Andreas Weber: Mut zur Wunde

Mut zur Wunde

Andreas Weber

Den vorläufigen Höhepunkt meiner Arbeit als Ökophilosoph erreichte ich vor ein paar Wochen auf einer Fridays4Future-Demonstration im Berliner Invalidenpark. Nachdem alle ein paar Mal »Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Zukunft klaut« gebrüllt hatten, sagte die Rednerin am Mikrofon: »Wir brauchen hier vor allem auch die alten weißen Männer!« Zwei Schülerinnen, vielleicht zehnte Klasse, drehten sich um und schauten mich an. Das war mein Realitycheck.
Ich habe in den letzten Wochen mit vielen anderen alten weißen Männern gesprochen, und auch mit Frauen. Immer trägt mich in so ein Gespräch meine Begeisterung darüber, dass die Kinder und Jugendlichen auf ihr Herz hören, das ihnen sagt, was wir alle längst wissen, und das sie nun mit Recht herausschreien. Die Kinder sagen die Wahrheit wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern: Der Herrscher ist nackt. Wir richten die Welt zugrunde, und die alten Männer (und damit meine ich jetzt alle, die dem Augenschein widersprechen, indem sie auf ihre Expertise über die vorgebliche Effizienz der Welt pochen), weisen den Weg.
Ich bin stets überrascht, wenn meine Begeisterung über die Kinder mit Hohn beantwortet wird. Wir haben alle den Vorwurf gehört, sie wollten Schule schwänzen. Wir kennen die Forderung, sie sollten erstmal lernen, wissenschaftliche Fakten zu produzieren. Neulich sagte mir jemand, hinterher hätte Müll auf dem Platz gelegen, und damit hätten die Kinder ihr Anrecht auf die Wahrheit verwirkt.
Ich habe mich lange gefragt, was die alten weißen Männer (jeden Geschlechts und jeder Hautfarbe) so hart macht. Haben sie im letzten Sommer nicht gebangt, als es im Oktober noch immer nicht geregnet hatte? Lässt sie der Befund kalt, dass in hundert Jahren die Gruppe der Insekten in Gänze ausgestorben sein wird, schreibt man ihr derzeitiges Schwinden fort? Sehen sie nicht? Wollen sie nicht sehen? Warum nicht?
Ich fürchte, es ist Scham. Ihr Hohn überdeckt jene Scham, die ein Vater empfindet, wenn ihn sein Kind damit konfrontiert, dass er es nicht hat sein lassen, sondern zu seinen Zwecken verbiegen musste. Toxische Scham löst sich selten in heilenden Tränen. Sie will sich verbergen und muss dafür leugnen. Je schlimmer es weh tut, desto stärker wird die Verleugnung, desto größer die Brutalität. Wer toxische Scham empfindet, dass er zur Menschlichkeit nicht in der Lage war, tendiert dazu, anderen ihre zu entreißen.
Davor sollten wir uns alle fürchten. Wir müssen fürchten, dass uns die Menschlichkeit wieder entrissen wird. Es könnte das Kennzeichen unserer Zukunft in den Ruinen des Anthropozäns werden. Der Hohn der alten weißen Männer ist ein Vorgeschmack. Ein Vorgeschmack darauf, dass die ökologische Wahrheit zu benennen dabei ist, ein Verbrechen zu werden. Schon jetzt leben Umweltjournalisten, die versuchen, die Machenschaften der Konzerne (der alten weißen Männer) aufzudecken, vielerorts gefährlicher als Reporter, die aus Kriegen berichten.
Veränderung ereignet sich nicht (obwohl das die »Nachhaltigkeitsszene« noch glaubt) durch Masterpläne für eine bessere Welt, sondern allein, indem man die Wahrheit sagt. Solange die Erde schwieg und alles ertrug, konnte man die Kinder, die sagten, der Kaiser sei ja nackt, getrost ignorieren. Jetzt aber, wo in manchen Regionen Menschen auf die Äste der Apfelbäume klettern müssen, weil es keine Bienen zur Bestäubung mehr gibt, jetzt, wo die Erde selbst die Wahrheit sagt, muss diese Wahrheit verboten werden.
Trauma-Abwehr heißt verschweigen, heißt diejenigen mundtot machen, die das Schweigen brechen. Wir werden damit zu rechnen haben, dass wir nicht mehr sagen dürfen, was vor unserer aller Augen steht: Die entleibte Flur, der Tod der zur Extraktionssteppe und zum topographischen Cyborg geklonten Landschaft, das Schweigen in der Mittagsluft des Sommers, das einstmals Summen war.
Im Juni 2019 beendete Philip Alston, der UN-Sonderbeauftragte für Menschenrechte, einen UN-Report zu den Folgen des Klimanotstandes. Er halte es für wahrscheinlich, schreibt Alston, dass die Menschenrechte wieder verschwinden werden. Das universelle Recht auf Leben werde obsolet werden – überall. Eine solche globale »Klima-Apartheid« wäre eine plausible Fortschreibung des Hohns der alten Männer. Denn der Verteilungskampf um die Wahrheit beginnt lange, bevor die ersten Regionen unbewohnbar werden. Sein Ausgang wird entscheiden, wer in den Restflecken einstiger Fülle länger ausharren darf.
In George Orwells Roman »1984«, der kaum übertroffenen Anatomie toxischer Macht, beschreibt der Erzähler diese toxische Macht über die Wirklichkeit: »Die Partei forderte, das Zeugnis der eigenen Augen und Ohren zu verleugnen. Es war ihr letzter, und schwerwiegendster Befehl.« Wenn wir nicht darum kämpfen, dass die Kinder den Kaiser als nackt bezeichnen dürfen, dann wird man uns zwingen, dem Augenschein abzuschwören.

DR. ANDREAS WEBER ist Biologe, Philosoph, Journalist, Autor, Dozent an der Universität der Künste Berlin und Mitinitiator des Erdfestes. Sein neues Buch
heißt »Ingenialität«.
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