Editorial 30/2021

Es ist eine Erfahrung, die ich immer wieder mache: In den evolve Salons zu dem Thema einer Ausgabe zeigt sich, wie aus einer inneren Notwendigkeit schon das Thema des nächsten Magazins, auf das wir auch in unseren Redaktionsgesprächen gestoßen sind. Dieses Mal fiel es mir besonders auf, wie in den Salondialogen, an denen ich beteiligt war, im Gespräch über den Wert und die Grenzen der Wissenschaft die Frage nach der Kunst im Raum zwischen uns auftauchte. Und nicht so sehr die Kunst als besondere Ausdrucksform, sondern als kreativ-ästhetische Gestaltungskraft in jedem Menschen und im Gewebe, vielleicht sogar im Herzen der Gesellschaft.

In unseren Redaktionsdialogen zeigte sich diese schöpferische Kraft, unser Leben neu in den Blick zu nehmen und umfassender zu verstehen, als eine Qualität, die heute in Zeiten globaler Krisen besonders wichtig ist. Auf diese Krisen werden wir nicht allein durch wissenschaftliche Erkenntnisse oder moralische Appelle antworten können, wir brauchen auch die weltenöffnende, visionäre Kraft der Kunst. 

Kaum jemand hat Kunst so radikal als gesellschaftsverändernde Kraft gedacht, ausgeübt und ins Gespräch gebracht wie Joseph Beuys, der in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden wäre. In seinem Erweiterten Kunstbegriff wollte er der Gesellschaft in all ihren Bereichen neue Impulse geben. Es sind Impulse, die bis heute nachwirken und in vielem eine brennende Aktualität zeigen, auch wenn man mit Beuys‘ Kunst zunächst nicht so viel anfangen kann. Aber diese Ausgabe soll weit mehr sein als eine Hommage an den künstlerischen Provokateur. 

In unseren Redaktionsgesprächen, den Interviews und unseren Artikeln haben wir uns auf die Suche gemacht nach der einzigartigen Kraft, die der künstlerische Blick auf die Welt, der ästhetische Umgang mit unseren Lebensumständen, die schöpferische Suche nach neuen Möglichkeiten des Zusammenlebens eröffnet. Denn, so war es Beuys‘ Überzeugung, alles ist gestaltbar und wir sind die Mitgestalterinnen und Mitschöpfer unserer Wirklichkeit. Für diesen Prozess der gemeinsamen Gestaltung prägte er den Begriff der Sozialen Plastik. 

In seinem Leitartikel untersucht Thomas Steininger, wie sehr Kunst immer auch ein Erfahrungsraum für eine heilige Dimension des Lebens war. Und er befragt Beuys‘ Werk nach dieser Öffnung in ein unaussprechbares Geheimnis. Der Philosoph und Waldorfpädagoge Bodo von Plato sieht eine radikale transformative Kraft in der Ästhetik, die es heute neu zu erschließen gilt.  

Weggefährten von Beuys, die Sozialkünstlerin Shelley Sacks und der Philosoph Volker Harlan, sprechen in ihren Interviews mit uns über das, was sie von dem Künstler und Menschen Joseph Beuys gelernt haben und wo sie heute diese Anregungen weitertragen und in die gegenwärtige Relevanz führen. Aufbauend auf seinen Gedanken sucht auch die Kulturwissenschaftlerin Hildegard Kurt nach Denkanstößen für unsere bedrohte Zeit »am Epochenrand«. 

Mit Arawana Hayashi vom Presencing Institute sprachen wir über verkörperte Formen sozialer Intelligenz, die sie mit dem Social Presencing Theater erforscht. Und das ästhetische Aufbegehren gegen Artensterben und Klimakatastrophe, für das Extinction Rebellion steht, untersuchten wir mit Skeena Rathor, einer der Mitbegründerinnen dieser globalen Bewegung. 

Da wir bei vielen Beiträgen die weiterführende Arbeit unserer Interviewpartnerinnen auch visuell vermitteln wollen, ist die Gestaltung dieser Ausgabe etwas anders als gewohnt. Zudem ist es rechtlich sehr schwierig, Abbildungen von Beuys-Werken zu zeigen. Deshalb lassen wir den Künstler durch einige seiner Materialien und Gegenstände sprechen, die in seinem Werk zentral waren, wie etwa Filz, Fett, Honig, ein toter Hase oder der Schlitten. In kurzen Bildtexten setzten wir sie in den Zusammenhang seines Schaffens. Und einige der Aktionen, Vorträge und Dialoge haben wir am Ende der Beiträge verlinkt. Wie Sie sehen werden, es ist immer ein Erlebnis, Beuys selbst sprechen zu hören.

Joseph Beuys wird auch bei unseren geplanten evolve Live! Veranstaltungen eine Rolle spielen, wenn wir mit dem Filmemacher Rüdiger Sünner über dessen biografischen Beuys-Film sprechen. Wir freuen uns, diese Veranstaltungsreihe fortzusetzen und hoffen, uns auch bald wieder live dazu zu treffen. (s. S. 4) 

Ein weiteres Projekt, das wir gerade entwickeln, ist eine völlig neue Webpräsenz für unser Magazin und unsere weiteren Aktivitäten. Sie soll ansprechender, dialogischer und inhaltsvoller werden. Für diese Entwicklung suchen wir auch weitere finanzielle Unterstützer. (s. S. 5)

Wir hoffen, Ihnen in unserer herausfordernden Zeit mit dieser Ausgabe auch den Geschmack einer möglichen, gestaltbaren Transformation geben zu können. Dass ein solcher Wandel nötig und möglich ist, verfolgte Joseph Beuys mit unnachgiebigem Optimismus. Und er sah in jedem Menschen das Potenzial, an dieser Neugestaltung unserer Gesellschaft mitzuwirken, denn, so sein bekannter Spruch: »Jeder Mensch ist ein Künstler.« 

Herzlichst
Mike Kauschke
Leitender Redakteur