Bernhard Pörksen: Auswege aus der Empörungsdemokratie – Wie wir heute medienmündig werden

Bernhard Pörksen Foto: Peter Andreas Hassiepen

Auswege aus der Empörungsdemokratie

Wie wir heute medienmündig werden

Bernhard Pörksen ist einer der renommiertesten deutschen Medienwissenschaftler. In seinem Buch „Die große Gereiztheit“ setzt er sich eingehend mit der Wirkung digitaler Medien auseinander und entwirft die Vision einer redaktionellen Gesellschaft, die uns alle zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der neuen Medienwelt auffordert.

evolve: Die neuen digitalen Medien sind ein grundsätzlicher Bruch mit der bisherigen Medienwelt, wie Presse, Radio oder TV. Welche neue Qualität entsteht hier?

Bernhard Pörksen: Wir befinden uns heute im Übergang von der Mediendemokratie alten Typs, aufgebaut auf institutionellen publizistischen Machtzentren, hin zur Empörungsdemokratie des digitalen Zeitalters. Die publizistische Macht franst heute aus. Sie verstreut sich, findet neue Orte. Jeder wird heute mit seinem Smartphone oder Netzzugang potenziell zum Sender. Jeder kann seine Ideen barrierefrei in die Erregungskreisläufe des digitalen Zeitalters einspeisen. Diese Veränderung scheint mir entscheidend. Die alten, klassischen Gatekeeper, die mächtigen Massenmedien werden schwächer. Sie werden von einer Refinanzierungskrise gebeutelt, von einem neuen Konkurrenzverhältnis und dem zunehmenden Medienmißtrauen bis hin zu den »Lügenpresse«-Schreien der Pegida-Anhänger.

Die großen Medien waren neben der Gesetzgebung, der Regierung und der Justiz die vierte Macht im Staat. In der Empörungsdemokratie des digitalen Zeitalters entsteht so etwas wie eine fünfte Gewalt, die Macht der vernetzten Vielen. Dies sind Ad-hoc-Gemeinschaften, die mal mit guten und mal mit weniger guten Absichten agitieren. Zum Beispiel ein Schwarm von wütenden Doktoranden, der sich über die plagiierte Doktorarbeit eines Verteidigungsministers erregt; die Freiheitsaktivisten des arabischen Frühlings; oder Menschen, die sich zu einem entsetzlichen Mobbingspektakel verbünden.

Böses Erwachen

e: Die digitalen Medien haben einmal als eine Utopie begonnen, bei der auch die Werte der Hippie-Kultur wie Verbundenheit und Gemeinschaftsbildung eine wichtige Rolle spielten. Viele dieser Hoffnungen haben sich heute fast ins Gegenteil verkehrt.

BP: Ja, wir haben in unserer europäischen Wahrnehmung des Silicon Valley die Computerrevolution gewissermaßen rationalistisch halbiert. Wir ignorieren weitgehend den missionarischen Impetus, die gegenkulturelle Chuzpe und auch die spirituelle Ambition vieler Akteure, der ersten Generation von Computerhippies, Menschen wie Stewart Brand, Howard Reingold oder Larry Brilliant.

Bei dem gegenwärtig zu erlebenden Übergang von der Euphorie zur Ernüchterung ist es zunächst einmal interessant, dass wir im Umgang mit den neuen Medien immer wieder das Schwanken zwischen Stimmungsextremen sehen. Die Behauptung, das Netz bestünde nur noch aus Trollen, Hass und Mobbing, stimmt natürlich nicht. Ich behaupte vielmehr, dass wir im Umgang mit den neuen Medien in einer Art mentalen Pubertät sind. Der aktuelle Stimmungswandel in Richtung einer Dystopie ist ein Symptom für die Überforderung, die wir nach dem Brexit, nach der Wahl von Donald Trump, mit den Hass-Kommentaren in den letzten Jahren beobachtet haben. Letztlich steckt in dieser veränderten Stimmung aus meiner Sicht ein großer, noch unverstandener gesellschaftspolitischer Bildungsauftrag. Wir müssen medienmündig werden, weil wir medienmächtig geworden sind. Publizistische Verantwortung liegt nicht mehr nur bei den klassischen Gatekeepern in Gestalt von Journalistinnen und Journalisten, sondern bei allen, die einen Netzzugang haben.

e: In den 80er Jahren gab es eine große utopische Hoffnung: Wenn jeder sich beteiligt, dann entwickelt sich ein großer, aufgeklärter Diskurs. Zunehmend zeigt sich aber, dass sich Echokammern bilden, in denen sich ein Hass artikuliert, über den wir erschrecken. Die momentane Katerstimmung kommt auch aus dem Erkennen, dass wir seelisch und menschlich auf diese neue Realität nicht vorbereitet sind.

