Kein Entkommen: Gewahrsein als Befreiung – Ein Interview mit Claude AnShin Thomas

Im Rahmen unserer Arbeit an der Ausgabe 16 von evolve zum Thema LICHTBLICKE FÜR EINE VERWUNDETE WELT: Die kulturelle Dimension von Heilung sprachen wir mit dem Vietnamkriegs-Veteranen und Zen-Mönch Claude AnShin Thomas, der sich in seiner Arbeit für individuelle und gesellschaftliche Versöhnung und Heilung einsetzt:

Kein Entkommen

Gewahrsein als Befreiung

Claude AnShin Thomas brauchte viele Jahre, um mit seinen schrecklichen Erfahrungen im Vietnamkrieg umgehen zu können – ein Prozess, der bis heute andauert. Die Berührung mit dem Buddhismus gab ihm ein neues Verständnis unseres menschlichen Leidens und einen Weg zur Befreiung.

evolve: Leid und Schmerzen scheinen etwas sehr Persönliches zu sein, denn wir fühlen all die Emotionen, die mit Leid und Schmerzen in Verbindung stehen, in unserem Inneren. Als Vietnam-Veteran sind Sie tief in das Herz der Finsternis eingetaucht, und mir scheint, mit so etwas kann man auf der Basis des Persönlichen gar nicht fertig werden. Wir geht es Ihnen damit?

Claude AnShin Thomas: Ich glaube, mit Leid und Schmerz kann man nur auf der Basis des Persönlichen umgehen, denn die Erfahrung ist eine persönliche. Ich weiß nicht, ob Sie etwas von der Arbeit mit den generationsübergreifenden Auswirkungen von Kriegen wissen. Ich bin Zen-buddhistischer Mönch, und deshalb steht mein Denken unter dem Einfluss der Praxis des Zen, doch dieses Verständnis der Welt und meines Lebens bestand schon lang, bevor ich mit der Praxis des Zen in Berührung kam. Die Zen-Praxis hat mir einfach eine Sprache gegeben, um die Realität des Karma präziser auszudrücken. Karma bedeutet, dass es zu jeder Ursache eine Wirkung gibt. Wir können allerdings nicht wissen, wann und in welchem Ausmaß sich diese Wirkung manifestieren wird. Karma ist nicht nur eine private, sondern eine kollektive Realität.

In meinem Fall war es so, dass mein Urgroßvater, mein Großvater und mein Vater Soldaten waren, und ich wurde Soldat. Ich war der Überzeugung, es sei mein eigener Wunsch, Soldat zu werden, doch ich wusste noch nichts über die Wahrheit des geerbten Karmas. Ich verstand nicht, dass die Gedanken, die ich dachte, die Entscheidungen, die ich traf, schon für mich vorgeformt waren.

Einige Menschen, die die Gesetze des Karma nicht verstehen, sind der Ansicht, Karma sei dasselbe wie Fatalismus. Das ist ein Missverständnis. Fatalismus bedeutet, dass man den Lauf seines Lebens nicht ändern kann. Karma ist etwas. Karma kann verändert werden, wenn ich bereit bin, mir bewusst zu werden, wie die früheren Generationen und wie das kollektive Unbewusste in mir leben. Ich kann mir aber nur dann der Verhaltensweisen und der Ideen, die ich geerbt habe, bewusst werden, wenn ich diesen Prozess (des Erwachens) durchlaufe. Was aus dieser Bewusstheit folgen sollte, ist nicht schwierig. Ich lebe einfach anders. Ich handle nicht mehr in einer Weise, die mir und anderen Schaden zufügt. Ich kultiviere nicht nur eine andere Art zu denken, ich lerne, anders zu leben, denn die Dilemmata, in die das geerbte Karma uns bringt, lassen sich nicht auf intellektuellem Weg lösen. Wir können uns alle möglichen Theorien und Ideen ausdenken, aber wir können uns nicht in eine neue Lebensweise hineindenken, sondern wir können uns nur in eine neue Denkweise hineinleben. Unsere gegenwärtige Gesellschaft geht mit Schmerz und Leid so um, dass sie jede Anstrengung unternimmt, sie loszuwerden. Aber das geht nicht. Darum konzentriere ich mich nicht nur auf die Menschen, die in Krieg und Gewalt verwickelt waren, die also direkt traumatisiert sind, sondern arbeite auch mit den nachfolgenden Generationen.

