Obadoba – Ganz oben und mit dem Bauch am Boden: Ein interreligiöses Experiment

Obadoba – Ganz oben und mit dem Bauch am Boden
Ein interreligiöses Experiment

Mike Kauschke

Was geschieht, wenn man Vertreter verschiedener Religionen auf einem Gipfel der Allgäuer Alpen versammelt und sie inmitten der Erhabenheit der Berge darüber sprechen lässt, was religiöses Leben heute bedeutet? Und was interreligiöse Verständigung bedeuten und bewirken kann. Heute, in Zeiten, in denen die Religionen weiterhin auch Anlass von Trennung oder gar Kriegen sind. Wie finden wir aus den verschiedenen Antworten auf die Erhabenheit unserer Existenz in einen Dialog darüber, wie ein Leben aussehen kann, das dieser Erhabenheit in religiöser Praxis Ausdruck verleiht? Was bedeutet es für das eigene individuelle Leben, für die Gemeinschaft, für unsere Verantwortung in der Welt?
Diesen Fragen widmeten sich Geistliche und Gläubige aus Christentum, Hinduismus, Buddhismus, Islam, Judentum und Bahai vom 12. bis 14. Juli beim ersten Gipfeldialog der Religionen in Oberstdorf – und darüber, auf dem Gipfel des Fellhorns. Die Initiatoren – Stefan Topp und Michael Lucke – wollten hiermit auch regional ein Zeichen für die Verständigung zwischen den Religionen setzen und luden unter anderem zum Austausch und zum gemeinsamen Gottesdienst.

Obadoba begann mit einem Dialog auf dem Gipfel vor etwa 80 geladenen Gästen. Der ehemalige Erzabt der Benediktiner Notker Wolf und Bhante Nyanabodhi, der Abt des Waldklosters und Nachfolger der buddhistischen Lehrerin Ayya Khema, sprachen darüber, was es bedeuten könne, nach Erleuchtung zu streben und trotzdem auf dem Boden zu bleiben. Moderiert von dem Religionswissenschaftler Martin Rötting erzählten die beiden Mönche in jahrhundertealten klösterlichen Traditionen über ihren Weg zum Glauben. Hier wurde deutlich, was für ein erschütterndes und existenziell ergreifendes Erlebnis der Weg zum gelebten Glauben ist. Erfrischend daran war, dass man beiden anmerkte, dass sie dem religiösen Ruf mit ganzem Herzen gefolgt sind. Und inspirierend sprachen sie aus ihrer klösterlich geprägten Sicht über die glückselige Kraft des Loslassens und die Quelle wahrer Zufriedenheit, die für sie in innerer Verbundenheit mit dem Göttlichen liegt – auch wenn sie dies anders bezeichnen. Hier sprachen beide auf Augenhöhe miteinander und betonten auch ihre eigene Erfahrung mit der Spannung geistlichen Strebens und Übens und der Erkenntnis, welche inneren Hindernisse oder Dämonen immer wieder einen Schatten vor das innerste Licht legen. „Der Bauch klebt am Boden“, kommentierte Notker Wolf trocken diese Erkenntnis auf dem Weg. Auch darin zeigte sich die Ernsthaftigkeit und existenzielle Anforderung religiöser Praxis als transformativer Weg, der für beide letztendlich auch in einer inneren Haltung der Demut mündet.
Zum Ende wurde der Dialog für Beiträge aus dem Publikum geöffnet. Die Beiträge lenkten den Fokus auf die religiöse Lebenspraxis im Raum der menschlichen Beziehungen und im Alltag. Eine Frage lautete, wie diese existenzielle Tiefe auch in einem „normalen“ Leben mitten in der Welt gelebt werden kann. Auch wurde nach der Zukunft der Religion gefragt und inwieweit sich die religiösen Traditionen selbst verändern müssen, um glaubwürdige Antworten auf Herausforderungen wie den Klimawandel geben zu können. Um diese Fragen zu vertiefen, war die Zeit leider zu kurz, und da sich mittlerweile ein Gewitter eingestellt hatte, musste auch darauf geachtet werden, dass alle rechtzeitig und sicher wieder mit der Bergbahn vom Gipfel kommen. Übrigens wurde Obadoba großzügig auch von dem Betreiber der Bergbahnen Oberstdorf unterstützt. Die atemberaubende Kulisse der Berge, der gewittrigen Wolkenformationen und ein verheißungsvoller Regenbogen begleiteten diesen Gipfeldialog. Dieses gemeinsame Sein inmitten der Kraft der Berge gab diesem Zusammenfinden eine besondere andachtsvolle Qualität.

