Die Befreiung der Vorstellungskraft – Eine unterschätzte Fähigkeit

Foto: DRIFT, Tree of Tééré,Burning Man Festival, 2017

 

Wir leben in unserer Vorstellungskraft, aber wir kultivieren sie nicht. Die Wissenschaft hat uns auch gelehrt, ihr zu misstrauen, denn die Vorstellung liefert keine Fakten. Was braucht es, um ihr vielleicht wieder zu vertrauen?  

Thomas Steininger

Der Rorschachtest ist eine wunderbare Sache: Ein paar Farbkleckse und ein offener Blick verbinden sich zu einem Universum, in dem eine neue Wirklichkeit sichtbar wird. Es zeigen sich Bilder, die oft von tiefer Bedeutung sind, seelische Welten, an die man sonst nicht denkt. Diese Bilder und Einsichten warten dicht unter der Oberfläche unseres Alltagsbewusstseins auf uns. Einige Farbkleckse machen sie sichtbar. Ähnliches gilt auch für alte Kulturtechniken wie dem Kaffeesatz-Lesen. Wir können darüber lächeln, aber es gab in der Geschichte immer wieder Menschen, ja Kulturen, die davon überzeugt waren, dass wir mit Imaginationstechniken tiefe Einsichten in das Leben finden, die sich uns sonst nicht zeigen. Mit ihnen weicht unser gewohnter Blick auf die Welt manchmal einer neuen Einsicht. Hier wurden schon Welten geboren – einfach, weil sich Bilder in uns formen.

Vor einigen Monaten hatte ich in einem Imaginations-Workshop meiner Freundin Phoebe Tickell, sie nennt diese Arbeit »Moral Imaginations«, eine Begegnung mit einem Menschen der Zukunft. Genauer gesagt war sie eine Frau und sie kam aus der siebten Generation nach uns. Phoebe hatte uns in einer Partnerübung zusammengeführt. So saß ich mit jemanden zusammen, die unsere Klimakatastrophe aus den Geschichtsbüchern kennt. Ihre Vorfahren hatten die Katastrophen unserer Zeit überlebt. Unser Gespräch, halb in einem Workshop, halb in meiner Vorstellung, hat etwas in mir verändert. Es befreite etwas in meinem Herzen, mit jemandem sprechen zu können, die all unsere Katastrophen bereits aus der Zukunft sehen kann, aus einer mir unbekannten Zeit »danach«. Meine Partnerin stellte mir in dieser Übungssituation Fragen – warum wir in unserer Generation nicht konsequenter auf das Offensichtliche der Klimakatastrophe reagiert haben, aber auch: was uns die Kraft gegeben hat, nicht aufzugeben. Beide Fragen, von jemanden aus dieser anderen Zeit gestellt, haben mich im Herzen getroffen. Sie öffneten mich in einer sehr überraschenden Weise. Meine Vorstellungskraft brachte mich mit einer Wirklichkeit in Verbindung, die ich vorher nicht gesehen und auch nicht empfunden hatte.

Die Kraft der Imagination und warum sie heute so oft fehlt

Imaginationsübungen wie diese sprengen manchmal unsere gewohnten Sichtweisen. Wenn wir dem Aufmerksamkeit schenken, was in uns lebendig wird, wenn wir einen Tintenklecks oder auch den Kaffeesatz einfach mit etwas Zeit und Ruhe wahrnehmen, dann begegnen wir überraschenden inneren Bildern. Die Bilderwelten, aus denen unser Bewusstsein ja zu einem guten Teil besteht, werden in diesen Übungen ein wenig »wahrnehmbar«. Das sind keine abgestorbenen oder statischen Bilder. Sie sind lebendig. Sie verbinden sich. Wenn wir ihnen genug Freiraum geben, wachsen sie zu weiteren, miteinander verbundenen und kommunizierenden Einsichten und Wirklichkeiten. Und das ist auch gemeinsam mit anderen Menschen möglich. Haben Sie schon einmal mit jemanden zusammen den Kaffeesatz eines türkischen Kaffees gelesen? Im Gespräch verbinden sich Wahrnehmungen zweier Menschen. Sie treffen sich, reiben sich und gestalten eine gemeinsame, komplexe Geschichte, die, öfter als man denkt, tief und bedeutsam ist. Unsere Vorstellungskraft bildet sich, wenn wir ihr den Raum und die Fürsorge geben, andauernd in uns zu einem lebendigen und kreativen Teil unser Selbst.