Nehmen wir an, Ihr Großvater hat als Soldat im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Er war davon betroffen und die Weise, wie sich das in der Familiendynamik manifestiert hat, ging über auf Ihre Eltern und dann auf Sie. Es ist unabdingbar, dass wir bereit sind zu akzeptieren, dass es diese Wirkungen gibt. Doch für die Konsequenzen aus diesen geerbten Mustern ist niemand anderes verantwortlich. Diese Muster sind nichts Äußeres und deshalb kann auch die Lösung nicht im Außen liegen. Die Lösung, die Möglichkeit, unser ererbtes Leiden zu verstehen, liegt allein beim Einzelnen. Wenn wir also wollen, dass die Welt sich ändert, müssen wir bereit sein, anders zu leben.

Sich selbst erkennen

e: In gewisser Weise beschreiben Sie, wie das Persönliche in den größeren Kontext von Familie und Gesellschaft eingebettet ist. Sie haben ja nicht nur über sich selbst gesprochen, sondern auch über die Beziehungen zu Ihrer Familie, zum Krieg, zur Gesellschaft. Die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen von Krieg und Traumatisierung ist also nicht allein ein psychologischer Prozess, sondern bedeutet, eine neue Beziehung zur Welt zu finden.

CT: Bevor ich der Welt begegne oder auch während ich ihr begegne, muss ich zuerst eine Beziehung zu mir selbst entwickeln. Wichtig ist, dass ich einen Prozess durchlaufe, bei dem ich herausfinde, dass ich selbst die Verantwortung für mein Leben trage. Leid und Schmerz in meinem Leben liegen in meiner Verantwortung. Es ist wichtig für mich anzuerkennen, dass die Probleme nichts Äußeres sind und die Lösungen nicht im Außen liegen, auch wenn es Probleme gibt, die sich im Außen zeigen und Lösungen im Außen versprechen. Man kann hunderte von Büchern kaufen, die einem die zehn oder fünfzehn Schritte zeigen, durch die man sich vom Leid befreien kann. Aber letztlich sind das bloß Notpflaster.

Ich war einmal zu Besuch in Salzburg. Ich schlenderte durch die Straßen der Stadt und kam an einer Buchhandlung vorbei. Im Schaufenster lag ein Buch. Meine Assistentin übersetzte mir den Titel: „Positives Denken macht dich krank!“ Ich weiß um die Wahrheit dieser Aussage, aber wenn ich nur negativ bin oder mich nur im Leiden aufhalte, dann ist es unmöglich zu sehen, dass ich auch anders sein kann. Es ist wichtig, einen Punkt zu erreichen, an dem man versteht, dass alle Erfahrungen Alles beinhalten: Positives und Negatives, Gutes und Schlechtes. Um dieses Verständnis zu erreichen, müssen wie dieses Verständnis erst einmal erreichen wollen. Dann brauchen wir eine disziplinierte spirituelle Praxis, die ihre Wurzeln in der Selbstreflexion hat. Und dann wäre es auch wichtig, das mit einer Gruppe Gleichgesinnter zu tun, die von einem authentischen Menschen unterstützt wird, der diesen Weg vor ihnen gegangen ist.

Für mich war das die buddhistische Praxis. Sie hat mir geholfen, die wechselseitige Verbundenheit von allem zu verstehen. Wenn ich mich auf mich selbst konzentriere und anfange, Dinge anders zu tun, tue ich das nicht isoliert von der ganzen Welt, denn ich bin ja ein integraler Teil von ihr. Wenn ich also, wie ich in diesem Interview schon gesagt habe, „will, dass die Welt anders wird, muss ich selbst anders leben“: Was und wie esse ich? Wie sorge ich für mich selbst und für andere? Wie sorge ich für die Dinge in meinem Leben, die mich unterstützen, beispielsweise mein Haus, der Raum, in dem ich lebe? Wie sorge ich für das Geschirr, von dem ich die Nahrung esse, die mich ernährt? Wie sorge ich für die Beziehung zu den Menschen im Supermarkt? Wie sorge ich für meine Beziehungen zu den Menschen, die mir auf der Straße begegnen? Das ist ein wichtiger Teil im Prozess des Erwachens zu einer disziplinierten spirituellen Praxis. Es ist wichtig zu wissen, dass die spirituelle Praxis und das Alltagsleben nicht zwei verschiedene Dinge sind. Mein Leben ist voll von Beziehungen, die mir das Wesen des Karma widerspiegeln, das ich geerbt habe.

