Editorial 22/2019

Achtsamkeit geht uns alle an. In einer immer schneller werdenden Welt wird Meditation und ein achtsames Bewusstwerden des eigenen Inneren fast zu einer Frage des Überlebens. Dementsprechend haben Achtsamkeitspraktiken mittlerweile in Unternehmen, Schulen, Universitäten, Krankenhäusern und politischen Institutionen Einzug gehalten. Sie sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Aber diese Mitte geht immer mehr verloren in einer Zeit sozialer Polarisierung, psychischer Entfremdung, wirtschaftlicher Gier, ökologischer Zerstörung und spiritueller Orientierungslosigkeit. Was kann Achtsamkeit vor diesem Hintergrund bedeuten, wenn sie mehr ist, als ein vorübergehendes Auftanken oder eine Wellnessmethode für gestresste Bürger?

In unseren Redaktionsgesprächen zum Thema spielte diese soziale Dimension von Achtsamkeit schnell eine zentrale Rolle. Denn es scheint, dass in einer globalen Welt, in der wir alle näher zusammenkommen – ob wir wollen oder nicht – die Fähigkeit, für den anderen Menschen, die andere Kultur und die mit uns lebende Natur achtsam zu werden, entscheidend sein wird. Diese Form der Achtsamkeit sahen wir in unseren Überlegungen vor allem auch in einer Wahrnehmung der Beziehungsräume, in denen wir leben, und der darin wirkenden Kraft. Denn wenn sich Menschen achtsam begegnen und auch das sie verbindende Bewusstseinsfeld wahrnehmen, entsteht aus dieser sozialen Befruchtung neues Leben – eine Kreativität, Lebendigkeit und Liebe, die uns Wege in eine mitmenschliche Zukunft weisen kann.

In seinem Leitartikel arbeitet Thomas Steininger diese explosive Kraft der sozialen Achtsamkeit heraus und erklärt ihre Relevanz vor dem Hintergrund unseres technischen Zeitgeistes. Er sieht das Heraufkeimen einer zweiten Welle der Achtsamkeit, die sich auf das Potenzial bewusster Wir-Räume richtet. Arawana Hayashi und Otto Scharmer verdeutlichen eine Form der Annäherung an diese Kraft zwischen uns durch die Entwicklung einer Fähigkeit des Presencing, einem gegenwärtigen Wahrnehmen. Daraus haben beide die Praxis des Social Presencing Theater entwickelt, das einen Raum bietet, um die Dynamiken des sozialen Feldes zu erfahren.

Für David Kaplan und Sue Davidoff kommt die Fähigkeit der gestaltenden Mitwirkung in kollektiven Feldern aus einer neuen Form der Beobachtung oder Anschauung, die mit dem Lebensprozess zutiefst verbunden ist. Als »Künstler des Unsichtbaren« sind sie davon überzeugt, dass wir unsere Beziehungsräume durch solch eine schöpferische Anwesenheit verwandeln können. Für Joe Brewer liegt die Notwendigkeit eines Bewusstseins für unsere soziale Verbundenheit in der globalen Krise, in der wir uns befinden. Darin sind wir seiner Ansicht nach alle aufgerufen, die Kräfte des Todes in neues Leben zu verwandeln und zwischen uns eine kulturelle Form zu geben.

An solchen Formen arbeitet der brasilianische Künstler Ernesto Neto. Seine räumlichen Installationen laden ein, uns als Menschen tiefer zu spüren und einander zu begegnen. Im letzten Jahr wurde er mit seiner Installation »GaiaMotherTree« im Hauptbahnhof Zürich auch bei uns bekannt – ein sozialer Spür- und Begegnungsort im öffentlichen Raum, der auch unser Coverbild geworden ist. Wir sind sehr dankbar, dass wir diese Ausgabe von evolve mit Fotos von zahlreichen solcher sozialen Orte, die Neto geschaffen hat, gestalten können.

Orte, an denen diese soziale Achtsamkeit erlebt und gelebt werden kann, möchten wir auch mit evolve schaffen. Unsere evolve Salons bieten dafür schon seit geraumer Zeit eine lebendige Möglichkeit. Jetzt möchten wir diese Begegnungen erweitern und organisieren eine evolve-Live!-Konferenz und darauf hinführend Tagesveranstaltungen in sechs Städten. Hier werden evolve-Autoren und -Redakteure und die Teilnehmenden dialogisch die brennenden Fragen einer neuen Bewusstseinskultur erforschen. Die evolve-Konferenz Anfang des kommenden Jahres in Berlin veranstalten wir in Kooperation mit der Akademie Heiligenfeld und mit Unterstützung der Emergence Foundation. Mit der Akademie Heiligenfeld entwickeln wir in diesem Zusammenhang eine vertiefte Zusammenarbeit, die auch schon beim diesjährigen Heiligenfeld-Kongress Ausdruck findet. Auch hier steht Achtsamkeit im Fokus und es entsteht ein Labor für soziale Achtsamkeit, an dem wir mit evolve Cafés und Programmbeiträgen mitwirken können.

Über diese neuen Möglichkeiten der Begegnung mit Ihnen, unseren Leserinnen und Lesern, freuen wir uns sehr. Nur gemeinsam, im Miteinander des schöpferischen Dialogs, können wir die sozialen Räume schaffen, in denen die Zukunft zu uns sprechen kann.

Herzlichst
Mike Kauschke
Leitender Redakteur