Shirin Abedinirad: Die Kraft, den Himmel zu bewegen

 

Shirin Abedinirad bei der Performance “Runway in Railway”, Teheran

Die Kraft, den Himmel zu bewegen

Ein Interview mit Shirin Abedinirad

Die Ausgabe 21 von evolve konnten wir mit Abreiten der jungen iranischen Künstlerin Shirin Abedinirad gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.

e: Wie bist du zur Kunst und deiner jetzigen Arbeit gekommen? Was hat dieses Interesse inspiriert?

Shirin Abedinirad: Es begann mit meinen Eltern, sie wollten, dass ich Künstlerin werde und brachten mich zu Malwettbewerben und ähnlichem. Aber ich wollte Elektroingenieurin werden. Meine Lehrer in der High School sprachen schließlich mit meinem Vater und waren auch der Ansicht, dass ich Kunst studieren sollte. So kam ich dazu, in der High School und zwei Jahre an der Universität Grafikdesign zu studieren. Aber damit war ich nicht glücklich und wandte mich dem Modedesign zu, aber auch damit war ich nicht zufrieden, weil ich mich durch diese Medien nicht wirklich ausdrücken konnte. Dann begann ich, zu verschiedenen Workshops zum Beispiel zu Video-Kunst und Performance-Kunst zu gehen.

In einem dieser Workshops kam mir die Idee: Ich reise in die Wüste und werde dort etwas Neues ausprobieren. Ich dachte, was ist das Besondere an der Wüste? Es gibt dort kein Wasser, also könnte ich mit Wasser arbeiten. Vielleicht könnte ich Wasser in einem Tank hinbringen, aber dann wurde mir klar, dass es sofort im Sand verschwinden würde. Ich könnte dort Wasser malen, überlegte ich. Aber dann fiel mir ein, dass die Wüste bereits voller Blau ist – im Himmel. Ich fragte mich: Wie kann ich das Blau herunterholen? So kam ich auf die Idee, mit Spiegeln in der Wüste zu arbeiten und begann mit Installationen und Land-Art.

Shirin Abedinirad, House in the Wind

e: Und diese Erfahrung brachte dich dazu, dich mit deiner Kunst einer bestimmten Richtung zuzuwenden? Ich habe gesehen, dass du mit vielen unterschiedlichen Kunstformen wie Installationen, Videos, Performances gearbeitet hast.

SA: Diese Arbeit in der Wüste war erstmal nur ein einzelnes Projekt, ich spezialisierte mich damit nicht auf Land-Art, denn damals war ich mit Videokunst und Performances beschäftigt. In meiner Videokunst und in den Performances nutzte ich immer mein eigenes Abbild, meinen Körper, mich als Person. Vielleicht, weil ich damit in mir selbst Schönheit fand. Aber nachdem ich in die Wüste gegangen war, bemerkte ich die Schönheit der Natur und wie wenig ich bin, angesichts dieser Größe. Ich bemerkte die Kraft der Natur. Danach benutzte ich selten mein Abbild in meinen Arbeiten und arbeite in meinen Installationen nicht oft mit Menschen. Mir ist es wichtiger, die Verbindung mit der Natur zu vermitteln, besonders in meinen Fotos. Die Menschen können meine Installationen sehen und ihre eigene Erfahrung damit machen. Aber mein erstes Publikum in den meisten Werken meiner Landschaftskunst ist die Natur.

Ich ziehe ein normales Publikum dem Kunstpublikum vor, das Landschaftskunst bereits kennt. Normale Leute machen eine ursprünglichere Erfahrung mit meiner Kunst. Gerade in der letzten Woche machte ich eine Installation in Teheran mit runden Spiegeln auf dem Boden, der mit gefallenem Laub bedeckt war. Ein kleiner Junge lief darauf zu und hatte Angst, näher zu kommen, weil er dachte, es sei ein Brunnen oder ein See und er könnte hineinfallen. Er schrie und seine Mutter zeigte ihm, dass es Glas war. Sie berührte das Glas und sagte: »Hab keine Angst, es ist ein Spiegel, es ist Glas.«

e: Gibt es eine bestimmte Antriebskraft oder einen bestimmten Impuls, dem du folgst, wenn du als Künstlerin deine Arbeit konzipierst? Gibt es ein bestimmtes Thema, das du vermitteln möchtest? Oder arbeitest du eher intuitiv? Wie entfaltet sich deine Arbeit für dich?