Bewusstes Gewahrsein

e: 1968 sind Sie aus Vietnam heimgekehrt und hatten mit den Erfahrungen zu kämpfen, die sie dort gemacht haben. Eine große Veränderung ergab sich für Sie in den 1990er Jahren, als Sie den buddhistischen Lehrer Thich Nhat Hanh und seine Gemeinschaft kennenlernten. Was hat Sie für diese Begegnung mit einem buddhistischen Lehrer und einer solchen Gemeinschaft geöffnet?

CT: Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich etwas Wichtiges vorausschicken: Ich hatte gar keine Chance, mir meines Leidens bewusst zu werden, bevor ich nicht aufhörte, Rauschmittel zu nehmen, das heißt Alkohol, Zigaretten und andere Drogen, ob vom Arzt verschrieben oder illegal. Ich musste mit all dem aufhören, denn solange ich meinen Geist oder meinen Körper manipulierte, saß ich in der Vorstellung fest, dass die Lösung im Außen liegt. Durch den Prozess des Aufhörens wurde ich allmählich fähig zu verstehen, wie mein Denken, mein Selbstbild und meine Weltsicht durch die ungesunde Dynamik meiner Familie geprägt war. Erst durch diesen Prozess wurde ich allmählich in die Lage versetzt, eine neue, veränderte Beziehung zu den Mustern zu gewinnen, die an mich weitergegeben worden waren, und dazu, wie sie sich in meinem Leben manifestiert hatten. Ab diesem Punkt konnte ich allmählich mit diesen Mustern anders umgehen.

Diese ganze Arbeit war sehr wichtig, aber ich hatte noch nicht angefangen zu verstehen, was mein Kriegsdienst mit mir gemacht hatte. Das erschloss sich mir erst sechs oder sieben Jahre, nachdem ich aufgehört hatte, Rauschmittel zu nehmen, und viel psychologische Arbeit geleistet hatte. In diesem Prozess des Aufwachens und der Sensibilisierung für den Schmerz und das Leid in meinem Leben – das heißt, im Prozess, ein anderes Leben zu beginnen –, schlug mir jemand vor, zu einem Meditationsretreat zu gehen, das für andere Soldaten angeboten wurde. Ich ging hin. Und dieses Retreat wurde nun zufällig von dem buddhistischen Mönch Thich Nhat Hanh geleitet. Es ging von Mittwoch bis Sonntag. Es war für mich eine sehr schwierige Erfahrung. Es war ein Schweigeretreat. Im Schweigen konnte ich meinem Leiden nicht entkommen. Am Ende dieses Retreats luden sie mich ein, in ihre Gemeinschaft in Frankreich zu kommen, wo ich tagtäglich mit Leuten aus Vietnam zusammenlebte. Es waren nicht nur Mönche, denn wegen der sozialen und gesellschaftlichen Rolle, die der Buddhismus in Teilen Asiens spielt, nutzten viele der Vietnamesen, die in Frankreich und sonst wo in Europa lebten, diese klösterliche Gemeinschaft als Treffpunkt und Versammlungsort. Ich lebte also mitten in einer vietnamesischen Gemeinschaft und dadurch wurde mir immer deutlicher bewusst, was der Kriegsdienst mit mir gemacht hatte und welches Leid ich anderen Menschen zugefügt hatte, und zwar deshalb, weil ich unbewusst gelebt hatte, und wegen des Karmas, das ich geerbt hatte.

Es ist mir auch wichtig, zu betonen, dass ich vor diesem Retreat und meinem Aufenthalt in der klösterlichen Gemeinschaft schon immer eine gewisse Erdung hatte, eine gewisse Art von Meditationspraxis, aber es war keine Meditationspraxis, die auf das Erwachen ausgerichtet war. Es war eher eine Meditationspraxis mit der Ausrichtung, meinen Geist unter Kontrolle zu bringen. Erst in diesem Retreat lernte ich die auf buddhistischen Lehren beruhende Meditationspraxis des bewussten Gewahrseins kennen, die mir ermöglichte, meinen Geist zu öffnen – nicht indem ich ihn kontrolliere, sondern einfach indem ich ihn immer intimer kennenlerne.