BP: Das kann man so sehen, ja. Und in der Tat erleben wir eine dramatische publizistische Machtverschiebung. Man kann das an der Logik der Skandalisierung zeigen. Früher gab es einen Dreischritt der Skandalisierung: Jemand recherchiert etwas, was er für skandalisierbar hält, eine Redaktion entscheidet, ob es publiziert wird, und in einem dritten Schritt schaltet sich das Publikum zu – oder auch nicht. Das Publikum steht am Ende des Kommunikationsprozesses. In der Erregungsarena der Gegenwart ist das Publikum nun selbst zum entscheidenden Player geworden. Minimale Anstöße können unter vernetzten Bedingungen maximale Wirkungen erzeugen.

Zudem stellt die Fülle der unterschiedlichen Informationen besondere Anforderung an unser Reflexionsvermögen. Die Fülle einander widersprechender Informationen macht es in einer besonders verschärften Art und Weise notwendig, dass wir selbst Kategorien der Einordnung ausbilden. Wir sind in die Welt des Informationsreichtums eingetreten, die im Moment vor allem als eine Welt des Spektakels, des Ekelhaften und Abstrusen, des Bizarren und Bestialischen erscheint. Wir müssen uns selbst bilden, um von dieser Welt des Informationsreichtums zu profitieren. Ein reines sich Hingeben an Schlüsselreize des Spektakels tut dem eigenen Nachdenken, dem ausgeruhten Argumentieren nicht wirklich gut.

Pragmatische Utopie

e: Aber es ist ja nicht nur der Informationsreichtum, sondern es ist meist ein Informationsreichtum ohne Kontext. Heute kommen die Informationen täglich per Facebook oder Twitter völlig aus dem Zusammenhang gerissen auf uns zu und richten sich auf unsere Affekte. In einer freien Aufmerksamkeitsökonomie, die damit Geld verdienen muss, meine maximale Aufmerksamkeit zu erregen, werden natürlich gezielt meine Affekte angesprochen, damit ich hinsehe, damit ich auf das Video klicke.

BP: Wir haben es mit einer Informationswelt zu tun, in der sich Kontexte blitzschnell auflösen lassen weil die digitalisierte Information ungeheuer leicht beweglich ist, sie lässt sich teilen, aktualisieren, neu kombinieren, in immer andere Kontexte transferieren. Wir müssen uns fragen, in welchem Zusammenhang eine Äußerung, ein Zitat, ein Bild oder eine Filmminute gesehen werden müssen. Der Bildungsauftrag, den ich hier sehe, läuft aus meiner Sicht darauf hinaus, dass die journalistische Kerntugend, die besagt, dass man z. B. Ereignisse in einen Zusammenhang einordnen muss, zu einem Element der Allgemeinbildung wird. Auch andere journalistische Tugenden, wie die Orientierung an Wahrhaftigkeit, an Relevanz, an Zusammenhängen, die Orientierung an einem Ideal von Genauigkeit, Machtkritik, Transparenz oder der Umgang mit eigenen Fehlern müssen heute zu einem Element der allgemeinen Bildung werden. Das wäre, kurz gefasst, mein Verständnis des Bildungsauftrags, um uns aus der dystopischen Phase der neuen Medien in eine pragmatisch utopische Phase vorzuarbeiten.

e: Wird es, um aus dieser dystopischen Phase herauszukommen, reichen, wenn man die ethischen Grundwerte des Journalismus in die allgemeine Schulbildung einführt? Die Dynamik der neuen Medienwirklichkeit stellt unsere gesellschaftlichen Spielregeln ja gerade radikal auf den Kopf.