SA: Mehr als alles andere denke ich, dass ich das Leben betrachte. Ich betrachte das Leben direkt und körperlich. Ich höre nicht so viel Musik. Ich schaue nicht so viele Filme, ich lese nicht so viele Bücher. Aber ich lese das Leben. Ich liebe es sehr, das Verhalten der Menschen zu beobachten, zu versuchen zu verstehen, wie ihre Wahrnehmung funktioniert, die Natur zu beobachten und meinen eigenen Film zu finden, mein eigenes Buch und meine eigene Lebensmusik.

Jedes Mal, wenn ich diesen Film betrachte, dieses Buch lese oder dieser Musik zuhöre, entdecke ich etwas Neues. Manchmal schockiert es mich, manchmal fühle ich mich schlecht dabei. Es kann sein, dass ich es unmittelbar mit meinem Publikum teile, manchmal wird es nur eine Skizze und ich verfolge es nicht weiter.

Einer meiner Träume ist es, eines Tages einen Film zu machen. Aber wenn ich fühle, dass ich die Philosophie meines Lebens nicht gefunden habe, wie kann ich dann einen guten Film produzieren? Einen guten Film zu machen heißt, dem Publikum einen neuen Blick aufs Leben zu schenken. Ich möchte die Zeit der Leute nicht verschwenden.

e: Möchtest du die Menschen, die deine Kunst betrachten oder die mit dir in einer Performance interagieren, zu einer Reaktion oder einem Prozess inspirieren? Wie siehst du deine Beziehung zum Publikum bei deiner Arbeit?

SA: Während der Performances wollte ich direkten Kontakt zu meinem Publikum, ich wollte die Reaktionen sehen und ich wollte, dass sie ein Teil meines Kunstwerkes werden. Meine erste Performance fand in der Metro statt. Jeden Tag fuhr ich mit der Metro zur Universität und die Leute sahen traurig aus, sprachen mich nicht oft an und ich wollte wissen, was in ihnen vorging. Ich spürte die Inspiration, mehr über sie und ihr Leben zu erfahren, und nutzte die Performance, um einige Momente mit ihnen zu verbringen. In der Folge machte ich einige Performances auf Metrobahnhöfen über Identität und Frausein.

Das waren für mich wundervolle Momente. Aber dann veränderte sich etwas in mir, sodass ich keine Performances mehr machen konnte. Wie ich schon gesagt habe, nach meinen ersten Land-Art-Arbeiten wollte ich, dass die Natur und nicht der Mensch zum Inhalt meiner Kunst wird.

Ich erfahre, wie sich durch meine Installationen die Wahrnehmung der Menschen verändert. Dabei schaffe ich nicht wirklich etwas Neues, weil beispielsweise die Reflexion des Himmels schon existiert, wie auf einem See. Es ist nichts, was ich kreiert habe, es ist lediglich Teil der Natur. Aber in meinen Fotos können die Leute zum Beispiel die Natur der Reflexion erforschen, wenn sie auf dem Boden einen Spiegel sehen. Sie betrachten die Natur und denken tiefer darüber nach. Auf diese Weise teile ich meine Sicht mit ihnen. Und dann liegt es an ihnen, was sie mit dieser Sicht in ihrem Leben tun. Ich bin für sie eine Reflexion der Natur. So finden sie auch ihre eigene Reflexion.

Mich inspiriert persische Literatur, besonders Rumi und die Geschichten, die er mit seinen Gedichten erzählt. Es gibt eine Geschichte, in der ein hässlicher Mann in die Wüste geht und dort ein Stück Metall findet. Und er beginnt, es zu säubern und zu polieren. Schließlich wird es ein Spiegel und er sieht sein hässliches Gesicht. Er wirft es weg und sagt: »Weil du hässlich warst, haben dich die Menschen verstoßen wie Abfall.« Und dann sagt Rumi: »Wie du das Leben siehst, hängt von deiner Sicht ab. Wenn du es auf schöne Weise ansiehst, wird es schön. Wenn du denkst, es sei hässlich, wird es hässlich.« Ich möchte mit meinem Publikum eine tiefere spirituelle Beziehung eingehen. Aber das hängt von ihnen ab, wie sie diese Spiegel und die Natur betrachten.

e: Wie würdest du diese spirituelle Verbindung beschreiben?

