Eine neue Kraft 

Die Bedeutung der regenativen Kulturen

Unser Bild der Wirklichkeit ist brüchig geworden. Es ist Teil der Krise. Die Vision und Praxis regenerativer Kulturen blickenmit vielleicht neuen Augen auf diese Welt. Allein neu sehen zu lernen, ist ein Anfang. In diesem neuen Blick zeigt sich auch eine neue Kraft.
Thomas Steininger

Unsere Zeit ist ein radikaler Übergang. Nur, wir wissen nicht, wohin. Neben den vielen sich türmenden Krisen zeigt sich aber noch eine bedrohliche Perspektive: Der Transhumanismus bringt uns vielleicht den Triumph der Technik über Mensch und Natur. Die digitale Welt hat uns im vollen Umfang erfasst. Fast jeden Tag feiert die künstliche Intelligenz neue Erfolge.

Der ChatGPT beweist gerade, wie Künstliche Intelligenz in Sekundenschnelle kluge und informierte Antworten auf schwierigste Fragen aller Bereiche geben kann. Plattformen wie Instagram kennen unser scheinbar „Innerstes“ und der Aufmerksamkeitsindustrie gelingt es, auf immer mehr Feldern ganze Kulturen zu steuern. Wenn nun jemand wie Ellen Musk Twitter kauft, wird er damit auch zum Besitzer eines realen, globalen Gehirns, das mit seinen 250 Millionen Usern die Gedanken und die Auseinandersetzungen dieser Welt immer besser versteht.

Eine Begegnung mit dem Neurowissenschaftler Thomas Metzinger hat mich besonders wachgerüttelt. Thomas Metzinger sitzt in mehreren internationalen Kommissionen über ethische Fragen zur allgemeinen künstlichen Intelligenz. Er überraschte mich in dem Gespräch, mit welcher Vehemenz er davon überzeugt ist, dass die transhumanistische Herausforderung der allgemeinen künstlichen Intelligenz mit der Klimakrise gemeinsam die größte Bedrohung der Menschheit darstellt.

Haben wir eine Antwort?

Was sind unsere Antworten darauf? Im letzten Jahr ließ mich eine neue Bewegung für „regenerative Kulturen“ hellhörig werden. Nicht nur sah ich hier eine völlig andere Vision für unseren Umgang mit Erde, Menschen und Technik. Ich sah auch, dass es in vielen Ländern Menschen gibt, die nicht nur darüber nachdenken, sondern hier bereits erstaunlich viel tun. Hölderlins Satz „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“ ist vielleicht zu pathetisch gesprochen, aber ich fand es erstaunlich, wie das Vorhandensein einer gelebten, anderen Zukunftsperspektive meinen Geist öffnete und neue Handlungsräume sichtbar werden ließ.

Unsere Gegenwart steht im Bann dystopischer Zukunftsbilder. Wo sind die Tage, in denen sich mit dem Wort Zukunft noch Hoffnung verband? Aber ohne das Bild einer erstrebenswerten Zukunft geht unsere Gestaltungskraft verloren. Etwas gemeinsam als möglich zu sehen, ist in sich selbst eine Gestaltungskraft. Natürlich braucht es auch äußere Voraussetzungen, um Zukunft zu ermöglichen. Unsere Vorstellungskraft braucht die Verbindung mit dieser äußeren Wirklichkeit. Aber wir unterschätzen oft die Kraft der Vision. Ein gemeinsam gestaltbarer Möglichkeitsraum bündelt unsere Energie. Lebenswege, die oft vereinzelt und fragmentiert nebeneinander existieren, finden zueinander und daraus entsteht eine gemeinsame gestalterische Kraft. Im Spannungsfeld zwischen einer reifen Individualität und einer gemeinsamen Verständigung darüber, was wir miteinander gestalten wollen, entsteht Zukunft.

Die Kraft einer neuen Vision

Die großen Übergänge der Kulturgeschichte entstanden immer auch aus einem neuen Bild der Wirklichkeit. Der Übergang von der späthellenistischen Kultur des Römischen Reiches zum Mittelalter wurde auch durch eines neues Bild des Heiligen möglich. Das waren nicht nur die vielen Graswurzel-Gemeinden der neuen christlichen Bewegung, auch in anderen Mysterienkulten wie dem Mithraskult entstand damals die Vorstellung des „einen Heiligen“, das in einer persönlichen Beziehung zu jedem einzelnen Menschen steht. Das war eine ganz andere Vorstellung als die Vielzahl der oft auch im Widerstreit stehenden Götter.

