Editorial 32/2021

In der vergangenen Ausgabe von evolve haben wir uns gefragt, welche Macht die Mythen heute noch haben. Dabei wurde uns klar, dass wir alle in mythischen Bildern leben, dass wir uns durch Narrative und Geschichten die Welt erklären, dass wir die Imagination und Vorstellungskraft nutzen können, um unsere Welt zu gestalten. Und in dieser Ausgabe nun haben wir uns ausgehend von dieser Einsicht entschlossen, einen Kernmythos der Gegenwart zu beleuchten: Den Mythos des Marktes. 

In unseren Redaktionsgesprächen entwickelte sich aus der Erforschung der allgegenwärtigen Wirkung einer Wirtschaft, die auf Wettbewerb, Wachstum und Profit beruht, der Blick in neue Formen von gesellschaftlichen und ökologischen Beziehungen. Denn wenn wir erkennen, dass die Interaktionen des Marktes von uns geschaffen wurden, dann verstehen wir, dass wir sie auch verändern können. Und wir erfuhren, dass es heute viele Vordenkerinnen und Aktivisten gibt, die Visionen für neue wirtschaftliche Beziehungen entwickeln. Sie hinterfragen die Grundlagen unseres gegenwärtigen Systems.

Ein System, das von einer Magie des Marktes getragen wird, wie es Thomas Steininger in seinem Leitartikel ausführt. Er beschreibt die Geschichte der Idee des Marktes bis hin zu seiner zentralen, nahezu gottgleichen Rolle in unserer Gegenwart. Und er fragt, was wir als Einzelne und als Gesellschaf entwickeln müssen, um uns unsere Welt neu vorzustellen und sie neu zu gestalten.

Der Ökonom Walter Ötsch erklärt die Entstehungsgeschichte des Mythos des Marktes und wie daraus alle Lebensbereiche ökonomisiert wurden. Das hat seiner Ansicht nach zu einem Verlust der politischen Fantasie geführt. Seine Kollegin Silja Graupe, die an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung setzt bei der Fantasie an und sucht nach Wegen, unsere Kräfte der Imagination freizusetzen, so dass wir uns eine andere Form des Wirtschaftens überhaupt vorstellen können. Graupe untersucht in ihrer Arbeit auch die Rolle des Geldes als treibender Mechanismus des Marktes.

Eine visionäre Kraft erfüllt auch die Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Raworth, die mit ihrem Ansatz der Donut-Ökonomie weltbekannt wurde. Sie fragt sich, wie der Einsatz für soziale Gerechtigkeit und den ökologischen Wandel zusammenfinden können. Mit dem Doughnut Economics Action Lab berät sie Städte, Kommunen, Organisationen und Nationen auf dem Weg der sozialen und ökologischen Transformation. Wie Raworth kritisiert auch der Ökonom und Dramatiker Tim Jackson noch einen weiteren Mythos, der mit dem des Marktes eng zusammenhängt: Den Mythos des endlosen Wirtschaftswachstums. Jackson hat die britische Regierung beraten, war aber enttäuscht über die mangelnde Umsetzung von Regulierungen, die eine Wirtschaft ohne Wachstum anstreben. Dies veranlasste ihn dazu, sich eingehender mit den historischen und philosophischen Themen zu befassen, die einen anderen Ansatz für unser gemeinsames Menschsein bieten könnten. Auch für John Fullerton war die Einsicht, dass auf einem begrenzten Planeten kein endloses Wachstum möglich ist, ein Aha-Erlebnis. Die persönliche Geschichte seines Weggangs von JPMorgan zeigt, wie der Mythos des Marktes uns gefangen hält. Aus dem Vertrauen in die regenerative Kraft in der Natur, im Menschen und der Gemeinschaft schöpft auch Tyson Yunkaporta, der aus der indigenen Tradition der Aborigines stammt und das Indigenous Knowledge Systems Lab an der Deakin University in Melbourne gegründet hat. In seinem Buch »Sand Talk« und seiner akademischen Arbeit nutzt er indigene Forschungsmethoden zum Verstehen der globalen Herausforderungen und für neue Lösungsansätze.

Auch aktuelle technische Entwicklungen im Web 3.0 wie Kryptowährungen und Token scheinen neue Impulse für eine Neugestaltung des Marktes zu geben. Sie versprechen dezentrale Formen des Austauschs, in die bestimmte soziale und ökologische Werte einprogrammiert werden können. Diese Möglichkeiten besprechen wir mit der Token-Expertin Angela Kreitenweis, und Elizabeth Debold untersucht, wie die Krypto-Ökonomie die Beziehung zwischen dem Markt und unseren Identitäten verändern könnte. 

Die Frage nach unserer Identität, nach der Geschichte und den vielschichtigen Verbindungen durch Handel, Reisen und globaler Wirtschaft geht die Künstlerin Susan Stockwell in ihren Arbeiten nach. Dabei lässt sie sich von verschiedenen Materialien inspirieren und führen, wie Gummischläuchen, elektronischen Bauteilen, Landkarten oder Geldscheinen. Es sind Symbole, die auch unsere ökonomischen Beziehungen widerspiegeln und in ihren Arbeiten reflektiert sie über Geschlechterfragen, Kolonialismus und Konsum. Deshalb sind wir sehr dankbar, dass wir diese Ausgabe mit Fotos ihrer wunderschönen und zum Nachdenken anregenden Werke gestalten durften.

Ein gemeinsamer Nenner vieler Beiträge in diesem Heft ist der Wert der menschlichen Beziehung, wenn darin die Kräfte der Imagination, der Gestaltungskraft und Ko-Kreativität leben können. Wir als evolve sind gerade dabei einen virtuellen Raum für solch eine Beziehungskultur zu gestalten: das „Communiverse“, der Community-Bereich unserer neuen Webplattform evolve World. Hier werden Sie Texte, Podcasts und Videos zu unseren evolve-Themen finden, können dazu in den Dialog treten und sich mit anderen Leserinnen und Lesern vernetzten. In unserer Vision ist das Webportal „evolve World“ ein dynamischer Lebensort, wo Sie sich als Leserinnen und Leser dialogisch einbringen, und die Ideen, Lösungsansätze und Handlungsimpulse mitgestalten können, die uns bei evolve bewegen. Mehr dazu finden Sie auf S. 5.

Wir freuen uns, Sie in unserem Communiverse zu treffen und dort oder in einem unserer Salons über die Themen dieser Ausgabe zu sprechen. Und wir hoffen, sie eröffnet Ihnen so wie uns neue Visionen einer Wirtschaft, die dem Lebendigen dient. 

Herzlichst

Mike Kauschke

Redaktionsleiter