SA: Ich denke, diese spirituelle Verbindung hat mehrere Ebenen, abhängig davon, in welchem Maße ein Mensch sein Herz poliert hat. Im Iran wurden Spiegel für das Innendesign von Moscheen benutzt. Sie wurden in kleine Stückchen geteilt, um einem Bild mehr Ablenkung zu geben und es nicht erkennbar zu machen. Ich nutze große Spiegel, um eine tiefere Verbindung mit der Natur zu finden, und die Reflexion erlaubt meinem Publikum, Teil davon zu sein und es selbst zu erforschen, um zu entdecken, wie sie ein Teil der Natur sind.

Aber für verschiedene Arbeiten gibt es unterschiedliche Interpretationen, und jede(r) kann sie so interpretieren, wie er oder sie möchte. Ich möchte keine bestimmte Botschaft vermitteln. Einige Leute denken, für konzeptuelle Kunst braucht man zunächst ein Konzept und gestaltet dann erst eine Installation oder ein Kunstwerk. Für mich ist das Konzept mein Leben und wie ich es mit meiner Seele erfülle. Daraus kann dann eine Idee entstehen. Und manchmal brauche ich selbst Zeit, um meine Arbeiten zu verstehen.

Shirin Abedinirad, Narcissus

e: Beim Betrachten deiner Installationen und Videos fiel mir auf, dass du oft mit Reflexionen des Himmels auf der Erde und der Reflexion von Himmel, Erde und Wasser arbeitest. Reflexionen können als Interaktion oder als Verbindung verstanden werden. Was interessiert dich besonders an der Arbeit mit Reflexionen?

SA: Zu allererst möchte ich mich bedanken, dass du von Reflexion sprichst und nicht von Spiegeln. Denn das ist in meiner Kunst sehr wichtig. Normalerweise fragen die Leute: »Warum verwenden Sie Spiegel?« Dann sage ich: »Nein, ich verwende keine Spiegel, ich verwende Reflexionen.« Diese Reflexion kann ein Effekt für ein Video sein, das so etwas wie einen Spiegel eines Bildes herstellt. Die Reflexion kann durch ein Meer entstehen, einen See, oder mittels eines Spiegels, Metalls oder Steins.

In meiner Arbeit möchte ich nicht irgendwelche Elemente zur Natur hinzufügen. Mit Spiegeln füge ich nichts zur Natur hinzu. Ich bearbeite nur das, was schon da ist. Ich sehe den Himmel, der eine Reflexion schafft. Ich habe nicht den Himmel geschaffen, er war bereits da. Aber ich bewege ihn dahin, wo ich ihn haben will. Eine meiner Arbeiten heißt »Turm von Babel«, darin experimentiere ich mit der Kraft, den Himmel und die Natur zu bewegen. In dieser Arbeit bewegen sich die Spiegel und geben mir die Kraft, die Welt zu bewegen. Die Welt hat eine Wirkung auf uns; Regen macht uns nass, Erdbeben bewegen uns. Aber mit den Reflexionen können wir auch eine einfache Bewegung hervorbringen – oder Berge bewegen, den Himmel bewegen und zum Erdboden bringen. Es ist sehr magisch, wenn wir diese Illusionen schaffen, weil wir die Regeln der Natur brechen. Deshalb hatte zum Beispiel dieser kleine Junge Angst vor dem Spiegel. Wir haben uns an Spiegel und an unsere Spiegelbilder gewöhnt. Aber es sind keine einfachen Dinge – sie haben die Kraft, die Welt zu bewegen.

e: Sie haben diese Kraft, weil sie unsere Weltsicht verändern können. Etwas, das weit weg oder dort oben ist, kann hier unten sein, wie ein Spiegel, der den Himmel reflektiert.

SA: Es kann uns weit über das Gewohnte hinaustragen. Es bringt den Menschen die Botschaft: Vielleicht sollte ich nicht glauben, was ich sehe. Vielleicht sollte ich die Leute nicht aus meiner Sichtweise beurteilen. Du kannst auch die Botschaft bekommen, dass nichts in der Welt konstant ist. Das Wichtigste für mich ist, dass die Wahrnehmung der Menschen verändert wird. Ich möchte mein Publikum verändern, indem ich eine andere Sichtweise zeige; so können die Menschen andere Sichtweisen in ihren Leben finden.

