DIE MYTHEN, DIE WIR LEBEN – Wie sich Sinngebung wandelt

Arbeit der amerikanischen Künstlerin Edith Vonnegut

Mythen begleiten uns seit dem Beginn der Menschheit und haben sich im Laufe der Geschichte ständig gewandelt. Und damit auch wir selbst und unsere Gesellschaften. In welchem Mythos leben wir heute? Und brauchen wir neue Mythen, um mit den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft angemessen umgehen zu können? 

Thomas Steininger

Am 22. Juni 2020, dem Jahrestag des deutschen Überfalls auf Russland, wurde an den Stadtgrenzen Moskaus eine neue russisch-orthodoxe Kathedrale eingeweiht, die Kathedrale der russischen Armee mit dem Namen Auferstehungskathedrale Christi. Sie wurde genau an dem Ort errichtet, an dem es der sowjetischen Armee 1941 gelang, Hitlers Panzer zum Rückzug zu zwingen. 

Die Symbolik der Kathedrale steckt in jedem Detail: Die Form ihrer Kuppel ist der Krone von Alexander Newski nachempfunden, dem russischen Nationalheiligen und Kriegshelden des 13. Jahrhunderts. Ihr Durchmesser beträgt 19,45 Meter – die Zahl entspricht damit dem Jahr des sowjetischen Sieges. Die 14,18 Meter der kleineren Kuppel entsprechen den 1418 Tage des Zweiten Weltkriegs. Im Fußboden der Kathedrale wurde das Metall deutscher Panzer, Feldhaubitzen und Medaillen eingeschmolzen. Große Wandmosaike mit Szenen aus der Heiligen Schrift stehen neben Schlachtszenen aus dem Weltkrieg. Heilige stehen neben Kriegshelden. In dieser neu errichteten Kathedrale wird das russische Volk mit seinen Streitkräften selbst zum christlichen Erlöser der Welt. Die russische Geschichte mit dem Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges wird zu einem Akt von Tod und Auferstehung des wahren Christentums.

Vergleichen wir diesen Akt der bewussten staatlichen Mythenbildung mit der Stürmung des Kapitols in Washington am 6. Januar dieses Jahres. Auch das war ein Kampf zwischen Gut und Böse. Die Anhänger der QAnon-Verschwörungsmythen kämpften dort gegen satanische Hollywood-Eliten, die »Kinder foltern und ermorden«. Es war ein Kampf zwischen Freiheit und Tyrannei, zwischen Trump-Wahrheit und den Fake-News einer verlorenen Präsidentenwahl. Mit Pfefferspray bewaffnete, fahnenschwenkende Patrioten durchbrachen gewaltsam die Polizeilinien, um dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen. Mittendrin und scheinbar überall stand dieser junge QAnon-Schamane mit seinem Büffelkopfschmuck, der die anwesenden Aufständischen im großen Sitzungssaal des US-Kongresses zum Gebet für Trump aufrief.

Ein eigentümlich heftiger mythischer Zeitgeist geht um. Ob als Staatsakt eines autoritären Regimes oder in einem Aufstand amerikanischer Wutbürger, wir erleben einen Drang zu drastischen Narrativen, um der Komplexität einer Zeit, die irgendwie zwischen zwei Welten steht, eine innere Ordnung zu geben. Das Narrativ der westlichen Welt, ihre Geschichte aus Freiheit und demokratischem Fortschritt, zerfranst und wir wissen nicht, was kommt. Globale Herausforderungen wie die Überdominanz der Finanzwirtschaft und der großen digitalen Unternehmen und die neue Dynamik der sozialen Medien fördern eine neue Blüte des mythischen Denkens. Die enorme Popularität der Schauermärchen von QAnon zeigen, welche Kraft gerade in diesen Zeiten von fesselnden Mythen ausgeht. Vielleicht kehrt in diesen Exzessen etwas Verdrängtes zurück, die Karikatur von etwas, das wir verloren haben. Die westliche Aufklärung meinte ja, den Mythos als Aberglauben auf den Müllhaufen der Geschichte werfen zu können. Vielleicht haben wir etwas Wesentliches über die Mythen übersehen.

Eine kleine Geschichte des Mythos

Die Mythen haben uns überhaupt erst zu Menschen gemacht. Sie haben uns neue Augen gegeben. Stellen Sie sich vor, wir würden, so wie unsere Vorfahren vor ungefähr 300.000 Jahren, langsam die Welt der Sprache entdecken. Eindrücke wie ein Bär, ein Wisent oder der Mond am nächtlichen Sternenhimmel sind Bilder, die nicht mehr nur flüchtig kommen und gehen. Es sind Bilder, die wir in Zeichen und Symbolen halten können. Nicht nur halten, durch Nennung können wir sie aus dem Nichts in unser gemeinsames Bewusstsein bringen. Wir können diese Bilder durch bedeutsame Geschichten miteinander in Beziehung setzen. Dieses langsam wachsende Gewebe der Geschichten, das unsere Vorfahren begannen miteinander zu knüpfen und einander zu erzählen, schuf in unseren Schöpfungsmythen, Ahnengeschichten und in der »Erzählung vom Großen Bären« ein Universum voller Sinn und Bedeutung. Der Bär als unser Totem wurde zur Quelle unserer Kraft. 

Das ist der Beginn von Sinn und Bedeutung, der Beginn der Kultur. Wir begannen nicht nur in Eindrücken und Instinkten, sondern in gemeinsamen Bildern und Mythen zu leben. Diese Bilderwelten sind selbst lebendig. Sie leben und verwandeln sich im Laufe der Zeit. Der Große Bär trat zurück hinter der Großen Mutter. Irgendwann begannen wir uns am Großen Vater zu orientieren, dem Schöpfergott, der alles erschaffen hat. Mit dem Aufstieg der Wissenschaft wurde dieser Gott wiederum zum großen Uhrmacher. Beginnend im 19. Jahrhundert verlor dieses Uhrwerk seinen Gott und ist heute als technische Welt fast zu seinem Ersatz geworden. Seit Menschengedenken leben wir in der Entfaltung dieser Geschichten. Von der Kraft des Bären, dem Schutz der Großen Mutter bis zu der Ordnung eines Universums, das die Gestalt einer großen Maschine annimmt. Diese Geschichten waren immer das mythische Fundament unserer Welt.

Lesen Sie den kompletten Text in der evolve Ausgabe 31 / 2021