In früheren Kulturepochen war das ein selbstverständlicher Teil unseres Lebens, allerdings waren wir uns damals dieses kreativen Ortes in uns nicht wirklich bewusst – nicht als eine kreative Kraft, die wir selbst besitzen. Unsere Vorfahren haben in diesen Bildern einfach gelebt. Es waren ihre Mythen, und sie dachten, sie wären gottgegeben. Diese Götterwelten, es konnten auch Helden- oder Engelswelten sein, waren für sie anwesend. Es war eine stabile, gegebene Wirklichkeit.

Unsere moderne wissenschaftliche Kultur war eine Revolte gegen diese Kraft der Bilder, in denen unsere Ahnen seit Vorzeiten lebten. Die Wissenschaft entdeckte das Messbare, das Kalkulierbare, und »zerriss« aus ihrer Sicht für uns den »Schleier der Mythen«. Diese Revolte der Wissenschaft erlaubte es, sich die Welt in einer neuen, technischen Weise anzueignen, die grandios erfolgreich war. Träume gab es weiter, aber sie wurden privatisiert. Ihnen wurde Reservate zugeschrieben, in denen sie, wie Tiere in einem Zoo leben konnten. Die eigentliche Welt spielt sich außerhalb des Zoos ab. Andererseits hat auch unsere Wissenschaft ihre Bilderwelt, ihre eigene Vorstellungswelt. In den Gesprächen, die in unserer modernen Gesellschaft wirklich zählten, entwickelten wir eine Sichtweise, in der wir alles, was von Bedeutung ist, nur mehr in der technischen Machbarkeit sehen. Aus dieser Vorstellungswelt heraus lebt die technische Welt. Der englische Philosoph Owen Barfield, ein Freund von J. R. R. Tolkien, hat eine ganze Philosophie darüber geschrieben, dass unsere Vorstellungskraft ein Ort einer sehr subtilen Erkenntnis ist. Er sah, dass sie in unserer gegenständlich ausgerichteten Kultur nicht mehr wertgeschätzt, oft nicht einmal gesehen wird. Dann entsteht auf der einen Seite die technische Welt und getrennt davon ein Ort in uns, in dem vor allem willkürliche Fantasien blühen.

Wie würde sich unsere Welt verändern, wenn wir unserer Imaginationskraft mehr Raum und Zeit geben würden, um wahrgenommen zu werden? Sicher würde sich dort manches Verletzte und Beengte zeigen, aber auch Dinge, die für uns wirklich bedeutsam sind, Dinge, die uns unheimlich sind, die uns heilig sind. Die Imaginationskraft ist verletzlich. Sie wird auch erst wirklich lebendig, wenn wir sie miteinander teilen, wenn sie zwischen uns und mit uns lebt.

Natürlich, die technischen und systemischen Fragen, mit denen wir in unserer hochkomplexen Welt konfrontiert sind, verlieren sich nicht. Wir brauchen, wahrscheinlich noch viel mehr als heute, unsere Fähigkeit des abstrakten, auch des systemischen Denkens. Aber diese technischen Dimensionen der Wirklichkeit können wir als eingebettet in etwas anderes erkennen und wir können lernen, sie gemeinsam mit diesen anderen Dimensionen wahrzunehmen. Der amerikanische Kulturforscher Charles Eisenstein spricht in einem seiner Buchtitel, von der »schöneren Welt, von der unser Herz weiß, dass sie möglich ist«. Meines Erachtens deutet er auf eine Öffnung, die sich zeigt, wenn wir erlauben, dass sich unser Herz mit unserer Vorstellungskraft verbindet. 

Lesen Sie den kompletten Text in der evolve Ausgabe 36/2022