Editorial 29/2021

Kunstmotiv von Inge Barié

Gerade heute las ich einen Artikel über eine Metastudie von namhaften Wissenschaftlern, die uns vor einer »schrecklichen Zukunft des Massenaussterbens« warnen. Und in der Tat ist die Wissenschaft mit der Klimakrise zum Bezugspunkt geworden, um ein entschiedeneres Handeln zu fordern, damit diese Entwicklung noch abgewendet bzw. die Zukunft nachhaltiger gestaltet werden kann. Greta Thunberg mit ihrem Ruf »Vereint euch hinter der Wissenschaft« ist nur ein Beispiel dafür.

Kein Zweifel, in unserer Zeit steht die Wissenschaft im Zentrum der Aufmerksamkeit. In der Corona-Pandemie werden vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Einschätzungen, Statistiken und Modellrechnungen einschneidende Beschränkungen des gesellschaftlichen Lebens verfügt. Alle Seiten, sowohl Befürworter der Maßnahmen oder noch strengerer Maßnahmen als auch Kritiker, beziehen sich auf die Wissenschaft bzw. Wissenschaftler.

Vielleicht ist es angesichts dieser Dynamiken im Zusammenhang mit Klimakrise und Pandemie angemessen und eigentlich notwendig, innezuhalten, den Blick zu weiten und grundlegend zu fragen, was Wissenschaft eigentlich ist und kann, wo ihre Grenzen liegen könnten und wo es Möglichkeiten und die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Forschens und Erklärens gibt.

Genau das bewegte uns zu dieser Ausgabe, um einerseits die Würde und Relevanz der Wissenschaft zu betonen, die eben auch von »alternativen Fakten« unterschiedlicher Couleur attackiert wird, aber um andererseits auch die Grenzen des wissenschaftlichen Blicks auf unsere Welt zu thematisieren. Und zu fragen: Ruft diese gegenwärtige Zeit nicht auch nach einer Erweiterung dieser wissenschaftlichen Perspektive? Und damit auch unser aller Verständnis des Kosmos, der lebendigen Welt und uns selbst?

Diese Fragen bewegten uns in unseren Redaktionsgesprächen und wir wollten sie im Kontext verschiedener Wissenschaftszweige und aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. In seinem Leitartikel legt Thomas Steininger einen Fokus auf die Entwicklung der Naturwissenschaften und darauf, wie sie unsere Erfahrung der Welt verändert haben. Dabei haben wir viel gewonnen, aber auch Wichtiges verloren. Und er fragt: Vor welche notwendige Transformation unseres Denkens und Seins in der Welt stellen uns heute die Grenzen der Wissenschaft?

Der Wissenschaftstheoretiker Harald Walach analysiert Dynamiken und blinde Flecken der gegenwärtigen Naturwissenschaft vor allem auch am Beispiel der medizinischen Forschung und des Umgangs mit alternativen Heilverfahren. Er will Wissenschaft neu und erweitert denken. Die Neurowissenschaftlerin Marjorie Woollacoot schildert ihren eigenen Weg zu einer post-materialistischen Wissenschaft, die das Phänomen des Bewusstseins ernst nimmt. Und Nikolaus Stillfried erkundet als Philosoph und Berater, wie die erfahrbare Wirksamkeit von Familien- bzw. Organisationsaufstellungen wissenschaftlich begründet werden könnte und was sie über die Grenzen solcher Begründungen aussagt.

Wie die Objektivität der Wissenschaft, auf die sie selbst einen Anspruch erhebt, immer wieder durch kulturelle Annahmen getrübt wurde, untersucht Elizabeth Debold in ihrem Artikel. Und der Biologe Merlin Sheldrake fragt, wie neue wissenschaftliche Erkenntnisse über das Gewebe des Lebens auch unsere Wissenschaft und unser Selbstverständnis als Menschen verändern könnten.

Vom Gewebe des Lebens erzählen auch die künstlerischen Arbeiten von Inge Barié, mit denen wir diese Ausgabe gestalten konnten. Sie studierte Archäologie und hat ihren forschenden Blick um poetische Einfühlung erweitert. So entsteht ein schöpferischer Prozess, in dem die Materialien, mit denen sie arbeitet, transformiert und neu erschaffen werden. Diese transformative Kraft schien uns in Resonanz mit der Frage nach einer möglichen Transformation der Wissenschaft und damit auch unseres Blicks auf die Welt zu gehen.

Gegenwärtig sind unsere Welt und unser aller Leben von großer Unsicherheit geprägt. Auch für uns ist dies eine herausfordernde Zeit. Es bleiben Anzeigenkunden aus, weil keine Veranstaltungen stattfinden können. Und auch unsere eigenen Veranstaltungen, die wir für evolve LIVE! geplant haben, und unsere evolve Salons finden momentan im virtuellen Raum statt. Dabei entdecken wir aber auch immer wieder, dass hier tiefe, ko-kreative, bestärkende Begegnungen möglich sind. Deshalb möchten wir Sie ermutigen, auch unsere virtuellen Angebote zu nutzen und freuen uns auf lebendige Dialoge mit Ihnen.

Vor allem aber möchten wir uns bedanken, dass Sie uns als Leserinnen und Leser in dieser Zeit unterstützen – mit Ihrer Aufmerksamkeit, Ihrem Feedback, mit Ihrem Abonnement, mit der Weiterempfehlung unseres Magazins, mit dem Hören unseres Radio evolve, mit Spenden und der Teilnahme an Salons und Seminaren. Für diesen Austausch mit Ihnen haben wir den Begriff eines »Geschenkkreislaufs« geprägt, in dem wir einander Aufmerksamkeit, Kreativität und Wertschätzung schenken (s. S. 5). Und darin vielleicht auch die tiefe Verbundenheit und wechselseitige schöpferische Kraft des Lebens spüren.

In dieser Zeit sehen wir unsere Aufgabe als Magazins eben auch darin, Ihnen mit tieferem Forschen über die Herausforderungen und Potenziale dieser Zeit inspirierende Denkanregungen und Erfahrungsimpulse zu geben – und die Zuversicht zu teilen, dass eine schöpferische Transformation möglich ist, die dem Ganzen des Lebens in und zwischen uns Entfaltungsraum gibt.

Herzlichst
Mike Kauschke
Leitender Redakteur