Editorial 18/2018

Kann man heute in einem Magazin »das Heilige« zum Thema machen? Solch ein heikles Wort, das für so viele Menschen so vieles und verschiedenes bedeutet, und bei anderen fast schon instinktive Ablehnung hervorruft? Das fragten wir uns, sobald in unseren Redaktionsgesprächen diese Idee aufkam. Aber je mehr wir uns damit beschäftigten, merkten wir, dass es vielleicht sogar dringend notwendig ist, neu über das Heilige sprechen zu lernen.

Denn fehlt unserem Leben nicht etwas Wesentliches, wenn uns nichts mehr heilig ist? Und fehlt uns nicht damit auch die Grundlage, um die Fragen zu stellen, die uns über eine rein rational-gegenständliche Beziehung zur Welt und zum Leben hinausführen können. Vielleicht ist es deshalb heute so wichtig, »das Heilige« wieder neu ins persönliche und gesellschaftliche Gespräch zu bringen. Und das in einem wachen Bewusstsein dafür, wie oft dieses Wort missbraucht wurde und wird.

Eine große Herausforderung in der Arbeit an dieser Ausgabe war der Balanceakt zwischen reflektierter kritischer Betrachtung unseres Umgangs mit dem Heiligen und der Eröffnung von Räumen im Denken, Spüren, Sprechen und Bezogensein, in denen das Mysterium unserer Existenz Resonanz findet. Und das ist nicht nur eine abgehobene philosophisch-spirituelle Frage, sondern es betrifft unser Leben ganz direkt und im Kern. Denn vielleicht haben viele unserer persönlichen, ökologischen, gesellschaftlichen und globalen Krisen auch damit zu tun, dass das Geheimnis, das unserem Dasein zugrunde liegt, in unserem Leben nicht mehr atmen kann. So ist diese Ausgabe von evolve auch als eine Einladung gedacht, sich auf den Atem des Mysteriums einzulassen, und nachzuspüren, wie diese Wahrnehmung unser Leben verändern könnte.

Auf welche Weise sich unser Bezug zum Heiligen im Laufe der Menschheitsgeschichte verändert hat, skizziert Thomas Steininger in seinem Leitartikel. Er geht davon aus, dass eigentlich jeder von uns »einen Sinn für das Heilige« kennt, auch wenn wir es nicht so nennen würden, vor allem sind es die Sternstunden unseres Lebens, wo dieser Sinn aufscheinen kann. Der Artikel fragt auch, welche Rolle das Heilige in unserer offenen demokratischen Gesellschaft spielen könnte.

Die gesellschaftliche Relevanz erforscht auch der spirituelle Denker und Aktivist Orland Bishop, der mit Jugendlichen aus armen Milieus in US-amerikanischen Großstädten arbeitet. In unserem Interview beschreibt er, wie das, was wir als das Heilige ansprechen, auch unsere sozialen Beziehungen verwandeln könnte. Für die buddhistische Lehrerin Sylvia Wetzel eröffnet die Neugestaltung unserer Beziehung mit dem Heiligen auch den Grund für ein tiefes Vertrauen in das Leben.

Wie die Wertschätzung einer Dimension des Heiligen auch in der wissenschaft neue Verständnisräume öffnen kann, untersucht der Biologie Stuart Kauffman unter anderem in seinem Buch »Reinventing the Sacred«. Im Interview erklärt er, dass die Evolution des Lebens in der Natur keinen berechenbaren Gleichungen folgt, sondern eine überraschende Emergenz ist, ein Neu-Entstehen, das wir nicht voraussehen können. Viele Menschen können heute wohl in der Begegnung mit der Natur am ehesten Erfahrungen machen, die einen Geschmack des Heiligen in sich tragen. In ihrem Artikel folgt Nadja Rosmann dieser Spur und fragt, was eigentlich eine solche Beziehung zur Natur, und dem, was in ihr wirkt, in Zeiten des Klimawandels bedeutet.

Diese Ausgabe konnte unsere Art Direktorin Renata Keller mit den Arbeiten des venezolanischen Künstlers Rafael Araujo gestalten, der in seinen Werken mit den Mitteln der Geometrie dem inneren Wirken der Natur nachspürt. In der Tradition einer »heiligen Geometrie« erstellt er aus mathematischen Formeln natürliche Formen und forscht so auch nach den übergeordneten Gesetzen, die allem zugrundeliegen. Diese Verbindung von Präzision und Schönheit, Gesetzmäßigkeit und Geheimnis empfanden wir als eine gute Metapher für die umfassende, versöhnende Sicht auf unsere Welt, die wir in dieser Ausgabe eröffnen wollen.

Wir hoffen, dass durch das Lesen auch bei Ihnen diese Dimension des Heiligen hin und wieder anklingt, und sei es darin, dass bei Ihnen mehr Fragen über den Grund unseres Lebens auftauchen. Wir freuen uns auf spannende Dialoge zu diesem »ewigen« Thema. Und wir möchten auch weiter solche ewigen und zugleich hochaktuellen Fragen erforschen. Wenn Sie uns dabei unterstützen möchten, laden wir Sie herzlich ein, ein Teil unseres evolve-Förderkreises zu werden.

Herzlichst
Mike Kauschke