Am nächsten Tag fanden sich etwa 80 Teilnehmer*innen auf dem Boden, im Tal wieder, im Evangelischen Gemeindezentrum in Oberstdorf. Dieser Tag war dem gemeinsamen Kennenlernen verschiedener religiöser Traditionen in Vorträgen und Workshops gewidmet. Begonnen wurde er aber von einem großen, integralen Blick auf das Phänomen Religion. Die evangelische Theologin und Autorin von „Integrales Christentum“ Marion Küstenmacher führte in das Integrale Modell nach Ken Wilber ein, mit einem besonderen Blick darauf, welche tieferen Schlüsse sich daraus für ein zeitgemäßes religiöses Leben ergeben. Marion Küstenmacher erklärte zum Beispiel, wie sich unser Verständnis und Erleben des Göttlichen im Verlauf der individuellen und kollektiven Bewusstseinsentwicklung verändert.
Ihr folgte die islamische Religionspädagogin Gönül Yerli, die seit 2005 Vizedirektorin der Islamischen Gemeinde Penzberg ist und sich im interreligiösen Dialog engagiert. Sie gab eine berührende Einführung in den Islam, die geprägt war von ihrer eigenen existenziellen Verwurzelung in ihrem Glauben und der Offenheit, andere Blickwinkel auf das Mysterium zuzulassen. Danach sprach Bernhard König, Komponist, Autor und Interaktionskünstler, über TRIMUM, ein interreligiöses und interkulturelles Musikprojekt. Er zeigte eindrücklich mit zwei Videos, wie sich Menschen unterschiedlicher Religionen im Kontext von Musik nicht als jeweils getrennte Andersgläubige wahrnehmen, sondern eine menschliche Begegnung auf Herz- und Augenhöhe stattfinden kann.
Am Nachmittag folgten Workshops, die sich auch der Praxis von Yoga, Qigong, Meditation, Gesang und Dialog widmeten. In einem Workshop wurden die Inhalte des Morgens in einem Dialog vertieft. Hier zeigte sich die Berührtheit vom Geheimnis, das dem Religiösen innewohnt, als der Boden, auf dem ein achtsames, wertschätzendes Gespräch möglich wurde. Für einen nächsten Gipfeldialog, der möglicherweise 2021 stattfinden wird, würden mehr solcher Begegnungsräume eine Möglichkeit sein, den Dialog direkt zu üben und weiterzuentwickeln.

Im Anschluss an die Workshops kamen die Perspektiven verschiedener religiöser Wege und Erfahrungsräume in einer Podiumsdiskussion zum Thema „Religion und Politik“ mit Vertretern der Religionen und dem Landrat a. D. Gebhard Kaiser zur Sprache. Ein Thema war die Reflexion, wie sie im Leben ihres Glaubens beruflich und/oder privat Erfolge oder auch Misserfolge erfahren. Die Diskussion war sehr lebendig und die vollkommen unterschiedlichen Schilderungen zeigten, dass sich der Glaube erst im konkreten Leben mit all seinen Höhen und Tiefen wirklich ausdrücken kann.

Obadoba wurde am Sonntag mit einem interreligiösen Gottesdienst auf dem Gipfel des Fellhorns beschlossen. Vertreter der Religionen sprachen Gebete ihrer Traditionen oder stimmten Lieder an. Kinder der vierten und fünften Klasse stellten die Ergebnisse einer Straßenumfrage unter Gleichaltrigen vor, über ihre Wünsche an die Religion. Und zum Abschluss wurden die etwa 400 Anwesenden gebeten, ihre Wünsche auf kleine Fähnchen zu schreiben, die dann aufgehängt wurden.

Diese Feier im Umkreis der Berge machte spürbar, woraus alle Religionen im Grunde schöpfen: einem Empfinden für das Mysterium unserer Existenz und dem Wunsch, aus dieser Verbundenheit zu leben und zu lieben. Und der Dialog, was dies in der heutigen Zeit bedeuten kann, ist wichtig für uns alle. Deshalb hat Obadoba hoffentlich eine Zukunft, auch gerade, weil das verbindende Element zwischen den Religionen im ländlichen Raum seltener zur Sprache und in die Erfahrung kommt.

evolve zum Thema: DIE ZUKUNFT DER RELIGION

Ausgabe 21 / 2019: DIE ZUKUNFT DER RELIGION