In dieser Gemeinschaft wurde ich in eine disziplinierte spirituelle Praxis eingeführt, die auf Selbstreflexion beruht, und ich erkannte, dass Meditation eine Lebensweise ist. Sie beruht auf dem Prozess der Bereitschaft zu sehen, was mich vom bewussten Gewahrsein abhält. Durch das Stillsitzen lernte ich den Atem kennen. Einfach durch die Konzentration auf meinen Atem begann ich zu begreifen, wie mein Intellekt funktioniert und wie der Intellekt beeinflusst ist durch das Karma, das ich geerbt habe, und das Karma, was ich geschaffen habe.

e: Welche Wirkung hatten die Begegnungen mit den Menschen aus Vietnam auf Sie?

CT: Mir wurde klarer, welches Leid ich nicht nur dem vietnamesischen Volk zugefügt hatte, sondern der Erde an sich. Ich hätte nie die Gelegenheit gehabt, bewusstes Gewahrsein zu entwickeln, hätte ich nicht diese disziplinierte Meditationspraxis kennengelernt und sie ernsthaft geübt.

Der Prozess des Erwachens kann manchmal geradezu unerträglich schmerzhaft und desorientierend sein, denn ich bin ja konditioniert, mich selbst in einer gewissen Weise zu betrachten. Durch mein Leben in dieser klösterlichen Gemeinschaft, durch die Selbstverpflichtung zu einer täglichen disziplinierten Praxis wurde mir die Tatsache bewusst, dass die Art, wie ich mich selbst sah, nicht genau der Wahrheit entsprach. Durch diesen Prozess wurde ich verletzlicher.

Meditation und Leben

e: Können Sie noch etwas darüber sagen, wie Sie die Rolle der Meditation als Lebenspraxis verstehen?

CT: Meditation heißt nicht, einfach still auf dem Kissen zu sitzen. Meditation ist nicht einfach nur in Schweigen und Zurückgezogenheit zu verharren. Meditationspraxis und alltägliches Leben sind nicht getrennt. Gehen ist Meditation, Essen ist Meditation, Arbeit ist Meditation und Zähneputzen ist Meditation. Alles ist eine Gelegenheit zum Üben. Folgendes versuche ich den Menschen zu vermitteln: Wenn du zu einem Meditationsretreat kommst auf der Suche nach dem, was du als Frieden bezeichnest, als Ausweg aus dem Leiden, wirst du enttäuscht sein, denn auf dem Kissen zu sitzen ist wie auf einer Bombe zu sitzen. Je mehr Stille diese Praxis in dein Leben bringt, desto mehr Leid kann sich zeigen.

Viele Menschen kommen zur Meditation mit einer Menge Erwartungen. Mich stören die Erwartungen nicht, solange die Leute bereit sind, an diesen Erwartungen zu arbeiten, wenn sie sich nicht erfüllen. Wenn Leute mit Erwartungen kommen und sie werden nicht erfüllt, gehen sie fort und suchen sich etwas anderes, weil sie versuchen, die Welt dazu zu bringen, all ihren Vorstellungen über das Leben gerecht zu werden. Sie wollen, dass die Meditationspraxis ihre Erwartungen erfüllt. Wenn eine authentische Praxis dann ihre Erwartungen nicht erfüllt, sind sie enttäuscht und sehen sich weiter um, bis sie jemanden finden, der ihnen die Illusion vermittelt, ihre Erwartungen würden erfüllt.

e: Wie arbeiten Sie mit Trauma und Leid in der Meditation?

CT: Ich vermittle den Menschen, die zu mir kommen, dass die Wahrheit unseres Leidens niemals weggeht. Wer danach sucht, seinem Leiden zu entkommen, der ist bei einem Meditationsretreat am falschen Platz. Wenn wir uns einer disziplinierten spirituellen Praxis verschreiben, kann es geschehen, dass wir ein bewussteres Verhältnis zu unserem Leiden entwickeln. Indem wir dieses bewusstere Verhältnis zu unserem Leid gewinnen, es nicht ablehnen und nicht versuchen, es unter Kontrolle zu bringen, verändert sich unsere Beziehung zu diesem Leid. Ein Beispiel: Seit 1966 habe ich keine einzige Nacht mehr als zwei Stunden an einem Stück geschlafen. Diese Realität war eine schreckliche Erfahrung für mich, denn ich war in der Vorstellung gefangen, ich müsste auf eine ganz bestimmte Weise schlafen. Als ich dann an einen gewissen Punkt der Selbstbewusstheit kam als Ergebnis meines Verzichts auf Rauschmittel und einer disziplinierten spirituellen Praxis, die in Selbstreflexion gründet, wurde mir auf einmal die simple Tatsache bewusst, dass ich nicht schlafen kann; das heißt, eigentlich geht es nicht einmal darum, dass ich nicht schlafen kann, sondern, noch einfacher, um die Reflexion darüber, wie ich schlafe.

