ZOMBIES UND MENSCHEN – Über den Sinn der Schönheit

Alfred Bast

Gibt es eine tiefere Ursache für die vielen Krisen, mit denen wir heute konfrontiert sind? Einige Beobachter sprechen von einer alles überragenden Krise des Sinns. In diesem Artikel geht Thomas Steininger den Boten der Bedeutungslosigkeit nach – den Zombies – und fragt uns wie vielleicht unsere Beziehungen eine Antwort auf diese Krise sind.

Thomas Steininger

 

Jedes menschliche Zeitalter hat seine Mythen, seine Helden-, Opfer- und Erlösungsmythen. Manchmal entstehen auch völlig neue Mythen, die es so früher noch nicht gegeben hat. Auch unsere Zeit hat einen solchen neuen Mythos. In den letzten Jahrzehnten wurde eine ganz eigenartige, gespenstische Spezies geboren – die Zombies. Die französischen Philosophen Deleuze und Guattari schreiben sogar: »Der einzige moderne Mythos ist der Mythos der Zombies.« Diese Wesen sind zwar eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, aber erst im 21. Jahrhundert explodierten sie im Zeitgeist. Seit 1920 wurden über 600 Zombie-Filme gedreht, mehr als die Hälfte von ihnen in den letzten zehn Jahren. Mit diesen Filmen haben diese Ausgeburten der Stumpfheit und Hässlichkeit sogar die Außerirdischen hinter sich gelassen. Die Zombies wurden zum überragenden Monster des 21. Jahrhunderts. 

Zum ersten Mal begegnete ich diesem gespenstischen Mythos als Symbol unserer Zeit in dem Buch »Zombies in Western Culture« von John Vervaeke, Filip Miscevic und Christopher Mastropietro. Ich war nicht sofort überzeugt von ihrer Argumentation. Aber je mehr ich über die Natur der Zombies erfuhr, desto umfassender erkannte ich Parallelen zwischen diesen Monstern und unserer konsumkapitalistischen Kultur mit ihrem unersättlichen Appetit und der anhaltenden Plünderung der natürlichen Welt. Die drei Autoren beschreiben das Wesen dieser Ungetüme auf eine sehr eindringliche Art. So fällt es auf, das Zombies beispielsweise nie sprechen. Was sie in den einschlägigen Filmen vermitteln, ist nichts als innere Leere. Und Zombies kommen auch nie allein. Sie erscheinen in Gruppen oder Massen und gleichzeitig ist jeder von ihnen ganz für sich isoliert. Andere Monster in Horrorfilmen haben Verstecke, Särge, Schlösser oder Höhlen, aber Zombies sind heimatlos. Sie gehören irgendwie nicht zur Welt. Eine ihrer unerträglichsten Eigenschaften ist: Sie fressen Gehirne. In der ersten Szene des Films »Day of the Dead« hören sie einfach nicht mit dem Fressen auf, doch nichts nährt sie. 

Das menschliche Gehirn ist ein Symbol für Verständigung. Verschlingt damit der Zombie als Produkt unserer Kultur genau die menschliche Kultur, die ihn hervorgebracht hat? Oder fressen diese grässlichen Kreaturen unsere Fähigkeit, unser Gehirn zu benutzen, um die Welt zu verstehen? Vervaeke, Miscevic und Mastropietro sehen in diesem leeren Konsum und dem Fehlen jeglicher Seele auch ein Zeichen der Sinnkrise unserer Zeit. Sind Zombies also sinnentleerte Konsumenten? 

Hinzu kommt, dass Zombies einfach hässlich sind. Vampire besitzen Sexappeal. Frankensteins Monster ist in seiner Unbeholfenheit irgendwie liebenswert. Selbst der Werwolf ist auf seine Art ein schönes, geheimnisvolles Tierwesen. Aber Zombies sind per Definition hässlich: tot, verrottend, stinkend, ohne Vitalität und ohne jeden Geist. In der Leere im Blick eines Zombies sehen wir die Abwesenheit der Seele. Dass eine solche mythische Gestalt weltweit ein solches Massenpublikum anzieht, macht sie vielleicht zu dem Mythos unserer Zeit. Wie begegnen wir dem Abgrund der Zombies? Ist es möglich, dass wir uns ihrem Zugriff auf unsere Kultur und die Tiefen unseres Bewusstseins entziehen können?

