WAHRHEIT UND WISSENSCHAFT
Wie kommen wir wieder in einen Dialog mit der Wirklichkeit?

Kunst von Inge Barié

Die Wissenschaft hat uns eine völlig neue Erkenntnis über den Kosmos eröffnet. Aber haben wir dabei auch Dimensionen aus dem Blick verloren, die eigentlich zu uns gehören? Und die wir ausbilden und einüben müssen, um eine lebensfähige Zukunft zu gestalten?

Thomas Steininger

Was ist Wahrheit? Darüber hat es noch nie einen Konsens gegeben. Aber es gibt – oder es gab zumindest – so etwas wie einen demokratischen Konsens, wie wir um Wahrheit ringen können. Die Ideale einer offenen Gesellschaft leben vom Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen, in die Medien, aber auch in die Wissenschaft. All das wird heute immer mehr infrage gestellt.

Daniel Schmachtenberger, dessen YouTube-Serie über den »War on Sensemaking« viel Beachtung gefunden hat, spricht von den Herausforderungen einer verschmutzten Informationsökologie. Das Internet ist zu einem Kriegsgebiet der Manipulation und der Wut geworden. Einige wenige profitieren davon, dass sie Menschen zu Konfrontationen mit »rivalisierenden Stämmen« aufstacheln. Wir erleben eine Dekonstruktion von Wahrheit und Wissen, und auch die Wissenschaft selbst verliert ihr Ansehen als Methode, mit der wir uns um Wahrheit bemühen. 

Wir erleben diesen Zerfall der Wahrheit in der Debatte um den Klimawandel und in den Debatten über das Coronavirus. Und Donald Trumps »Endkampf« um seine Präsidentschaft zeigte, dass in einem Teil der Öffentlichkeit Fakten keine Rolle mehr spielen. In einer Art neuer «Twitter-Magie« entstehen Wirklichkeiten dadurch, dass man sie lange genug behauptet. Als Gegenpol zu diesen neuen Formen des magischen Denkens bildet sich aber auch ein neuer Wissenschaftsfanatismus heraus.

Als müsste man sich in diesem neuen magisch-mythischen Sturm gegen die »akademischen Eliten« auf die sichere Burg der positivistischen Wissenschaft zurückziehen, werden hier die Methoden der Naturwissenschaften zum alleinigen Heiligen Gral der Wahrheit. Dabei ist gerade die Klimakatastrophe ein Beispiel dafür, dass diese Art der reduktionistischen Weltbetrachtung die Katastrophen mit verursacht hat, in denen wir uns heute befinden. Wir brauchen die Wissenschaft und wir müssen ihre Grenzen sehen, wenn wir uns erfolgreich um Wahrheit bemühen wollen. Ein Blick in die Geschichte hilft hier vielleicht. Denn darin sehen wir auch, was mit dem Siegeszug der modernen Wissenschaft entstanden ist.

Die Geburt der modernen Wissenschaft

Wir alle kennen den Begriff der »kopernikanischen Wende«. Kopernikus, ein Mathematiker und Astronom aus Polen, entdeckte um 1500, dass der Lauf der Sonne und der Planeten viel einfacher zu berechnen ist, wenn man nicht davon ausgeht, dass die Erde im Mittelpunkt des Universums steht, sondern dass sie sich um die Sonne dreht. Weniger bekannt ist jedoch die Bewusstseinsrevolution, die dadurch in Gang gesetzt wurde. Kopernikus’ Entdeckung bedeutete nichts weniger, als dass unsere Wahrnehmung der Welt eine Illusion ist. Davor, in der antiken und mittelalterlichen Philosophie, verbanden uns die Sinne gemeinsam mit unserem Verstand mit dem Kosmos, der natürlichen Welt und ihrer göttlichen Ordnung.

Die Entdeckung von Kopernikus zerschnitt diese Verbindung mit dem Universum. Unsere Sinne wurden zu einer Quelle der Täuschung, einer Illusion. Nur die abstrakte Kunst der Mathematik zeigte uns die wirkliche Welt. Die Sonne geht nicht am Morgen auf und am Abend unter. Sie steht still. Und unsere Erde, auf der wir dachten, in Ruhe zu stehen, dreht sich, ohne dass wir es wissen, in rasender Geschwindigkeit um sich selbst und um die Sonne. Von alldem nehmen wir nichts wahr. Wir müssen uns von unseren Sinnen trennen und der abstrakten Welt der Mathematik zuwenden, um diese Welt zu sehen. Der abstrakte Verstand wird damit das Tor zur Wirklichkeit.

