Editorial 27/2020

Kunst: Alfred Bast

Vor einigen Tagen lief ich mit Freunden durch den Abend, die Sonne war gerade untergegangen und die leise dahingleitenden Wolken hinter einem kleinen Waldstück waren in rosanes Licht getaucht. Alle zugleich riefen wir aus: »Schön!« Diese Einigkeit berührte mich, denn mit einigen dieser Freunde hatte ich in den letzten Wochen auch kritische Auseinandersetzungen im Zuge der Corona-Pandemie. 

An diese kleine Episode muss ich jetzt denken, denn was bringt uns dazu, uns als Redaktionsteam in einer solchen Zeit der Verunsicherung und offenen Fragen dem Schönen zuzuwenden? Welchen Wert, welche Relevanz hat die Schönheit in einer zerrissenen Welt?

Nachdem wir in den letzten beiden evolve-Ausgaben versuchten, die Herausforderungen des Klimawandels und der gegenwärtigen Corona-Krise im Kontext der Reife tiefer und bewusster zu verstehen und zu berühren, wollen wir mit dieser Ausgabe einen oft vergessenen oder verlorenen Ort des Wahrnehmens und Antwortens im Licht dieser Krisen beleuchten. Dabei war uns klar, dass wir uns damit in ein sehr großes und universelles Thema begeben, das jeden Menschen berührt und das Denker und Künstler seit Beginn der Menschheit zu erfassen suchen. Uns leitete die Frage, welche Inspiration, Kraft und Orientierung sich aus einem Vergewissern der Schönheit in unserem individuellen und gesellschaftlichen Leben ergeben könnten. Und das gerade in einer Zeit, in der wir in vielen Bereichen inmitten einer Zerreißprobe stehen: in unserem Verhältnis als Mitmenschen zueinander, in den demokratischen Strukturen, in den Folgewirkungen von Unterdrückung und Diskriminierung, in unserem Bezug zu unseren natürlichen Lebensgrundlagen und unseren Mitlebewesen – um nur einige Beispiele zu nennen. 

Thomas Steininger spricht in seinem Leitartikel davon, wie sich unsere Gegenwart auch in manchen dunklen Mythen spiegelt – und was es braucht, sie zu erlösen. Shelley Sacks beschreibt aus ihrer Arbeit als Künstlerin in sozialen Räumen in der Tradition von Joseph Beuys, wie durch ein ästhetisches Bewusstsein »Felder der Begegnung« neu lebendig werden können. Dabei leiten sie ein Wahrnehmen der Stimmigkeit und ein »bildhaftes« Denken. In der japanischen Tradition des Wabi-Sabi wird versucht, mittels eines gewandelten Bezugs zum Schönen die Welt neu zu sehen und zu formen. Yuriko Saito hat diese Tradition tief verinnerlicht und deutet auf eine existenzielle Ästhetik jenseits von Kitsch und Konsum. Diese Tiefendimension unseres Daseins bewegt auch den spirituellen Lehrer Igor Kufayev in unserem Interview. Er war viele Jahre als Künstler tätig und die Kraft des Schöpferischen inspiriert ihn auch heute in der Erforschung des menschlichen Potenzials. 

Inwieweit dazu auch eine neue Beziehung zum Lebendigen gehört, erforschen die Biologen und Philosophen Andreas Weber und Axel Ziemke auf je eigene Weise. Weber schöpft dabei aus einem Einsatz für eine Kultur der Lebendigkeit und Ziemke aus seiner Beschäftigung mit Goethes naturerforschendem Blick. Welche gesellschaftliche Relevanz eine neue Wertschätzung des Schönen haben könnte, vertieft Elizabeth Debold in ihrem Artikel: Kann uns der Erfahrungsraum des Schönen eine Orientierung geben, um eine gerechtere Welt zu gestalten?

Sehr froh sind wir darüber, dass wir diese Ausgabe mit Arbeiten des Künstlers Alfred Bast gestalten konnten. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich in seiner bildnerischen Arbeit mit dem Geheimnis des Schönen. Daneben hat er dieses Mysterium auch reflektierend vertieft, insbesondere auch im Licht unserer gegenwärtigen Zeit, wie er in unserem ausführlichen Interview verdeutlicht.

Unsere Abonnentinnen und Abonnenten erhalten zu dieser Ausgabe von evolve auch eine Beilage, die in Zusammenarbeit mit dem Kongress »Meditation und Wissenschaft« entstanden ist, der im Oktober in Berlin zum Thema »Vom Wissen zum Bewusstsein« stattfinden wird. Die darin enthaltenen Interviews mit Hartmut Rosa und Otto Scharmer geben auf ihre Weise einen weiteren Impuls, der auch das Schöne berührt: Sie zeigen auf, wie Resonanz und ein tieferes Wahrnehmen unsere Beziehungsräume intensivieren können.

Solche Räume der Begegnung möchten wir auch wieder in unserer Reihe evolve Live! anbieten und planen Veranstaltungen im Herbst in Linz, Zürich und München und eine evolve Live!-Konferenz für den Herbst 2021.

Wir freuen uns auf Begegnungen bei diesen Veranstaltungen oder unseren verschiedenen evolve Salons und Dialogangeboten. Und natürlich sind wir gespannt, was die Frage nach der Relevanz der Schönheit bei Ihnen in Resonanz gebracht hat. 

Herzlichst
Mike Kauschke
Leitender Redakteur