Leserstimmen zu evolve 02

Wir sind sehr beeindruckt von evolve. Auch frühere Hefte fanden wir enorm lesenswert, aber mit dieser Neuausgabe scheint uns eine Dichte, Klarheit und auch eine so gute Auswahl von Autoren zu gelingen, dass wir gerne dies kleine Feedback geben wollen. Es ist deshalb so wertvoll für uns, weil es lange nachdenkliche Überlegungen noch klarer macht, weil das lebenslange Zusammenfinden und Zusammenwünschen von Rationalität und Herzensgefühl so unglaublich spannend ist.
Also hiermit vielen Dank, dass es so eine Zeitschrift gibt, man fühlt sich mit  Gleich- oder Ähnlich-Denkenden – was wichtig ist, wenn man nicht mehr mobil genug ist (mit 93 und 85 Jahren), um verlockende Seminare zu besuchen.
 
Friederike von Müller, Berlin


Die große Herausforderung: „Tieftiefes“ Empfinden in der Welt zum Ausdruck zu bringen – es in klare Sprache zu fassen und im konkreten Handeln umzusetzen. Damit es sich nicht in Selbsterlösung erschöpft, sondern Wandlungskraft wird für eine lebendigere, heilere Welt.
Richtungsweisend und wohltuend anders als das, was die Eso-Szene so publiziert wird, ist Ihr neues Magazin. Intellektuell hochstehend und gleichzeitig spürig, die Vielfalt auslotend und doch fokussiert. Chapeau! Ich bin begeistert und dankbar.

Dr. Stephan Hofinger
www.seinundwerden.at



Zum Artikel „Die Achtsamkeitsrevolution“ (in dem wir über die Kritik an den Veranstaltern der „Wisdom 2.0“ Konferenz in San Francisco berichteten, die auf einen Auftritt von Aktivisten während eines Vortrags über Achtsamkeit nicht reagierten):