Als ich erst einmal annehmen konnte, dass meine Schlafmuster so sind, wie sie sind, wurde es möglich, dass sich eine andere Beziehung zu diesem Leiden zeigte. Solange ich mich an die Vorstellung klammere, mein Leiden – was es auch sei – müsse verschwinden, mache ich mich zum Gefangenen dieses Leidens. Es wird mich immer tiefer ins dunkle Loch der Verzweiflung ziehen. Es ist wichtig, dass man lernt, traurig zu sein. Es ist genauso wichtig, dass man lernt, nicht in einem See der Traurigkeit zu schwimmen, sondern einfach nur traurig zu sein. Es ist wichtig, dass man lernt, glücklich zu sein. Wir haben zu viele Vorstellungen davon, was Glück ist, was Friede ist. Doch wir können an einen Ort gelangen, wo wir diese Vorstellungen einfach loslassen können. Wenn wir erst einmal das Festklammern an unseren Vorstellungen gelockert haben, dann, an diesem Punkt, haben wir die Chance, Glück und Frieden zu erfahren.

Keine festen Ideen

e: Wollen Sie mit der disziplinierten spirituellen Praxis Menschen in einen tieferen Kontakt mit der Wahrheit ihrer Leben bringen?

CT: Ich habe kein Programm. Ich versuche nicht, Menschen an irgendeinen bestimmten Ort zu bringen. Ich gebe den Leuten einfach das weiter, was mir weitergegeben wurde. Ich lasse zu, dass die Werkzeuge der Praxis zum Beispiel werden.

Ich habe einen sehr disziplinierten Zugang zur Wirklichkeit der buddhistischen Praxis. Mir ist egal, mit welchen Vorstellungen die Leute kommen; mir ist egal, was sie denken; mir ist egal, was sie sagen. Ich interessiere mich aber zutiefst dafür, was sie tun. So sieht mein Lehren aus. Ich gebe den Menschen einfach die Werkzeuge für eine disziplinierte Meditationspraxis weiter, wie man sitzt und so weiter. Ich gebe den Leuten Anweisungen zu den Rezitationen und halte die Erfahrung ganz bewusst sehr einfach.

Es geht mir nicht darum, den Buddhismus zu verkaufen. Ich versuche nicht, Menschen zu bekehren. Ich gebe ihnen die Wahrheit weiter, dass Meditation oder spirituelle Praxis nichts Besonderes sind. Sie unterscheiden sich nicht vom alltäglichen Leben. Jeder Moment ist eine Gelegenheit zum Üben, egal, was wir tun, denn Atmen müssen wir auf jeden Fall. Durch die Praxis können wir erkennen, was uns daran hindert, aufmerksam und bewusst zu atmen.

e: Beobachten Sie, dass sich Menschen ändern, wenn sie diese Praxis üben?

CT: Manche, ja, vor allem, wenn sie länger dabei bleiben. Bei längeren Retreats kann man sehen, dass die Leute langsamer werden. Sie werden verletzlicher und diskutieren weniger.

Wer aber wirklich sein Leben ändern will, muss an der Praxis dranbleiben. Da gibt es keine Pille, die man einfach schlucken kann. Es ist etwas, das wir beständig nähren müssen. Etwas, das anhaltendes Bemühen erfordert. Wir müssen daran festhalten zu üben, zu jeder Zeit, egal, wie die Umstände sind. Es gibt keine Entschuldigung, nicht zu üben. Wir müssen beobachten, wie die Praxis unter wechselnden Bedingungen erscheint. Wir tun nicht immer alles ganz streng auf dieselbe Art und Weise. Wenn du erwachen willst, kann es nichts geben, was wichtiger wäre. Wenn du die Welt verändern willst, kannst du nichts anderes deinem Erwachen vorziehen. Alles, was ich meinem Erwachen vorziehe, hält mich gefangen im Leiden.

