Editorial 37/2023

»Es war eine lange und epische Reise, die die Menschheit wieder heimgeführt hat – geerdet und hoffentlich erneuert und bereit für den kommenden Kraftakt der Wiederbelebung des Lebens. Die Erde erwartet uns.« Diese Zeilen aus dem Buch »Das Zeitalter der Resilienz« von Jeremy Rifkin, einem der bekanntesten gesellschaftlichen Vordenker unserer Zeit, spricht eine kulturelle Vision der neuen Ausrichtung und Teilhabe am Lebendigen an, die zunehmend weite Kreise zieht. Unter dem Überbegriff der Regeneration erforschen Menschen in verschiedenen Bereichen, was es heißen könnte, unsere gesellschaftlichen Prozesse in Ökologie, Wirtschaft, Bildung, Finanzen, aber auch in unserem eigenen Leben, in regenerativen Gemeinschaften und im demokratischen Miteinander von der Weisheit des Lebendigen leiten zu lassen.

In der letzten Zeit ist uns diese Idee der regenerativen Kulturen immer wieder begegnet und wir haben uns gefragt, was genau es damit auf sich hat. Inwieweit ist es wirklich mehr als die oft erwähnte, aber selten erreichte Nachhaltigkeit, die häufig zum inhaltsleeren Gemeinplatz politischer Diskussionen geworden ist. Wird nun mit Regeneration ein weiteres Label benutzt, um unter dem Deckmantel angeblicher ökologischer Veränderung einfach so weiterzumachen wie bisher? Worin liegt das Besondere, das Radikale, das Neue in der Theorie und Praxis regenerativer Kulturen?

Dazu hatten wir Gelegenheit, mit einigen Vordenkern und Praktikerinnen dieser neu aufkeimenden Weltsicht zu sprechen. In seinem Leitartikel betrachtet Thomas Steininger die kulturelle Emergenz des regenerativen Paradigmas vor dem Hintergrund unserer Menschheitsentwicklung, in der neue kulturelle Sprünge immer auch von einer neuen Sicht der Welt ausgelöst wurden. Befinden wir uns also mitten in einem solchen Entwicklungssprung?

Daniel Christian Wahl ist sich dessen sicher. Mit seinem Buch »Regenerative Kulturen gestalten« ist er einer der Forschenden, die das Selbstverständnis und die Umsetzung regenerativer Kulturen vielschichtig umrissen haben. Auch Joe Brewer gilt als ein Vordenker der Regeneration, zu der für ihn eine Neubelebung der Bioregionen gehört, die sich in einem planetaren Bewusstsein verbinden.

Diese Vernetzung wird auch durch die digitale Technologie möglich, die zunächst einem regenerativen Paradigma zu widersprechen scheint. Aber gerade in der jüngeren Generation von Aktivistinnen und Netzwerkern werden die dezentralen Netzwerke des Web3 genutzt, um regenerative Projekte weltweit zu vernetzten und mit eigenen Kryptowährungen zu experimentieren. Vienna Rae-Looi ist eine solche Digital Native, die Technik mit Spiritualität und regenerativem Aktivismus verbindet.

Die Frage eines neuen Umgangs mit Kapital beschäftigt auch Daniel Dahm. Er engagiert sich seit vielen Jahren in der Umsetzung einer nachhaltigen, lebensdienlichen Entwicklung in Politik, Gesellschaft und (Finanz-)Wirtschaft. In unserem Interview erklärt er, dass wir unser Verständnis von Kapital radikal erweitern müssen, um neue Formen des Wirtschaftens zu finden. Mit anderen Formen von Austauschbeziehungen experimentiert Thomas Hann in seinem Ansatz der regenerativen Genossenschaften, in denen sich Menschen lokal zusammenschließen, um ihre Region neu zu beleben, ohne dabei auf äußere Investitionen zurückgreifen zu müssen.

Die Transformation in unserem Bewusstsein, die mit den Qualitäten des  Regenerativen eigentlich angesprochen ist, betont Heike Pourian. Sie versteht Regeneration aus ihrer Arbeit als Tänzerin auch als inneren Umgang, einem Tanz mit den Kräften des Lebens. Franz-Theo Gottwald, der sich seit vielen Jahren für eine ökologische Agrar- und Ernährungskultur einsetzt, spricht ebenfalls diesen Bewusstseinswandel an, den er mit dem Ansatz der »Planetaren Gesundheit« beschreibt, der über mechanistisch-technische Manipulationen hinausgeht und der Kraft des Lebendigen vertraut.

Dieses Vertrauen in die natürliche Werdekraft kommt auch in den Arbeiten des australischen Künstlers Jamie North zum Ausdruck, mit dessen Werken wir diese Ausgabe gestalten konnten. Er verbindet Beton, eines der scheinbar kältesten Materialien und Sinnbild für die menschliche Umgestaltung der Natur, mit lebenden Pflanzen. Die Betonskulpturen, die zum größten Teil aus Schlacken und Industrieabfall bestehen, werden zum neuen Lebensraum kleiner Biotope. Die Kunstwerke entfalten ihr eigenes Leben, werden zum Symbol für die unaufhaltsame Kraft des Lebens selbst.

Vielleicht sind regenerativen Kulturen aus derselben Kraft des Lebens gespeist, die uns nun in einer Zeit multipler Krisen darauf hinweist, dass der Weg nach vorn eine Neubesinnung ist auf die Weisheit, die Prozesse und Qualitäten des Lebendigen in uns, im menschlichen Miteinander, in der Verbundenheit mit allen Wesen, im kosmischen Prozess der Entfaltung des Lebens – die in uns Bewusstsein findet, durch das wir befähigt sind, mitfühlend und schöpferisch die Zukunft mitzugestalten.

Wir alle sind eingeladen, uns in diesem Geiste zusammenzufinden und co-kreativ an dieser kulturellen Vision mitzuwirken. Unser neues Webportal evolve World möchte ein Knotenpunkt, eine Heimat, ein Sprungbrett solch einer Vernetzung sein. Wir danken allen, die uns bei diesem Vorhaben finanziell, aber auch inhaltlich unterstützen. Und wir freuen uns auf die Dialoge, Kooperationen und die Vernetzung, um dem, was regenerative Kulturen sein können, weitere Konturen zu geben. »Die Erde erwartet uns.«

 

Herzlichst

Mike Kauschke

Redaktionsleiter