Vor allem im Christentum zeigte sich ein liebender Gott, der jeden einzelnen ganz persönlich meint. Das war eine Kulturrevolution, die zuerst in manchen Herzen und Köpfen entstand, die aber die Kraft hatte, 500 Jahre hellenistischer Kultur hinter sich zu lassen. Auch der Übergang vom Mittelalter in die Renaissance und Neuzeit entstand aus einem neuen Bild des Lebens und des Menschen. Der Einzelne, dessen Individualität nun sozusagen über die Jahrhunderte des Mittelalters in seiner Beziehung zu seinem Gott gereift war, entschied sich, nach dieser Jenseitsorientierung wieder zurück in diese materielle Welt zu finden. Die neu gefundene Individualität wurde im Übergang zur Renaissance auch zur Grundlage dafür, sich seines eigenen Verstandes mündig zu bedienen. Aus dem Christenmenschen wurde langsam ein demokratischer Bürger.

Meist entstehen diese neuen Wahrnehmungen der Welt inmitten großer Krisen. Im späten Mittelalter war ein Grund des allgemeinen Vertrauensverlusts das Wüten der Pest. Auch unsere Krisenzeit drängt auf eine neue Sicht der Welt, auf neue soziale Imaginative wie sie der Philosoph Charles Taylor nennt.

Etwas entsteht

So zeigt sich gerade an vielen Stellen ein Interesse an regenerativen Kulturen. Co-Living und Co-Working sind in aller Munde. Es gibt diesen Trend, gemeinsam aufs Land zu ziehen. New Work, aber auch neue Finanzierungs- und Bankmodelle haben Konjunktur.

In einem Gespräch mit Daniel Christian Wahl, einem der Vordenker regenerativer Kulturen, verdeutlichte er mir, das ein zentraler Gedanke dieser neuen Lebensformen darin besteht, wieder bewusst in einer Bioregion und auch als Teil einer lebendigen Landschaft zu leben. Bioregionen sind klein genug, damit es zwischen allen Beteiligten, auch der Erde und dem Land lebendige Feedbackschleifen geben kann. Dieses reale Beziehungsgeflecht, dass man noch erfahren kann, ist in der Lage, sich gegenseitig in seiner Entwicklung und Entfaltung zu stützen und zu tragen. Es gab einen zentralen Satz, der mich bei Daniel Wahls Ausführungen wirklich traf: Wir Menschen sehen uns in dieser Lebensform nicht als getrennte Akteure in dieser Bioregion. Wir können als Hüter der Landschaft und der Region zu ihrem bewussten Ausdruck werden. Die Region lebt gerade auch durch uns. Diese Wahrnehmung hat manche Ähnlichkeit mit dem Weltverständnis indigener Völker. Gerade für uns moderne Menschen trägt sie in sich ein revolutionäres Potential für unser Selbstverständnis darüber, was es bedeutet Mensch zu sein. Diese spirituelle Bewusstseinsdimension der regenerativen Kulturen ließ mich aufhorchen.

Eine der Wurzeln regenerativer Kulturen liegen in der Permakultur. In den 1970er Jahren entstand die Permakultur in Australien als ein System nachhaltiger Landwirtschaft und Landnutzung, die sich natürliche Ökosysteme zum Vorbild nahm. Wie können wir gemeinsam mit den Kräften der Natur eine sich selbst erhaltende Lebenswelt mitgestalten? Pflanzen, Orte, Böden aber auch Insekten und andere Tiere bilden intensive Beziehungsgeflechte. Manche Pflanzen formen enge Lebensgemeinschaften und unterstützen einander in ihrem Wachstum. Andere brauchen Distanz zueinander. Tiere, Tümpel und die Rhythmen der Jahreszeit leben in einem dynamischen Gleichgewicht. Wenn eine Gärtnerin diese Verbundenheit immer tiefer zu sehen und zu verstehen lernt, kann sie zur Hüterin und Pflegerin dieser Verbundenheit werden.

Der englische Permakultur-Lehrer Rob Hopkins gründete mit anderen im Jahr 2005 die Transition-Town-Bewegung, die damit begann, mit dieser feinen Sichtweise ökologischer Lebensräume auch in der Stadt- und Dorferneuerung zu experimentieren. Denn, auch in den Wirtschafts- und Beziehungsdynamiken regionaler Lebensräume zeigen sich diese selbst regulierenden ökologischen Kreisläufe, die wir pflegen und kultivieren können. Die Arbeit der Transition- Town-Bewegung mit ihrer ökologischen Tiefensicht auf menschliche Lebensräume wurde zu einem Erfolgsmodell, das sich über viele Länder der Welt verbreitete.

 

Lesen Sie den kompletten Text in der evolve Ausgabe 37/2023