BP: Ich glaube, wir brauchen ein eigenes Schulfach, in dem Mediengeschichte, Machtanalyse und Medienpraxis gelehrt werden, und in dem man darüber nachdenkt, wie anfällig der Mensch für Propaganda ist. Es muss sich aber auch der Journalismus verändern, er sollte transparenter und dialogischer werden. Und wir müssen die etablierten Internet-Plattformen zwingen, ihre publizistische Verantwortung anzuerkennen. Es braucht hier eine kluge Form der Regulierung der Plattformen, die Kommunikationsfreiheit nicht beschneidet, sondern die Medienmündigkeit steigert. Plattformen, wie Facebook, Twitter oder andere soziale Netzwerke sind heute zu gigantischen Medienmächten aufgestiegen. Sie sind in einer merkwürdigen Zwitterposition, die wir begrifflich noch gar nicht verstanden haben. Sie stehen zwischen klassischen Medien, die Informationen auswählen und selektieren und sie dann dem Publikum präsentieren, und neutralen Instanzen, die einfach nur eine Informationsvermittlung bereitstellen. Die sozialen Netzwerke sortieren Informationsströme algorithmisch. Wir müssen diese publizistischen Großmächte der digitalen Gegenwart dazu zwingen, ihre publizistische Verantwortung anzuerkennen. Mein Vorschlag wäre ein Plattform-Rat als eine eigene neu zu schaffende Institution. Wir müssen verstehen, dass auch eine Internet-Plattform eine redaktionelle Linie hat. Dann können wir als Nutzer in einer sehr viel überlegteren Weise entscheiden, wie wir zu der Politik stehen, die eine Plattform zum Beispiel im Umgang mit Neonazis, Holocaustleugnern, Extremisten oder Hasspredigern unterstützt.

Netzwerk-Kompetenz

e: Ist eine Kompetenz, die wir in dieser neuen Netzwerkrealität lernen müssen, uns selbst viel vernetzter wahrzunehmen, als wir es gewohnt sind? Unsere europäische Sozialisation hat uns ja angeleitet, die Welt aus einer sehr individuellen und vereinzelten Sicht zu sehen. Jetzt wird auf einmal die Welt zu einem sichtbaren dynamischen, im besten Fall dialogischen Netzwerk. Braucht es hier nicht eine neue Kompetenz, dass wir lernen zu sehen, wie mein Input ganze dialogische Felder unmittelbar färbt, sie vielleicht polarisiert oder auch Verständigungsbrücken aufbaut, die erlauben, dass Felder nicht auseinanderbrechen.

BP: Ich verstehe, in welche Richtung Sie denken. Das ist eine interessante Frage, ich bin da selbst etwas unschlüssig, ob man so etwas wie eine Art Schwarmbewusstsein entwickeln müsste. In dem Moment, in dem ich vernetzt interagiere, ist potenziell alles möglich. Das ist etwas wie das erste Gesetz dieses Schwarmbewusstseins, das Sie mir gerade als Bildungsideal vorschlagen. In meinen eigenen Vorschlägen und meinem eigenen Denken bin ich etwas biederer, wenn Sie so wollen. Jeremy Rifkin hat schon sehr früh behauptet, die Vernetzung führe letztlich zu einer emphatischen Zivilisation. Ich sehe dafür relativ wenige Indizien, ich sehe eine brodelnde Ursuppe aus Relevanz, Irrelevanz, Schönheit, Schrecken, Bestialität, Banalität, Berührendem – all dies gleichzeitig. Es ist die totale Gleichzeitigkeit des Verschiedenen, die wir erleben. Für mich ist es ein Akt interpretierender Willkür, wenn wir den Aspekt der zunehmenden Empathie, des gelingenden Dialogs und des gelingenden Umgangs mit Resonanz als Charakteristikum herausnehmen und daraus ableiten, dass die Entwicklung in diese Richtung weitergehen wird. Für mich ist dies genauso ein Akt der willkürlichen Interpretation wie die Annahme, das Mobbing-Spektakel einer bestialischen Horde von Trollen würde für das Ganze des Netzes stehen. Für mich ist das Netz, wenn Sie so wollen, eine Art Rorschach Test: »Sage mir, was du in das Netz hineininterpretierst, und ich sage dir, wer du bist.« Und da lerne ich jetzt Sie, Herr Steininger, auf diese Weise als den Vertreter der Evolution des Bewusstseins neu kennen und Sie mich vielleicht als einen skeptischen Akademiker, der eher auf praktische Bildungsideale setzt, die sich folgendermaßen formulieren ließen: »Sei skeptisch! Arbeite nicht zu schnell! Prüfe erst, publiziere und poste später!« All dies sind handwerkliche Regeln, die mein Bildungsideal schon ausreichend markieren. Ich tue mich da schwer mit der globalen Annahme in Richtung einer Entwicklung von Empathie, Dialogorientierung und Resonanz. Genauso wie ich mich mit der gegenteiligen Annahme in Richtung von Monstrosität, Banalität und Hass schwer tue.

e: Ja, es gibt sicher beide Tendenzen. Mein Gedanke geht dahin, ob aus der entstehenden Macht der pluralen Vielen, die Sie so klar diagnostiziert haben, auch eine neue gesellschaftliche und kulturelle Verantwortung entstehen könnte. Wir sind Zeugen einer neuen Mächtigkeit der pluralen Vielen, insofern drängt sich die Frage auf, welche kulturellen und auch welche Bewusstseins-Kompetenzen es braucht, um dieser Wirklichkeit begegnen zu können. Wenn man in die Geschichte schaut, sind aus neuen Herausforderung immer auch neue Kompetenzen entstanden.