Ich bin mir nicht sicher, wie ich reagiert hätte, wenn ich der Veranstalter gewesen wäre. Immerhin saßen da eine Menge Leute, die für ein bestimmtes Programm bezahlt hatten. Wenn ich für den Kongress nach Amerika geflogen wäre (ein Unterfangen, das mal schnell in die Tausende Euros geht), dann hätte es mir vermutlich nicht gefallen, wenn der Veranstalter es zugelassen hätte, dass ich mich dort mit dem Thema der Wohnungssituation in San Francisco auseinandersetzen muss.
In Freund und Feind zu unterteilen ist eine automatische Vorgehensweise unseres Gehirns. Die Kategorisierung erfolgt blitzschnell und meistens unbewusst und sie erzeugt augenblicklich angenehme oder unangenehme Emotionen, die unsere Reaktion auf ein Geschehnis einfärben. Auch die Kritiker an der Reaktion des Veranstalters sind diesem Mechanismus zum Opfer gefallen, denn ihn für seine Vorgehensweise zu tadeln, ist ein Akt moralischer Verurteilung. Mit dieser Wertung sind die Kritiker selbst aus der Achtsamkeit herausgefallen.
Im DFME nennen wir Leute, die mit Argusaugen über die Achtsamkeit anderer wachen, auch gerne „die Achtsamkeitspolizei“. Als Achtsamkeitslehrerin bin ich inzwischen daran gewöhnt, dass Leute ihre Lupe auf mich richten und genau beobachten, was ich mache. Dass sie in mein Gehirn nicht hineinsehen können und nicht wissen, in welcher Geisteshaltung ich etwas tue, hält sie nicht davon ab, das eine oder andere als „unachtsam“ zu bewerten. Als “unachtsam”, gilt dann alles, was ihren persönlichen Werten, Vorstellungen, Bedürfnissen und Moralvorstellungen (ihren unbewussten inneren Programmen) nicht entspricht.
Die Achtsamkeitspraxis vereint viele verschiedene Tugenden. Unter anderem auch Mitgefühl. Wie wäre es mit der Haltung, für den, durch den plötzlichen und unerwarteten Auftritt der Aktivisten irritierten (und möglicherweise überforderten) Veranstalter, Mitgefühl zu haben. Wir können nicht in jeder Sekunde unseres Lebens achtsam sein; unsere Gehirnstrukturen verhindern das. Und ich glaube auch nicht, dass es darum geht. Es geht bestimmt nicht darum, dass wir alle „Saubermänner“ werden, sondern eher darum, dass wir uns darin üben, einem von uns als wertvoll erkannten Lebensstil zu folgen. Zu diesem Lebensstil gehört, weder uns selbst noch andere für ihr Tun zu verurteilen. Wie oft in unserem Leben machen wir diese Erfahrung: Wir verurteilen etwas als falsch oder schlecht und später stellt sich rückblickend heraus, dass es doch nicht falsch oder schlecht gewesen ist.
Mir fällt dazu ein Spruch des persischen Dichters Rumi ein, der mich in meiner Praxis stets begleitet: „Jenseits der Ideen vom rechten und vom falschen Tun liegt ein Feld. Dort warte ich auf dich.“
Wer Achtsamkeit praktiziert, lernt, Beobachtungen von Bewertungen zu unterscheiden. Er nimmt bereits erste Anzeichen angenehmer oder unangenehmer Gedanken oder Gefühle wahr, die als Reaktion auf ein Geschehnis in ihm spürbar werden. Er stoppt diesen Prozess und nimmt eine innere, nicht wertende Beobachterposition ein, die ihm ermöglicht zu erkennen, dass der Kopf sich gerade anschickt, in den wertenden Autopilotenmodus zu wechseln. Dieser achtsame Moment gestattet ihm, mit dem was er erlebt, bewusst, selbstbestimmt und  im Einklang mit seinen Werten und Überzeugungen umzugehen, statt unbewusst automatisch (und möglicherweise unangemessen) darauf zu reagieren.
Was ich beim Lesen dieses Artikels empfunden habe, war tatsächlich Mitgefühl: mit den Aktivisten, ebenso wie mit dem Veranstalter und auch mit den Konferenzteilnehmern. Offenbar befand sich niemand in einer komfortablen Situation. Dann habe ich nachgespürt, ob ich ebenfalls eine Neigung in mir erkennen kann, das Verhalten des Veranstalters zu verurteilen, ob ich die Dinge hätte anders haben wollen als sie waren, ob ich genauso gehandelt hätte, oder welche „bessere“ Lösung der Situation ich mir hätte vorstellen können.
Wenn eine Situation vorüber ist, fallen uns meistens tausend Reaktionen ein, die besser gewesen wären. Vielleicht geht es dem Veranstalter auch so. Wir wissen es nicht. Und es ist auch egal. Wir sind Menschen und weil wir Menschen sind, machen wir Fehler – wobei ich die Frage, ob das Verhalten des Veranstalters wirklich ein Fehler war, gar nicht bewerten möchte. Ich kann das Geschehen auf dem Kongress wertfrei stehenlassen, ohne Partei zu beziehen und habe folgendes daraus gelernt:
Sollte ich einmal in einer Situation spontan handeln (handeln „müssen“) und ich hinterher feststelle, dass mein Handeln nicht im wirklichen Einklang mit meinen inneren Werten stand, habe ich die Möglichkeit das zu bekennen, Selbstmitgefühl zu üben, dass ich es nicht besser hingekriegt habe und mir vorzunehmen, mich darin zu üben, in Stresssituationen mit mehr Achtsamkeit zu handeln.
Und noch etwas: Ich „muss“ das nicht öffentlich bekennen, denn es geht dabei um den inneren Prozess des Entwickelns von Achtsamkeit und nicht darum, von einem moralisch verurteilenden Publikum die Absolution erteilt zu bekommen.

Doris Kirch, Oldenburg

www.mbsr-ausbildung-dfme.de