Editorial 10 / 2016

Jacques Delors, der viel zur europäischen Einigung beigetragen hat, sagte einmal: »Wenn dieses Projekt [Europa] nicht von spirituellem Schwung getragen wird, wird es nicht weit kommen.« In den momentanen Debatten über Europa wird diese Dynamik, die Delors selbst auch als Seele Europas bezeichnet hat, kaum erwähnt. Aber sie wird entscheidend sein, wenn wir die gegenwärtigen Herausforderungen konstruktiv lösen wollen. Denn gerade auch im Seelischen klaffen in Europa große Gräben. Die allermeisten politischen Akteure meiden ein Ansprechen einer wie auch immer gearteten Seele, es ist Konsens, dass man solche spirituellen Fragen höchstens im Privaten erörtert, im öffentlichen Diskurs haben sie nichts zu suchen. Gleichzeitig töten Terroristen, die mitten in Europa groß geworden sind, in ebendieser Mitte im Namen des Islam. Eine Folge ist eine neue Angst vor der Religion. Und Rechtspopulisten beziehen sich auf eine christlich-abendländische Tradition und wissen oft kaum, was sie damit eigentlich meinen.

Welche Relevanz hat in dieser Seelenkrise Europas eine progressive, aufgeklärte Spiritualität, die die Werte der Aufklärung, wie die Würde und Freiheit des Einzelnen, anerkennt und fördert und gleichzeitig für die unmittelbare Erfahrung einer heiligen Tiefe des Lebens offen ist? Dieser Frage geht der Wissenschaftstheoretiker Harald Walach in unserem Interview nach und spricht sich für eine Bewusstseinskultur aus, in der spirituelle Erfahrungen wieder gesellschaftlich thematisiert und als Quelle positiver Werte gesehen werden können. Dies wäre ein Wandel von einer säkularen Haltung, die sich ausschließlich und manchmal auch dogmatisch an der Naturwissenschaft orientiert, hin zu einer postsäkularen Kultur, die Wissenschaft und Spiritualität integrieren und einander zugänglich machen kann. Die Grundlagen der postsäkularen Idee erklärt Kristina Stoeckl, eine der wichtigen Denkerinnen auf diesem Gebiet.

Claudine Villemot und Ingrid Schneider untersuchen in ihrem Beitrag, inwieweit solche eine spirituell integrative Perspektive und Haltung dem Zusammenstoß zwischen religiösen Traditionen und modernen und postmodernen Werten einen Respekt für das uns alle als Menschen Verbindende entgegensetzen kann. Für Wolfgang Aurose zeigt sich die verbindende Dimension in der Erkenntnis, dass wir uns in Europa in einer Schicksalsgemeinschaft befinden, deren Entwicklung in unseren Händen liegt. Wie sich Europa entwickeln kann, wird auch von der kulturellen Dynamik abhängen, die wir entfalten können. Dieser Überzeugung ist Michel Saloff-Coste, für ihn steht Europa noch vor der Verwirklichung einer integralen Vision der Unterschiede, die in einer umfassenden Einheit verbunden sind. Solch eine Vision berührt auch Ulrike Guérot mit ihrem Eintreten für eine Republik Europa in ihrem neuen Buch »Warum Europa eine Republik werden muss!«. In ihrem Text geht sie der Frage nach, wie mehr Achtsamkeit im politischen Handeln diesen Weg unterstützen könnte.

In je eigener Weise fragt jeder unserer Beiträge nach der Seele. Diese Frage stellt im Künstlerischen Raimer Jochims, mit dessen Arbeiten wir diese Ausgabe gestalten durften. Durch die Verbindung zwischen Farbe und Form versucht er, unsere Wahrnehmung für das Lebendige wachzurufen. Vom Betrachter seiner Werke erhofft er sich eine innere und auch politisch zu nennende Flexibilität – die Flexibilität, andere Perspektiven einzunehmen, auch die von Menschen, die man nicht sofort verstehen kann, und die eigene Position zu hinterfragen. Diese Haltung, in der sich das Verbindende zwischen uns freilegen kann, wird wohl in nicht geringem Maße auch über die Zukunft Europas entscheiden.

Wir hoffen, mit dieser Ausgabe einen konstruktiven Beitrag zum Dialog über Europa leisten zu können, an dem wir uns wohl alle in Zukunft tiefer beteiligen werden. Dass es in diesem Dialog Menschen gibt, die den gewachsenen europäischen Werten wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechten ebenso verbunden sind wie einer spirituellen Wirklichkeit, wie immer wir sie auch nennen mögen, wird vielleicht für die Seele Europas entscheidend sein. Wir wünschen Ihnen eine inspirierende Lektüre und eine Stimme in diesem Dialog.

Herzlichst
Mike Kauschke