Im Hinblick darauf, dass innere Ziele, von außen, also von einem Programm wie dem Inner Development Goals, vorgegeben werden, äußerte er sich allerdings skeptisch, dies müsse man sehr behutsam angehen, um nicht in erster Linie Reaktanz zu erzeugen.

Deutlich wurden auch zwei grundlegende Dilemmata aller Bemühungen, Achtsamkeit in der Welt zu mehren: Gewahrsein lässt sich nicht verordnen, es kann nur aus sich selbst heraus entstehen. Und sich der Entwicklung innerer Qualitäten widmen zu können, ist ein Privileg, dass mehrheitlich den Menschen in wohlhabenden und hochentwickelten Ländern vorbehalten bleibt.

Abschließend sprach Thomas Steininger eine bislang eher wenig beachtete Form von Achtsamkeit an: Das Gewahrsein über gemeinsame Beziehungsräume mit hochkomplexen Dynamiken, die intellektuell durchdacht, aber auch sensitiv wahrgenommen werden können. Vielleicht ein bedeutungsvoller Fingerzeig Richtung Zukunft: Wir sind Beziehungsraum – wie nehmen wir ihn wahr, wie gestalten wir ihn?