Editorial 31/2021

Coverabbildung: Eine Arbeit  der amerikanischen Künstlerin Edith Vonnegut

Jede Ausgabe von evolve führt in einer bestimmten Weise die Themen der vorherigen Ausgabe fort, antwortet darauf, wendet sich einem die Perspektive erweiternden Aspekt zu. Das war eigentlich schon seit Beginn des Magazins so, aber bei den vergangenen Ausgaben ist es uns besonders aufgefallen. Als wir das Thema Sinn und Sinnfindung aufgriffen, fragten wir danach, wie wir in der heutigen komplexen Welt die Ereignisse verstehen und darin eine sinnvolle Orientierung finden können. Das erscheint in der gegenwärtigen Zeit der Corona-Pandemie besonders herausfordernd. Deshalb erwarten wir uns Klarheit von der Wissenschaft, deren Macht und Grenzen wir in der darauffolgenden Ausgabe untersuchten. Dabei wurde auch klar, dass das wissenschaftliche Forschen eine bestimmte Form des Erkennens und Gestaltens der Welt ist. Der schöpferisch-künstlerische Zugang, den wir in der letzten Ausgabe vertieften, kommt eher aus einer verbundenen Resonanz mit der Welt als aus einem objektiven Analysieren. Nach diesem Schwerpunktthema mit dem Titel »Kunst öffnet Welten« stand nun für uns die Frage im Raum, was das folgende Thema sein könnte. Dabei ist es so, dass wir in der Redaktion im Dialog erforschen, welcher Aspekt jetzt sinnvoll sein könnte, welche Fragen gerade auch gesellschaftlich eine starke Resonanz und Dringlichkeit entfalten. So zeigt sich das Thema aus dem Prozess des gemeinsamen Erkundens. Oft entsteht dabei der Eindruck, dass unser Magazin auch eine Art lebendiger Organismus ist, der sich inhaltlich mit einer eigenen Intelligenz entfaltet. 

Diesmal zeigte sich in unseren Gesprächen ein Aspekt, der zunächst nicht so leicht zu fassen war, aber uns in eine Tiefe wies, die uns oft nicht bewusst ist: in den Raum des Mythischen. Uns ist aufgefallen, dass in der intensiven Polarisierung und den Rissen im sozialen Gefüge, die wir gegenwärtig beobachten, viele Menschen in völlig unterschiedlichen Geschichten zu leben scheinen, von denen viele eine Dynamik von Gut gegen Böse verstärken. Wir bemerkten die mythische Dimension dieser gegeneinander kämpfenden Geschichten. Das brachte uns dazu, den Mythos und die Narrative genauer zu betrachten. Haben wir als westliche Rationalisten den Mythos zu leicht beiseitegeschoben? Haben wir etwas nicht beachtet?

Thomas Steininger greift die Frage nach unserer Ablehnung des Mythos auf. Er fragt, ob wir dabei etwas Wesentliches übersehen haben – und ob wir durch das Fehlen von Geschichten, die uns zusammenhalten, einen Anstieg regressiver Mythen erleben. Tomas Björkman erforscht die Wege, wie wir unsere Kultur gestalten können. Mit ihm sprachen wir über mögliche neue Mythen, die uns einen Weg in die Zukunft weisen können.

Die Gestaltungskraft der Imagination beschreibt Gary Lachman, der sich intensiv mit mystischen und poetischen Denktraditionen beschäftigt hat. Die Imagination, die hier gemeint ist, sollten wir aber nicht missverstehen als Fantasie oder Einbildung. Die moderne Mystikerin Cynthia Bourgeault erklärt, dass wir darin subtile Ebenen der Wirklichkeit erfassen können. Dieser Überzeugung ist auch der Künstler und orthodox-christliche Denker Jonathan Pageau. Er hat sich in die Wirkkraft der Symbole vertieft, die heute auch von der Kognitionswissenschaft neu entdeckt wird. Die Tiefenpsychologie nach C. G. Jung hat bei der Erforschung der Wirksamkeit von symbolischen und mythischen Dimensionen Pionierarbeit geleistet. Wir freuen uns, dass wir mit Ingrid Riedel, einer der wegweisenden Vertreterinnen der Jung‘schen Psychologie im deutschsprachigen Raum, sprechen konnten.

Angezogen von mythischen Bildern ist auch die US-amerikanische Künstlerin Edith Vonnegut, mit deren Arbeiten wir diese Ausgabe gestalten konnten. Von klein auf faszinierten sie die Bilder der alten Meister und sie versucht in ihren Arbeiten, dem Stil und der Ausdruckskraft dieser Vorbilder nahezukommen. Dabei möchte sie vor allem das Bild der Frau verändern und zeigt Frauen in mythischen Abbildungen als Heldinnen des Alltags. Auch unser Umgang mit der Natur oder die Anerkennung der einfachen Arbeiterinnen und Arbeiter ist ihr ein Anliegen. Wir fanden, dass dieser Versuch, »dem Gewöhnlichen etwas Majestätisches zu geben«, dem Anliegen des Mythischen entspricht. Zudem fanden wir den hintergründigen Humor mancher Bilder erfrischend.

Neben der Arbeit an dieser Ausgabe sind wir gerade intensiv damit beschäftigt, unsere neue Webplattform evolve World zu gestalten. Dafür suchen wir noch weitere Unterstützung und möchten uns bei allen bedanken, die uns dabei schon geholfen haben (s. S. 5 ). Leider wird uns unsere Geschäftsführerin Martina Etemadieh nach mehr als drei Jahren fruchtbarer Zusammenarbeit Ende des Jahres verlassen, um ihren Traum vom Reisen zu erfüllen. Wir möchten uns ganz herzlich bei ihr für ihren Einsatz bei der Weiterentwicklung von evolve bedanken! Deshalb suchen wir jemanden für diese Stelle, der oder die uns bei der bevorstehenden Integration der verschiedenen Bereiche unserer Arbeit unterstützen kann (s. S. 53 ).

Wir hoffen, dass Sie diese Ausgabe so sehr zum tieferen Forschen anregt wie uns. Wir würden uns freuen, wenn Sie Ihre Gedanken zu dieser Ausgabe in Form von Leserbriefen mit uns teilen. Und wir freuen uns auf die Dialoge in den evolve Salons oder unseren evolve Live! Veranstaltungen.

Herzlichst
Mike Kauschke
Leitender Redakteur