MENSCHSEIN NEU LERNEN - es braucht uns

Foto: Vitor Schietti

An der Schwelle zwischen zwei Welten hängt der Übergang auch davon ab, ob wir bereit sind, über die Schwelle zu gehen. Nur, wir wissen nicht wohin. Was braucht es von uns, damit diese Zeit nicht nur ein Ende von etwas, sondern auch ein Anfang ist. Inneres Wachstum öffnet den Weg.

Thomas Steininger

Wir leben in einer Zeit zwischen den Welten, zwischen den Zeiten. Dieser Augenblick der Geschichte ist seltsam offen. Ein ganzes Zeitalter scheint zu Ende zu gehen. Aber welches? Erleben wir das Ende des europäischen Zeitalters? Jene 500 Jahre westlicher Vorherrschaft, die neben Kapitalismus, Kolonialismus auch die Ideale der liberalen Demokratie, des Individualismus und unserer Vorstellung von Menschenrechten mit sich gebracht hat?

Erleben wir das Ende des Kapitalismus? Der Wirtschaftstheoretiker Yiannis Varoufakis ist dieser Ansicht. Er spricht davon, dass wir bereits heute in einen neuen digitalen Feudalismus eingetreten sind, in dem die neuen Mächte wie Google und Facebook aber auch das chinesische Staatsunternehmen Baidu gemeinsam mit den Finanzzentren der Welt über die Kontrolle unserer Daten und mit den Mitteln der Aufmerksamkeitsindustrie auch die Kontrolle über unser Schicksal errungen haben. Ist die Coronakrise, vielleicht auch nur zufällig, der Einstieg in eine neue Dimension digitaler und sozialer Kontrolle? Oder erleben wir gerade das Ende der menschlichen Geschichte überhaupt, den Übergang in eine transhumanistische Zeit, in der selbstlernende Künstliche Intelligenz die Geschichte schreiben wird?

All diese Fragen werden noch überragt von der Klimakatastrophe, die unseren Planeten ins Wanken bringt. Führt sie in das Zeitalter eines globalen Bürgerkriegs, in dem wir versuchen werden, die europäische Festung gegen die Millionen von Klimaflüchtlingen aus Afrika und anderen benachteiligen Gegenden der Welt abzuschirmen, wo Regionen um Wasserreserven kämpfen, während wir unsere Küstenstädte evakuieren? Darüber hinaus ereignet sich in der Biodiversität unserer Erde das sechste große Massenaussterben von unwiederbringlichen Lebensformen.

Was geht hier zu Ende und was beginnt? Vielleicht sind das alles nur Übergangskrisen in eine neue, metamoderne Weltgesellschaft, die zwar nicht perfekt sein wird, aber der es doch gelingt, eine neue, menschliche Stabilität zu finden. Auch der Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit war von Bauernaufständen und dem 30-jährigen Krieg geprägt. Dann begann die Moderne. Wir wissen nicht, was kommt.

Es sind drängende Fragen, aber genauso drängend stellt sich die Frage, ob wir dem allen gewachsen sind? Was braucht diese Zeit – die in einer gewissen Weise ja selbst den Atem anhält – von uns? Welche menschlichen Qualitäten braucht sie von uns, welches menschliche Miteinander? Die rasante Polarisierung unserer Gesellschaft, nach den USA jetzt auch in Europa, macht deutlich, dass die Fragmentierung, die Verhetzung, die umgreifende Schuldzuweisung an Sündenböcke, die wir gerade erleben, ein zentraler Teil unseres Problems geworden ist. Nicht nur die Welt, auch wir müssen uns ändern.

