Jaron Lanier: Wem gehӧrt die Zukunft? – Buchbesprechung von Carter Phipps

wemgehoertdiezukunftDas Buch Who Owns the Future? von Jaron Lanier, das wir in der aktuellen Ausgabe von evolve vorgestellt haben, ist nun in deutscher Übersetzung erschienen. Hier die Rezension von Carter Phipps:

Wem gehӧrt die Zukunft?

Wie Amazon, Google, Facebook & Co unsere Gesellschaft verändern

Im Nachklang der großen Wirtschaftskrise fällt es schwer, tief über die Zukunft der Kultur nachzudenken, ohne wirtschaftliche Wirklichkeiten mit einzubeziehen. Man kann die wirtschaftlichen Unruhen der letzten Jahre aus verschiedenen Perspektiven betrachten, doch wenn es darum geht, die tieferen historischen Kräfte zu verstehen, die wirtschaftliche Ereignisse bestimmen, ist das geniale und sehr eigene Buch Wem gehӧrt die Zukunft? von Jaron Lanier eine Offenbarung. Er ist ein Pionier in der Erforschung der virtuellen Realität und hat tief über die kulturelle Auswirkung der Informationsökomomie nachgedacht, insbesondere auch über den Aufstieg mächtiger Firmen wie Google, Facebook und Amazon. Seine ӧkonomischen Einsichten sind originell, seine gesellschaftliche Analyse besticht und selbst seine spirituellen Überlegungen provozieren (obwohl diese hauptsächlich das Thema seines vorhergehenden Buches sind: Gadget – Warum die Zukunft uns noch braucht).

Lanier stellt eine Frage, die immer auch hinter den aktuellen Schlagzeilen lauert und von nachdenklichen Ӧkonomen oft angedeutet wird: Ist die Mittelklasse ein natürliches Phänomen? Sie ist der Lebensnerv des Kapitalismus, doch ist sie die unausweichliche Folge des Anstieges des Wohlstands, der die Moderne und die industrielle Revolution begleitet hat? Oder ist sie ein verletzlicheres Konstrukt, das von politischen Regelungen abhängt, ermӧglicht durch den Wohlstand, den der Kapitalismus geschaffen hat, aber dennoch abhängig von den mildernden, formenden Einflüssen menschlicher Institutionen? Lanier schreibt: „Marx argumentierte, dass das Finanzsystem eine seiner Natur nach hoffnungslose Technologie ist und dass Marktsysteme immer in den Graben der Plutokratie abgleiten werden. Ein Keynesianischer Ӧkonom würde akzeptieren, dass dieser Graben existiert, würde jedoch hinzufügen, dass dieses Abgleiten auf unbestimmte Zeit durch Interventionen hinausgeschoben werden kann, damit das System überlebt. Große Vermӧgen sind durch die Generationen hinweg eine Konstante geblieben, ebenso wie tiefe Armut, doch die Mittelklasse hat sich ohne etwas Hilfe nicht als stabil erwiesen. Alle Beispiele einer langfristig stabilen Mittelklasse hingen von Keynesianischen Interventionen ab, ebenso wie von anderen fortlaufenden Mechanismen wie einem sozialen Sicherheitsnetz, um die Folgen der Märkte zu mildern.“

Lanier sorgt sich, dass die wachsende Geschwindigkeit der technologischen Veränderungen diese empfindliche Balance gefährden, die grundlegende Gleichstellung ändern und in einem Wirtschaftssektor nach dem anderen einen Job nach dem anderen in einem Maß zerstören wird, das die Bildung neuer Arbeitsstellen weit überschreitet. Das Argument, das hier oft ins Feld geführt wird, besagt, dass der Verlust von Arbeitsplätzen in einer Branche als Folge technologischer Veränderungen gleichzeitig neue Industrien hervorbringt. Peitschen für Pferdewagen werden schon lange nicht mehr produziert. Aber mehr Batterien für Elektroautos werden gebraucht. Der einst mächtige General Motors Konzern meldete vor einigen Jahren Insolvenz an, doch Apple und Google sind erfolgreich. Kreative Zerstörung gehӧrt zu einer gesunden Wirtschaft. Der Versuch, diesen Prozess zu verhindern, würde jenen Mechanismus zerstӧren, der den Wohlstand geschaffen hat, auf dem die Moderne aufbaute. All dies ist sicher wahr, doch Lanier zeigt, dass die sozialen Folgen dieser kreativen Zerstӧrung sich mit dem technologischen Fortschritt ändern. Google und Apple beschäftigen einen Bruchteil der Menschen, die zu den besten Zeiten bei GM arbeiteten. Und es besteht Grund zu der Sorge, dass eine Informationsökonomie, trotz ihrer vielen Vorteile, die Wachstumsrate für Arbeitsplätze nicht ohne Weiteres aufrechterhalten kann.

