Wiederentdeckung der Weisheit

Wie wir lernen, in der Welt zu sein

In unserem wissenschaftlichen Blick auf die Welt spielt Weisheit kaum eine Rolle. Aber heute zeigen Disziplinen wie die Kognitionswissenschaft dass wir damit existenzielle Wahrnehmungen der Wirklichkeit außer Acht lassen. Nicht nur deswegen erhalten Weisheitspraktiken gerade eine neue Aktualität.

Die Weisheit ist aus der Welt gefallen. Allein das Wort verweist auf eine andere, vergangene Zeit. Es erinnert uns an mythische Landschaften, wo alte Frauen oder Männer vielleicht irgendwo in Tolkiens Herr der Ringe „Weisheit“ besitzen. Für die Herausforderungen unserer heutigen Welt verwenden wir eine andere Sprache. Unsere Krisen brauchen nachhaltige und evidenzbasierte Lösungen, systemtheoretische und datenorientierte Ansätze. Und vielleicht ist es auch naiv, hier die Frage nach der Weisheit in den Mittelpunkt zu stellen. Die komplexen Herausforderungen unserer modernen Gesellschaft brauchen auch komplexe Antworten.

In den vormodernen Gesellschaften waren die Gewichte anders verteilt. Wenn der griechische Philosoph Platon davon sprach, dass die Polis, das Gemeinwesen, von Philosophen regiert werden sollte, dann meinte er damit keine akademischen Spezialisten. Er meinte Menschen, die die Weisheit lieben, den das ist die eigentliche Bedeutung des Wortes Philosoph. Das Denken des Konfuzius kreiste fast ausschließlich um die Kultivierung der Weisheit. In unseren Mythen spielt sie eine zentrale Rolle. Der germanische Gott Odin opferte angeblich sein eigenes Auge, um aus der Quelle der Weisheit zu trinken. Von chinesischen Weisheitsorakel I-Ging kann man ohne Einschränkungen sagen, dass es die eigentliche Wiege der chinesischen Kultur ist.

Die Weisheit stand im Mittelpunkt der traditionellen Gesellschaften. Was natürlich nicht unbedingt hieß, dass sie weise Gesellschaften waren. Meist entstand die Suche nach Weisheit aus ihrer Abwesenheit im täglichen Leben. Auch wenn wir heute Weisheit schätzen, so führt sie doch in unserer Gesellschaft nur ein Nischendasein. Haben wir überhaupt ein modernes Verständnis davon, was wir mit Weisheit meinen? Man kann natürlich viel über Weisheit schreiben, aber vielleicht hilft zunächst eine einfache Definition: Wir können Weisheit als jene Fähigkeit verstehen, die uns dabei hilft, in unserem Leben dem Guten, Schönen und Wahren näherkommen. Wir können unsere Aufmerksamkeit klären, unsere Irrtümer ausräumen, um mehr und mehr zu verstehen, was die Wirklichkeit ist. Wir können den Glanz im Gewebe der Welt staunend wahrnehmen. Und in unserem Handeln dieser Verbundenheit und unseren tiefsten Werten treu sein.
Weisheit und Wahrheit
Aber wir misstrauen der Weisheit. Sie hält dem Fachwissen, dem Systemdenken und dem Verständnis der empirischen Daten nicht stand. Wir misstrauen ihr jedoch noch aus einem tieferen Grund, der weitaus fundamentaler ist: Die Weisheit widerspricht unserem Verständnis von Wahrheit. In unserer modernen Weltsicht haben wir uns daran gewöhnt, die Wahrheit unter dem Blickwinkel objektiver Fakten zu verstehen. Wir haben die Welt aufgeteilt. Unsere Werte sind subjektiv. Fakten sind objektiv. Aber die Weisheit macht hier keine Trennung. Weisheit zeigt sich erst in der Verbindung des Wahren mit dem Guten. So offensichtlich uns das vielleicht erscheint, diese Verbindung widerspricht unserer naturwissenschaftlichen Kultur.

Unsere Bewusstseinskrise ist auch eine Krise der Trennung des Wahren vom Guten. Der Kognitionswissenschaftler John Vervaeke sieht einen Grund der Sinnkrise unserer Zeit darin, dass wir uns an einen einseitigen Begriff von Wahrheit gewöhnt haben. Wir haben das Gute in die subjektive Sphäre verbannt. Es scheint, dass gerade die moderne Kognitionswissenschaft beginnt, diese Trennung als großen Irrtum unserer naturwissenschaftlichen Weltanschauung zu verstehen. Was ist damit gemeint, wenn man von einem verengten Verständnis von Wahrheit spricht, wie es in unserer neuzeitlichen Wissenschaftskultur entstanden ist? Es sind gerade die Weisheitspraktiken, die uns erlauben, dieses beschränkte Verständnis in den Blick zu bekommen. Es gibt Wahrnehmungsformen, durch die wir die Welt anders erfahren können.
Wenn wir uns darauf einlassen, unsere Anwesenheit bewusst wahrzunehmen, können wir etwas jenseits – oder besser gesagt, diesseits – der Subjekt-Objekt-Trennung wahrnehmen. Anwesenheit ist erfahrene Gegenwart. Die Achtsamkeitsrevolution der letzten Jahrzehnte hat begonnen, uns wieder mit dieser Form von Wahrnehmung zu verbinden.

Lassen Sie sich doch einmal jetzt, während sie diesen Artikel lesen, ganz bewusst auf diese Gegenwärtigkeit ein. Wo immer sie gerade jetzt sind, hier ist Gegenwart. Und wenn sie zum Beispiel in der Meditationspraxis genau darauf achten, zeigt sich, dass die Gegenwart nicht getrennt ist. Sie ist immer ein verbundener Teil eines lebendigen Ganzen. Anwesenheit öffnet sich, wenn wir ihr in unserem Bewusstsein Raum geben. Es gibt bei den indigenen Weisheitspraktiken eine Redewendung, die „alle unsere Beziehungen“ würdigt. In bewusster Anwesenheit zeigt sich auch, dass alles miteinander in Beziehung ist. Und in dem Maße, in dem wir uns dessen bewusstwerden, zeigt sich, ob wir diese Beziehungen achten oder auch nicht. Die Achtung all unserer Beziehungen im Inneren wie im Äußeren ist vielleicht eine Grundtugend der Weisheit. Dieses Gewebe der Bezogenheit zeigt sich nicht durch die Brille der Subjekt-Objekt-Beziehung.

Thomas Steininger

Lesen Sie den kompletten Text in der evolve Ausgabe 38/2023