Ein Interview mit Wael Farouq: Der Islamische Staat hat eine klare Ideologie, der Westen lebt in Widersprüchen

Die Terroranschläge von Paris und andere Anschläge radikaler Islamisten wie in Ankara, Beirut oder Mali halten die Welt in Atem. Was ist für unsere Länder und für jeden von uns eine angemessene und weise Antwort darauf – insbesondere, wenn wir die momentane Situation auch als eine Herausforderung für unsere individuelle und kollektive Entwicklung in einer globalen Welt sehen? Diese Frage beleuchten wir in drei Artikeln mit zum Teil auch recht unterschiedlichen Antworten oder Sichtweisen: Wael Farouq: Der Islamische Staat hat eine klare Ideologie, der Westen lebt in Widersprüchen; Amir Ahmad Nasr: Wie können wir mitfühlend (nicht) töten?; Otto Scharmer – Paris: Das Herz unserer Gemeinschaft verwandeln

10-memorial-AFP-GettyDer Islamische Staat hat eine klare Ideologie, der Westen lebt in Widersprüchen

Die Ideologie von ISIS kann bezwungen werden. In diesem Interview erklärt evolve-Autor Wael Farouq, Professor an der Università Cattolica del Sacro Cuore in Mailand, wie das möglich ist.

Professor Farouq, wie können wir die dramatischen Ereignisse vom 13. November verstehen?

Was geschehen ist, sagt uns im Grunde zwei Dinge. Das Erste ist, dass ISIS eine Ideologie und ein klares Ziel hat: die Zwischenbereiche zu beseitigen, die das Ausmaß des Dialoges zwischen der christlichen und muslimischen Welt repräsentieren. Die Terroristen haben nicht die Gebäude der französischen Regierung angegriffen. Ihre Ziele waren ein Restaurant, ein Stadion, eine Konzerthalle. Wenn man wahllos um sich schießt oder an solchen Orten Bomben zündet, dann weiß man nicht, ob man einen Franzosen, einen Italiener, einen Moslem oder einen Katholiken tötet. Denn es sind die Orte, an denen Massenveranstaltungen stattfinden, und wo die Menschen gemeinsam essen, Musik und Fußball genießen. Jeder könnte betroffen sein. Aber die Terroristen können sich sicher sein, dass sie Bereiche getroffen haben, die Beziehungen und Interaktionen zwischen Menschen aus unterschieldichen Kulturen und Religionen ermöglichen und unterstützen. Das sind die Zwischenbereiche, die ich vorher angesprochen habe.
Erinnern Sie sich daran, dass die erste öffentliche Botschaft, die ISIS veröffentlicht hat, alle Muslime in der Welt aufgefordert hat, sich dem sogenannten Islamischen Saat anzuschließen. Diese Ideologie hat das Ziel, die Welt in schwarz und weiß zu trennen. Das ist auch der Grund dafür, dass sich ISIS so vehement gegen die Orte der Schönheit wendet, wie das Irakische Nationalmuseum oder die Stätten von Palmyra. Sie zerstören die Schönheit, weil Schönheit einen kraftvollen Zusammenhalt bietet, der die Menschen jenseits ihrer Nationalität oder religiösen Glaubenssätze vereint. Nur so lässt sich diese Gewalt gegen archäologische Stätten erklären. Es ist in der Tat eine klare Strategie. So klar, dass sie im Daqib, dem Magazin von ISIS, und in verschiedenen Botschaften offen formuliert wurde: Diese Zwischenbereiche sollen zerstört werden. Wir aber müssen die Zwischenbereiche unbedingt verteidigen.

Was ist der zweite Punkt?

Der zweite Punkt ist offensichtlich: Der Westen weiß nicht, wie er auf den ISIS reagieren soll.

Was meinen Sie mit „der Westen“?

Das ist die Schlüsselfrage. Der Westen ist keine geografische Entität. Der Westen sollte ein Zusammenschluss von Werten sein. Aber stattdessen lebt er in Widersprüchen, die so groß sind, dass der eigene Kern, die eigene Essenz nicht mehr erkannt wird.

meeting_Farouq
Wael Farouq

Welche Widersprüche sind das?