Inner Development Goals

Seit 2015 gibt es eine weltweite Diskussion über die 17 Nachhaltigkeitsziele, auf die sich die Vereinten Nationen geeinigt haben. Sie beschreiben dringende Ziele, um der Welt eine Zukunft zu geben, auch wenn Entscheidendes fehlt. Diese Nachhaltigkeitsziele geben uns zumindest einen Rahmen, über den man streiten, auf den man sich auch berufen und den man im politischen Prozess einfordern kann. Doch die innere Dimension des Wandels, die die Welt heute braucht, fehlt völlig. Nicht als Ablenkung von den politischen Notwendigkeiten, sondern als ihre dringende Ergänzung. Welche Fähigkeiten, welche Haltungen, welche menschliche Qualitäten müssen wir heute fördern, um diesem Planeten eine gute Zukunft zu geben?

Eine Gruppe von Psychologen, Sozialaktivisten und NGOs startete deshalb im Jahr 2020 eine Initiative, um die Nachhaltigkeitsziele der UNO mit Zielen für innere menschliche Entwicklung zu verbinden, die die Erde heute für ihre Zukunft braucht. Für diese Ausgabe von evolve sprachen wir mit Jan Artem Henriksson, einem der Gründer dieser Initiative, und auch mit Robert Kegan, einem der weltweit bekanntesten Entwicklungspsychologen, der dieses Projekt unterstützt. (Unter diesem Artikel finden Sie einen Link zu den 23 Inner Development Goals, den 23 Zielen für innere Entwicklung, welche nach Ansicht dieser Initiative weltweit gefördert werden sollten.)

Natürlich gibt es auch Diskussionen über diese Ziele für die innere menschliche Entwicklung. Die schweizerisch-amerikanische Entwicklungspsychologin Susanne Cook-Greuter ist ebenfalls Teil der Initiative, plädiert aber dafür, nicht nur europäische Sichtweisen zu berücksichtigen. Vielleicht kommt ja schon der Versuch, neue »Skill-Sets«  für unsere innere Entwicklung zu finden, aus einem Ansatz, der Teil des Problems ist. Auf jedem Fall sind die Inner Development Goals eine wunderbare Anregung, um den Dialog über die innere Entwicklung zu eröffnen, die wir heute brauchen. Der Umbruch, in dem wir uns gerade befinden, ist enorm. Vielleicht finden wir Anregungen, wenn wir hier auch einige grundlegende Fragen zu den fünf Themenbereichen vertiefen, welche die Inner Development Goal Initiative als Überbegriffe für ihre Ziele formuliert.

Sein – unsere Beziehung zu uns selbst

Es verlangt viel von uns, eine reife Beziehung zu uns selbst zu entwickeln. Die Therapiebewegung des 20. Jahrhundert hat dabei viel geleistet. Aber vielleicht hört die Herausforderung hier noch nicht auf. Möglicherweise müssen wir lernen, unseren inneren Kompass zu finden, und gleichzeitig erkennen, dass die Art und Weise, wie wir uns als Individuum verstehen – die Art und Weise, wie wir in unserer modernen westlichen Kultur gelernt haben, uns getrennt von unserer Umwelt wahrzunehmen – ein Teil des Problems ist. Das muss kein Weg zurück in vormoderne Zeiten sein, auch andere Kulturkreise wie der ostasiatische verstehen Subjektivität ganz anders als wir. Hier wird Subjektivität viel mehr aus der Perspektive eines Netzwerks von Beziehungen erfahren.

Auch im Westen hat die Achtsamkeitsbewegung der letzten Jahrzehnte begonnen, unser verengtes Verhältnis zu uns selbst anzusprechen. Wir erleben uns als getrennte Subjekte, die getrennten Objekten gegenüberstehen, meist auch in einem instrumentellen Verhältnis. Ist das Teil der Zivilisationskrise, in der wir uns befinden? Und wie können wir psychologisch reife, selbstverantwortliche Menschen sein, ohne an dieser Trennung festzuhalten? Das ist kein kleiner Schritt. Die Moderne und viele ihrer Probleme stehen auf diesem Fundament eines getrennten Selbst. Es braucht Bewusstseinsarbeit, um dieses zentrale Selbstbild auch nur zu lockern und zu erfahren, wie verwoben und verbunden unsere Wirklichkeit eigentlich ist.

Lesen Sie den kompletten Text in der evolve Ausgabe 33 / 2022