Was geschieht aber, wenn wir unseren direkten Zugang zur Welt verlassen und beginnen, einer abstrakten Realität zu vertrauen, die nur unserem abstrakten Verstand zugänglich ist? Wir finden die Wahrheit nicht mehr durch den direkten Kontakt mit der Welt.

Galilei ging noch einen Schritt weiter, er tötete das Universum. In der alten Philosophie kam jede Bewegung aus einem inneren Antrieb. Alles und jedes strebte irgendwohin. In allem war eine lebendige Kraft. In Galileis neuer, wissenschaftlicher Sicht wurde Materie zu einer toten, trägen Masse. Um sich zu bewegen, brauchte alles einen Anstoß von außen, um sich dann bis zum nächsten Anstoß in träger Monotonie weiterzubewegen. Die Materie besaß kein inneres Leben mehr. Nichts bewegte sich mit Absicht. So begann das Universum zu einer gleichgültigen Maschine zu werden.

Unter der Kraft der Naturwissenschaft begann die alte Ordnung, in der alles ein großer belebter und beseelter Organismus war, langsam zusammenzubrechen. Alles, was nicht als Objekt mess- und berechenbar war, wie die Süße des Honigs oder der Sinn der Worte, all das war nicht mehr Teil dieser objektiven Welt. Es zog sich in eine neu entdeckte Subjektivität des Geistes zurück. Hier war der neue Aufenthaltsort der Schönheit von Werten, von Sinn und Bedeutung. Nichts davon war Teil der objektiven Welt. Abgeschnitten von dieser natürlichen Welt wurden wir mehr und mehr zu Gefangenen unseres subjektiven Geistes. Das teilnehmende Wissen, das aus der Verbindung und der Anteilnahme an unserer Umwelt gewonnen wurde, hatte keinen wirklichen Platz mehr. Schönheit verlor jede objektive Bedeutung.

Wissenschaftliche Errungenschaften und Szientismus

Dennoch eröffneten sich unserem Geist neue Welten. Das sind wirkmächtige Welten, in denen wir die submikroskopischen Wechselwirkungen eines stacheligen Virus entschlüsseln können, um mit diesen Kenntnissen die Abwehrkräfte unseres Immunsystems zu unterstützen. Da sind die Bilder der Erde, aus dem Weltraum gesehen, die uns zeigen, wie die Eiskappen schrumpfen. Wissenschaft, umgesetzt in praktische Technologie, gibt uns Zauberdinge wie Kontaktlinsen und natürlich das Internet und unsere Handys. Die naturwissenschaftliche Forschung konfrontiert uns damit, dass die Grundbausteine der Materie weder Teilchen noch Energie sind, sondern auf eine geheimnisvolle Weise beides zugleich. Damit zeigt sich das Universum durch den Blick der Wissenschaft auch ehrfurchtgebietender und geheimnisvoller, als es sich irgendjemand hätte vorstellen können.

Und doch greift die wissenschaftliche Methode zu weit. »Die Wissenschaft denkt nicht«, sagte der Philosoph Martin Heidegger. Er meinte damit nicht, dass Wissenschaftler nicht denken, sondern dass die moderne Wissenschaft gezwungen ist, innerhalb ihrer eigenen Methoden zu leben. Sie kann ihre eigenen Voraussetzungen nicht denken. Dazu müsste sie sich von außen sehen. Da sie aber nur sich selbst sieht, verwandelt sie sich auch in einen Glauben an eine bedeutungslose und zufällige Welt, eine Welt aus toter Materie, in der auch menschliches Bewusstsein mit all seinen Werten nur zufällig entstanden ist. Der englische Biologe und Wissenschaftsdissident Rupert Sheldrake beschreibt unsere zeitgenössische Wissenschaft als Gefangene in ihrer eigenen szientistischen Glaubenswelt, in der die Wirklichkeit eine große mechanische Maschine ist. In dieser algorithmisch verstandenen Welt sind Sinn und Bedeutung nur mehr subjektive menschliche Erfindungen, die mit der Welt an sich nichts mehr zu tun haben. Beschreibt diese Wissenschaft also die »Wahrheit der Welt« oder beschreibt sie vielmehr ihre eigene Brille, durch die sie die Welt sieht?

Lesen Sie den kompletten Text in der evolve Ausgabe 29 / 2021