Die Koalition gegen den ISIS umfasst 60 Staaten, aber in den letzten Jahren hat sich die Expansion des Islamischen Staates ständig erweitert. Wie ist das möglich? Einer der Verbündeten von Europa und den USA ist Saudi-Arabien, ein Land, das die Wiege der Ideologie des Wahhabismus ist. Auch der ISIS vertritt den Wahhabismus, aber mit Waffen. Der Westen macht also über Saudi-Arabien in gewissem Sinne weiterhin Geschäfte (Waffen und Öl) mit dem Islamischen Staat, obwohl ihm auf dem Papier der Krieg erklärt wurde.
Am Tag vor den Massakern in Paris explodierten in einer Einkaufsstraße in der libanesischen Hauptstadt Beirut zwei Bomben in einer Gegend, die vor allem von schiitischen Muslimen bewohnt ist. Wie in Paris haben die Selbstmordattentäter des Daesh (die arabische Abkürzung für ISIS) aufeinander abgestimmte militärische Angriffe ausgeführt. Es waren zwei Explosionen in Menschenmengen, die nur einige Minuten voneinander gezündet wurden, um möglichst viele Menschen zu töten und zu verletzen. Der Westen nahm kaum Notiz davon. Wenn wir dem menschlichen Leben einen Wert geben, dann können wir keine Ausnahmen machen. Der Kampf gegen ISIS muss an allen Fronten geführt werden. Wenn der Westen das nicht tut, verleugnet er seine eigenen Werte und wird unklar, widersprüchlich und schwach. Bis vor Kurzem wurde Al-Qaida als der Todfeind bezeichnet. In Syrien werden sie nun zu den moderaten Muslimen gezählt. Ich wiederhole: Wie ist das möglich? Wenn die momentanen Interessen alles andere bestimmen und wichtiger sind als Prinzipien, dann verliert auch alles andere seine Glaubwürdigkeit. Alles andere wird seinen Sinn verlieren. ISIS hat klar definierte Ziele. Der Westen lebt in ständigen Widersprüchen.

Repräsentiert ISIS den Islam?

Er wird ganz sicher aus einer Interpretation des Islam gespeist. Das kann man nicht leugnen. Genauso wahr ist aber, dass es viele Muslime gibt, die zur Gestaltung der westlichen Kultur beitragen. Auf hervorragende Weise spielen sie eine konstruktive Rolle in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens – und ich zähle mich dazu. Es sind Männer und Frauen, die den Islam repräsentieren.
Niemand kann einen guten Islam von einem schlechten Islam unterscheiden. Diese Unterscheidung muss man bei den Menschen treffen, basierend auf dem, was sie tun, und dem, was sie sagen.

Was halten Sie von der Entscheidung der französischen Regierung, aus Sicherheitsgründen die Grenzen zu schließen?

Die 30 Millionen Muslime, die in Europa leben, zu vertreiben, wird nicht möglich sein und ist auch nicht sinnvoll. Die Integration der Muslime in Europa, ihre Teilnahme an den westlichen Gesellschaften ist die stärkste Waffe in den Händen des Westens, um die islamistische Ideologie zu schlagen. Wir müssen verstehen, dass die muslimischen Immigranten, die nach Europa kommen wollen, nicht nur etwas zu essen suchen, sondern sich von der westlichen Kultur angezogen fühlen. Ihnen die Tür vor der Nase zuzuschlagen, erscheint mir nicht sehr klug.

Wird Europa den Mut aufbringen, unpopuläre Entscheidungen zu treffen?

Sie haben die Entscheidung von Hollande angesprochen, die Grenzen zu schließen. Ich möchte daran erinnern, dass in den gleichen dramatischen Minuten viele Pariser die Türen ihrer Wohnungen und Häuser für die Menschen geöffnet haben, die Schutz suchten. Ich erwarte nicht viel von den Regierungen oder Institutionen Europas. Aber ich glaube, dass die Bürger des Westens, Christen und Muslime, den Schlüssel in der Hand haben, um der Unklarheit und Widersprüchlichkeit zu entkommen. ISIS wird dadurch bezwungen, dass wir die Werte des Westens wirklich umarmen und würdigen: die Schönheit der Kunst, Dialog, Koexistenz, Weltbürgertum, die Freude am Zusammenleben und offene Grenzen.

Wael Farouq ist ein ägyptischer Intellektueller, er war Assistenzprofessor für Islamwissenschaften in Kairo und leitet Tawasul, ein Zentrum für den Dialog zwischen den Kulturen. Er ist Autor mehrer Bücher und zurzeit Gastprofessor an der Università Cattolica del Sacro Cuore in Mailand. Twitter: @FarouqWael

Das Interview führte Stefano Arduini.

Es ist in englischer Sprache auf der Webseite Vita International erschienen.

Ein Beitrag von Wael Faroq ist auch in evolve 08 erschienen:

EINE WELT IM DIALOG – Begegnungen mit uns selbst
Hier finden Sie das Inhaltsverzeichnis, das Editorial und den Leitartikel als Leseprobe.