Ich sehe Indizien dafür bei einem Teil der jungen Generation, die mit dem Internet ganz neue Lebensformen und eine Art globale Identität entwickelt. Es gibt hier das Milieu der »Digital Nomads«, junge Menschen, die, ausgerüstet mit einem Laptop und beruflichen Fähigkeiten, die sie an keinen Ort binden, so etwas wie eine neue globale fluide Identität entwickeln. Schwarmintelligenz ist dort fast zu einem Lebensstil geworden. Ich sehe hier Vorzeichen eines neuen Lebensbewusstseins. Das hat alles auch seine Schattenseiten, aber hier entstehen neue menschliche Wirklichkeiten, die wir vielleicht dringend brauchen. Macht es nicht Sinn zu fragen, welche neuen Identitäten und Bewusstseinskompetenzen wir brauchen, um auf die neuen Herausforderungen der digitalen Welt Antworten zu finden?

BP: Ich argumentiere da sehr viel kleinteiliger, ein paar publizistische Handwerksregeln sind mir schon eine Antwort. Und in meinem eigenen Nachdenken über Ethik und Moral versuche ich unbedingt Abstand von jeder Form der Gesinnungsvorgabe zu nehmen. Ich möchte den Leuten nicht sagen, in welche Richtung sie denken sollen. Ich würde ihnen gerne Metaregeln an die Hand geben, die es ihnen erlauben, etwas für sie Interessantes auf eine reflektierte Weise selbst zu entdecken. Ich würde nicht vorgeben, was Medien veröffentlichen dürfen und sollten. Aber ich kann Hinweise geben, wie man recherchiert, wie man dem nahekommt, was man landläufig eine Tatsache nennt. Ich bin relativ allergisch gegen jede Form von Bevormundung und meine – vielleicht etwas übertriebene Befürchtung – wäre sofort, dass das Ideal eines empathisch vernetzten Zeitalters ein richtiges, erstrebenswertes, ideales Bewusstsein vorgibt. Mir ist es wichtiger, intensiver darüber zu sprechen, wie wir in der Schule, in der Medienwelt, im Privaten Kontexte schaffen können, in denen Menschen auf produktive und freudvolle Weise das entdecken, was sie begeistert und bewegt. Das ist eher eine übergeordnete Ethik als eine Ethik konkreter Antworten.

e: Das kann ich gut nachvollziehen. Ich nehme meine Hoffnung, dass hier neue Kompetenzen entstehen, zum Beispiel auch aus der Beobachtung, wie sich das Thema der Achtsamkeit in den letzten Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung etabliert hat. Achtsamkeit ist heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen, weil – so meine Vermutung – in einer Zeit der radikalen Beschleunigung und der Informationsflutung Meditation und Achtsamkeit eine völlig neue kulturelle Bedeutung bekommen. Kann man nicht das gleiche auch für ein Schwarmbewusstsein oder eine dialogische Netzwerk-Kompetenz vermuten?

BP: Aus meiner Sicht verläuft Kultur- und Bewusstseinsentwicklung im Sinne einer kompensatorischen Dialektik nicht notwendig in Richtung einer positiven Synthese. Das Extrem der Beschleunigung und die Fragmentierung von Information wecken das Bedürfnis nach dem Gegenteil, nach Ruhe, tiefer Konzentration, Medien der Stille, so würde ich sagen. Polarisierung und verbale Aggression wecken das Bedürfnis nach gelingender Kommunikation und einer respektvollen Form des Miteinander-Redens. Ob da mehr dahinter steckt im Sinne einer allgemeinen evolutionären Drift? Ich bin da skeptisch. 

Das Gespräch führte Thomas Steininger.

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Er erforscht die Macht der öffentlichen Empörung und die Zukunft der Reputation und veröffentlicht Bücher sowie – neben wissenschaftlichen Aufsätzen – Essays und Kommentare in vielen Zeitungen.

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In Zeiten digitaler Vereinnahmung
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