Die Sinnkrise 

Vielleicht wirft das Zombie-Phänomen auch Licht auf etwas, das inzwischen den meisten Menschen vertraut ist: die finstere Welt der Verschwörungstheorien. Nur in einer Gesellschaft, in der Zombies eine mythische Rolle spielen, würden – wie heute in den USA – normale Menschen zu Millionen glauben, dass Banden der herrschenden Elite Kinder fressen. Beide Phänomene, der Mythos der Zombies und der Mythos der Verschwörungen, sind verwandt. Nur, dass Verschwörungstheorien sich selbst nicht als Mythos, sondern als Abbild der Wirklichkeit verstehen. Die Internetplattform Qanon, die mächtigen Menschen zombieähnliche Motive zuschreibt, findet mittlerweile auch in Deutschland ein breites Publikum. Seit Jahren versorgt sie Menschen mit ihren abgründigen Welterklärungen. Qanon ist in den USA zu einem wirksamen politischen Faktor geworden und hat dort auch einen »positiven« Helden, nämlich Donald Trump, der unermüdlich gegen das Böse des »Deep State« ankämpft. Auch in der deutschen Esoterik-Szene findet diese seltsame Welt des Qanon viele Anhänger.

Man zögert ja, über diese schaurigen Mythenwelten des 21. Jahrhunderts überhaupt zu schreiben. Allein dadurch, dass wir ihnen Aufmerksamkeit schenken, geben wir ihnen schon die Kraft, sich kulturell zu entfalten. Mythen leben von Aufmerksamkeit. Aber sie sprechen auch eine tiefe Sinnleere in unserer Gesellschaft an. Freunde, Nachbarn und Mitbürger werden zu »Konsumenten« dieser Zombie-Welten, weil das Ausfransen und Zerreißen unseres sozialen Gefüges die Suche nach einem gemeinsamen Sinn immer schwieriger macht. 

Wer hätte gedacht, dass mehr als 150 Jahre, nachdem Nietzsche feststellte, dass wir Gott getötet haben, und über 50 Jahre, nachdem die postmoderne Revolution begann, alle Wahrheit zu relativieren, die westliche Psyche von Zombies heimgesucht wird? Der Religionsforscher Rudolf Otto bemerkte Anfang des letzten Jahrhunderts, dass die Begegnung mit dem Heiligen sowohl Ehrfurcht als auch Schrecken erweckt. Wahrscheinlich ist einer Welt, in der eine gemeinsame Erfahrung des Heiligen verloren gegangen ist, nur noch der Schrecken geblieben.

Was können wir also tun, um der massenhaften Vereinsamung und der Sinnlosigkeit entgegenzuwirken, für welche die Zombie-Kultur wohl steht? Wie können wir mit diesem Abgrund umgehen, der unsere Kultur buchstäblich heimsucht?

Die Wahrnehmung der Ganzheit

Wir werden Zombies nicht verstehen, ohne unsere gesellschaftlichen Krisen zu verstehen. Aber es braucht auch etwas anderes als komplexe und systemische Erklärungen. Der seelische Notstand ruft auch nach einer seelischen Antwort. Von uns.  

In den Märchen, den alten Volksmythen, gab es immer einen ganz besonderen Umstand, der es erlaubte, Ungeheuer, eine verfluchte Situation oder verdammte Menschen zu erlösen. In den Märchen lesen wir oft von einem jungen Menschen, ein Junge oder Mädchen, denen es gelingt, mit ihrem reinen Herzen den Fluch zu lösen. Nur, was bedeutet in unserer heutigen Gesellschaft ein reines Herz? Vielleicht hat es mit den Grundwerten unserer Kultur zu tun, Grundwerte, die wir den alten Griechen verdanken – die Werte des Wahren, Guten und Schönen. 

Spirituelle Praxis, in all ihren unterschiedlichen Formen, ist auch eine Kultivierung einer tiefen Beziehung zu diesem Wahren, Guten und Schönen – ganz egal, wie wir diese Werte sonst noch benennen. Aber wie pflegt man diese Werte in einer offenen Gesellschaft ohne traditionelle Dogmen und Hierarchien? Vor allem, wenn man die Augen nicht davor verschließt, wieviel in unserer globalen, postmodernen Kultur tatsächlich in Trümmern liegt. Kann es in dieser Gebrochenheit noch die Ganzheit dieser Werte geben?

Lesen Sie den kompletten Text in der evolve Ausgabe 27 / 2020