Ich gestaltete beispielsweise auch eine Pyramide aus TV-Geräten. Was wir im TV sehen, ist nicht die Realität. In der Installation können wir die Reflexion der Natur von vier Seiten auf den Fernsehbildschirmen sehen. Aber es ist besser, sich umzudrehen und die Realität zu betrachten, auch wenn wir nicht immer unseren Augen trauen sollten. Ich denke, wir sollten zuerst unser Herz reinigen, und dann die Welt auf diese Weise beobachten. Wir sollten die Wirklichkeit mit unseren Herzen betrachten und nicht mit unseren Augen.

e: Das erinnert mich auch an Rumi und die Spiritualität der Sufis, die dich zu inspirieren scheint. Da das Thema unseres Magazins »Die Zukunft der Religion« ist, würde mich interessieren, was Religion für dich bedeutet, insbesondere auch für jemanden, die im Iran aufgewachsen ist.

SA: Religion ist etwas Schwieriges für mich, weil ich in einem religiösen System aufwuchs. Ich wurde als Muslima geboren. Ich betete und hörte die Worte der Mullahs. Aber mit jedem Jahr hinterfragte ich diese Art von Religion immer mehr. Etwas über Religion zu hören, macht mich traurig. Wenn es eine Religion gibt, beginnen die Leute, sich gegenseitig zu verurteilen. Sie sagen: »Wenn du Muslim bist, bist du ein Terrorist. Wenn du Muslim bist, erhängst du Menschen. Wenn du Muslim bist, bist du Araber.« Alle Religionen auf der Welt trennen die Menschen, sie kategorisieren uns. So werden viele Menschen zu Rassisten, und das ist der Grund für sehr viel Leid in der Welt.

Was mich betrifft, würde ich sagen, dass mein Gott die Natur ist. Ich glaube, dass es eine Kraft gibt, die größer ist als ich und die manche Menschen vielleicht Gott nennen. Aber ich denke nicht, dass die Menschen in der Zukunft Religionen brauchen. Ich glaube zutiefst, wenn wir unser Herz reinigen, dann können wir bereits verstehen, was gut und böse ist. Wenn wir in einer Gesellschaft leben, wissen wir bereits, was gutes und schlechtes Handeln ist.

e: Wie ist es für dich als Frau und als junge Künstlerin, im Iran zu leben?

SA: Als Frau habe ich überall auf der Welt Probleme. Die Menschen denken, dass wir als Frauen nicht selbständig sein können, dass uns Männer helfen sollten. Wenn man als Künstlerin mit einem Kurator zusammenarbeitet, kommt es oft vor, dass er Kontrolle ausüben will. Das ist etwas, was mich traurig macht – und ich hatte die schlimmste Erfahrung in Italien, nicht in meinem Land.

Aber in meinem Land kann ich einige meiner Werke nicht zeigen, wenn sie zum Beispiel Nacktheit beinhalten. Wenn ich auftrete, muss ich eine bestimmte Kleidung tragen und mein Haar bedecken. Deshalb habe ich manchmal Angst, meine Kunstwerke zu veröffentlichen. Aber ich liebe es, im Iran zu leben, weil ich meine Inspirationen von hier bekomme. Ich denke, ich sollte hierbleiben.

Das Haar zu bedecken oder nicht, ist nicht das größte Problem, das wir haben. Wenn wir über Freiheit sprechen, sind die wichtigsten Probleme, mit denen mein Volk konfrontiert ist, der drohende ökonomische Kollaps und Krieg. Wenn man Angst hat, das Leben zu verlieren, interessiert einen dann, ob man ein Tuch auf dem Kopf hat? Wenn ich kleine Kinder sehe, die bis spät in die Nacht draußen bleiben und Kleinigkeiten verkaufen, um ihre Familie zu ernähren, bereitet mir das sehr große Sorgen. Das sind die dringlicheren Probleme in meinem Land.

SHIRIN ABEDINIRAD studierte Grafikdesign und Modedesign an der Dr. Shariaty University in Tehran. 2014 erhielt sie ein einjähriges Stipendium im United Colors of Benetton’s Fabrica Research Center und veröffentlichte das Buch »Fashion & Conceptual Art«.
www.shirinabedinirad.com