Editorial 26/2020

Kunst: Sabine Welk GRENZGÄNGER

Alles ist besonders in diesen Tagen. Während ich dies schreibe, ist nicht wirklich abzusehen, in welcher Welt Sie diesen Text lesen und in welcher uns verbindenden Situation Sie dieses Magazin erreicht. So viel Ungewissheit und Nicht-Wissen haben wir als Gesellschaft zu unseren Lebzeiten wohl noch nie erlebt. Genauso war die Arbeit an dieser Ausgabe von evolve ein ungewöhnlicher Prozess. Das Thema »Menschliche Reife« wählten wir ursprünglich auch im Rahmen unserer Kooperation mit den jährlichen Kongressen der Akademie Heiligenfeld in Bad Kissingen, der vorerst abgesagt werden musste. Das Thema selbst, in das wir uns derweil vertieften, wandelte und entfaltete sich mit jedem Tag und gewann – so empfanden wir – an brennender Relevanz. Denn die Coronakrise stellt ebenso wie die Klimakrise, die wir in der letzten Ausgabe beleuchteten, eine nachdrückliche Frage an unser Menschsein: Wer können wir als Menschen und als Gemeinschaft werden, um diesen Herausforderungen gewachsen zu sein?

Diese Frage bewegte uns auch bei der Vertiefung dieses Themas in unseren Dialogen in der Redaktion und in den Gesprächen mit unseren Beitragenden. Wie immer in diesem Prozess entfaltete sich ein Verstehen dessen, was Reifung heute in einer solchen Zeit bedeuten kann, für uns auf neue Weise. Reife zeigt sich darin nicht nur als eine individuelle Qualität des Bewusstseins, sondern auch in der Frage nach unseren Beziehungen, unserem Miteinanders, von dem ganz wesentlich der Weg durch kollektive Krisen abhängt: Menschliche Reife als Weg zu einem neuen Miteinander.

In seinem Leitartikel vertieft Thomas Steininger die Frage, vor welche Herausforderungen und Möglichkeiten uns die gegenwärtige Krisensituation stellt, sowohl als Individuen als auch als Gesellschaft. Er fragt auch, welche spirituellen Qualitäten in uns wach werden können, um in dieser Zeit Vertrauen bewahren und Menschen in Verbundenheit einladen zu können.

Auch Robert Kegan, der große Entwicklungspsychologe, betrachtet in unserem Interview die individuelle Entwicklung durch die von ihm erforschten Stufen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Dynamiken. Hier eröffnet sich ein neues Verstehen von sozialen Konflikten, wie wir sie in diesen Krisenzeiten verstärkt spüren. Kegan geht auch auf die Hindernisse unserer Entwicklung ein und erklärt den Unterschied zwischen der Beschreibung von Prozessen des Wachsens und dem je eigenen Weg durch diese Prozesse hindurch, die immer wieder das Loslassen des Alten erfordern.

Die Linearität solcher Entwicklungsprozesse, wie sie häufig beschrieben werden, hinterfragt Bonnitta Roy. Für sie als langjährige integrale Pädagogin zeigt sich ein neues Paradigma, das einen ganzheitlicheren Blick auf das menschliche Potenzial zulässt. In Resonanz damit fokussiert sich die Entwicklungspsychologin im evolve-Team, Elizabeth Debold, in ihrem Beitrag auf die Zusammenhänge und Unterschiede zwischen kognitiver Entwicklung und menschlicher Reife und blickt in eine neue gemeinsame oder intersubjektive Möglichkeit.

Was Ausdrucksformen eines reifen Denkens, Fühlens und Handelns in der Welt sein könnten, vermittelt Vivian Dittmar. Sie beschreibt ein Mitgefühl in Aktion als lebendiges Antworten auf das Leben, das gerade in herausfordernden Zeiten ein Zeichen von Reife ist. Dazu gehört für den Medienwissenschaftler Bernard Pörksen auch ein mündiger Umgang mit den neuen Medien, was gerade in einer so aufgeladenen Debatte, wie sie sich momentan zeigt, eine wichtige Praxis wird.

Diese vielen Dynamiken des menschlichen Wachsens fanden wir in den Drahtskulpturen der Künstlerin Stefanie Welk wunderschön in die Gestalt gebracht. Die Transparenz und Bewegung, die sie mit diesem Material hervorbringt, haben uns sofort fasziniert und wir sind froh, dass wir diese Ausgabe mit ihren Arbeiten gestalten konnten.

Auch für uns als evolve waren die letzten Wochen ein Prozess des Wachsens. Mit der ersten evolve Live!-Konferenz haben wir in einer für uns neuen Form den Dialog über ein ganzes Wochenende mit den Teilnehmenden gelebt, von denen viele unsere Leser waren. Mit dem herausfordernden Thema des Menschseins in Zeiten der Digitalisierung war für uns ein gemeinsamer, dialogischer Raum zwischen über einhundert Teilnehmenden spürbar, der die Verschiedenheit der Menschen und Sichtweisen in einem lebendigen Ganzen integrieren konnte. Diese Erfahrung eines reifen Miteinanders hat uns noch weiter bestärkt, das Projekt evolve Live! in diesem Jahr weiterzuführen (s. S. 4). Wenn Sie an Ihrem Ort Interesse an solch einer Veranstaltung haben, dann melden Sie sich gern bei uns.

Die Coronakrise hat uns die Bedeutung solch dialogischer Prozesse besonders intensiv spüren lassen. Als Antwort auf diese Situation haben wir in den vergangenen Wochen verschiedene Online-Dialoge und -Meditationen angeboten, um die wertschätzende kreative Begegnung und die spirituelle Stärkung zu nähren. Um als Magazin durch diese auch wirtschaftliche Herausforderung (wegfallende Anzeigen und Ausfälle beim Verkauf) zu gehen, hilft uns auch Ihre Unterstützung und Weiterempfehlung. Wir werden weiter für Sie da sein, um gemeinsam Räume der Begegnung, des Dialogs und der Verantwortlichkeit zu schaffen, in denen wir das neue Mögliche, das jeder Krise innewohnt, spüren, verstehen und gestalten können.

Herzlichst
Mike Kauschke
Leitender Redakteur