Wem gehӧrt die Zukunft? führt neue Begriffe ein, wie zum Beispiel die Idee eines „Sirenen-Servers“, den Lanier so definiert: „Elite-Computer … auf einem Netzwerk … die sich durch Narzissmus, starke Risikoaversion und extreme Asymmetrie in der Verteilung von Information auszeichnen.“ Sprich Google, Amazon, Facebook und Orbitz. Der machtvolle Einfluss eines Sirenen-Servers kann ganze Industrien schaffen, die sich alle auf die Prioritäten dieses Knotenpunktes von Information aufbauen. Ganze Firmen strukturieren sich aufgrund der Such-Algorithmen von Google. Millionen von Menschen ändern ihr Verhalten, um den Parametern von Amazons Präferenzen zu entsprechen. Wal-Mart, der grӧßte Einzelhändler der Welt, war, so Lanier, der Sirenen-Server einer etwas früheren Ära. Dessen Erfolg wurde nicht nur von chinesischen Preisen angetrieben oder den wirtschaftlichen Bedürfnissen kleiner Städte, in denen Wal-Mart seine Läden oft baute, sondern auch, indem Wal-Mart eine konkurrenzlose Markteffizienz erreichte, die auf einer Asymmetrie von Informationen basierte. Nun spielt Amazon in einer neuen Ära genau das gleiche Spiel, nur besser. Lanier zeigt, dass diejenigen, die solche Sirenen-Server besitzen oder ihnen sehr nahe sind, den grӧßten Anteil des Vermögens unserer Zeit erwirtschaften. Wir kӧnnen über die Vor- und Nachteile dieser Antriebsmaschinen ӧkonomischen Wachstums debattieren, doch selbst die Unterscheidung, die Lanier durch das Buch hinweg macht, lässt uns auf neue Weise über die Kräfte nachdenken, die unsere Leben beeinflussen.

Lanier steht auch der „Gratis-Ӧkonomie“ misstrauisch gegenüber. Er weist darauf hin, dass wir zwar alle davon profitieren, dass mehr und mehr Leistungen kostenlos erhältlich sind, aber wir zahlen auch einen versteckten Preis dafür. Musik ist zwar immer ӧfter umsonst erhältlich, doch abgesehen von wenigen Stars und Berühmtheiten, kämpfen Musiker um ihren Lebensunterhalt. Nachrichten sind umsonst, doch der Journalismus steckt in einer tiefen Krise. Bildung scheint in die gleiche Richtung zu gehen. Immer mehr Technologie-Firmen stellen Gratisleistungen bereit und verlassen sich auf Anzeigen als ihr grundlegendes Geschäftsmodell. Ist das wirklich nachhaltig? Kann eine Informationsökonomie, die auf Gratisleistungen beruht, die Inseln des Wohlstands der Mittelklasse erhalten, die für die Stabilität der entwickelten Welt so grundlegend waren? Oder wird die schnell ansteigende Flut der massiven technologischen Veränderungen sie überschwemmen?

Obwohl Lanier sich viele Sorgen macht, ist er keinesfalls ein Feind der Technik. Die Frage für ihn liegt nicht darin, ob wir uns entwickeln werden, sondern wie. Gibt es Mӧglichkeiten, die Ergebnisse der Informationsökonomie so zu beeinflussen, dass sie nicht darin resultiert, dass eine Mehrzahl in die Armut sinkt, während die Gewinner immer reicher werden? Können wir auch hier eine Glockenkurve erreichen – einige reich, einige arm, doch der Großteil in der Mitte –, die ein Zeichen gesellschaftlicher Gesundheit ist.

Es wird in der entwickelten Welt leicht vergessen, wie sehr die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Fortschritte des letzten Jahrhunderts von dem Wohlergehen unserer historisch bisher nie dagewesenen Mittelklasse abhingen. Die Wut der sogenannten amerikanischen „Tea-Party“ und der Aktivismus der „Occupy Wall Street“ deuten auf eine Unzufriedenheit hin, die sich weiter verbreiten wird, wenn eine Wirtschaft, in der alles an den Gewinner geht, die Norm unserer Gesellschaft wird. Lanier erklärt, als es zum letzten Mal in der Geschichte so aussah, als würde sich eine Plutokratie bilden und die Mittelklasse zerstört, konnten wir Strategien entwickeln, die diese Ungleichheiten gelindert haben. Die Gewerkschaften wurden gestärkt und die Überreaktion einer sozialistischen Revolution verhindert – all das, während wir das zukunftsorientierte Wachstum unserer Wirtschaft anregten. Die Informations-Revolution, mit all ihren Wundern und Möglichkeiten, stellt die globale Politik vor neue, aber ähnliche Herausforderungen. Wie ӧffnen wir uns einer Zukunft, die weltweit in technologischen Knotenpunkten geschaffen wird, und fӧrdern aktiv die bestmӧglichen Folgen dieser Veränderungen? Laniers Buch ist ein guter Ansatzpunkt für diese wichtige Diskussion.

Carter Phipps ist Journalist und Autor von Evolutionaries. www.carterphipps.com