Das unmittelbare Leben

e: Sie arbeiten auch mit Kriegsveteranen, Sie organisieren Straßenretreats und Pilgerreisen, beispielsweise von Auschwitz nach Vietnam. Was beabsichtigen Sie mit Aktionen dieser Art?

CT: Keine Absicht. Ich tue es einfach. Für mich geht es darum, mich nicht abzuwenden.

Ich war ein paar Jahre obdachlos. Bei meinen Straßenretreats teile ich diese Erfahrung mit anderen. Wir gehen auf die Straße, ohne Geld und nur mit dem, was wir am Leib tragen. Wir machen morgens und abends Sitzmeditation. Daneben rezitieren wir auch buddhistische Texte. Den Rest des Tages sind wir draußen, kein Baden oder Duschen, kein Zähneputzen. Diese Praxis beginnt eigentlich lange bevor wir dann tatsächlich hinausgehen auf die Straße. Fünf Tage bevor das Retreat beginnt, werden die Teilnehmer angewiesen, nicht zu duschen, sich keine frischen Kleider anzuziehen, nicht die Haare zu waschen oder die Zähne zu putzen. Und dabei bleibt es während des ganzen Retreats.

Solange wir uns auf der Straße aufhalten, müssen wir um alles betteln. Wir halten uns nicht in Einrichtungen für Obdachlose auf, denn wir wollen denen, die wirklich auf der Straße leben, nicht den Platz wegnehmen. Bei diesen Retreats geht es darum, Erfahrungen auf diese unmittelbarere Art des Lebens zu machen.

Es ist eine ganz schön heftige Herausforderung für die Teilnehmer, denn wer teilnehmen will, muss einen bestimmten Geldbetrag aufbringen. Wenn ich beispielsweise in Deutschland oder sonst wo in Europa solch ein Obdachlosen-Retreat mache, muss man € 1.080 zusammenbetteln. Wer dieses Geld nicht aufbringt, kann nicht teilnehmen. Man darf es nicht einfach von seinem Konto nehmen. Man darf auch nicht seine Eltern bitten, für einen zu zahlen. Man muss sich dieses Geld wirklich zusammenbetteln. Dieser Prozess stellt also Leute in eine Reihe von Situationen und gibt ihnen so die Gelegenheit, ihr Leid zu entdecken, das sich in ihrem Widerstand zeigt. Und genau darum geht es auch in der Praxis der Meditation. Sie gibt dir die Chance zu sehen, was dich vom Aufwachen abhält, was dich von dir selbst abhält.

Wahrer Friede

e: Viele Menschen heute haben keinen friedvollen Geist. Warum ist das so, gerade wenn sie keine starken traumatischen Erlebnisse hatten?

CT: Es war schon immer so. Leid gehört zu den natürlichen Bedingungen des Lebens. Diese Dynamik definiert sich dann dadurch, dass man meint, Probleme und ihre Lösungen seien im Außen zu finden und die Welt sei da, um unsere Erwartungen zu erfüllen. Wir sind ständig auf der Suche, wir versuchen, die Welt dazu zu bringen, dass sie unseren Erwartungen gerecht wird – aber das tut sie nur sehr selten. Wir sind also ständig in einem Zustand des Unbehagens und suchen nach etwas, das dieses Unbehagen abpolstert: Medikamente, Drogen, Alkohol, Zigaretten, eine Menge Geld verdienen, Liebe, die vollkommene und einzigartige Beziehung, Kinder, keine Kinder. Wir wollen immer, dass diese Dinge uns das Unbehagen abnehmen. Dabei ist es gar nicht nötig, frei zu werden von diesem Unbehagen. Notwendig ist vielmehr, dieses Unbehagen wirklich anzuschauen, seine vielen Facetten zu betrachten, damit wir lernen, in einer friedvolleren Beziehung mit diesem Unbehagen zu leben – anstatt zu versuchen, davon frei zu werden oder zuzulassen, dass es uns kontrolliert. Eine disziplinierte spirituelle Praxis ist der Weg, wie wir mit unserem Unbehagen vertrauter werden.

e: Das heißt aus Ihrer Perspektive, die Fähigkeit zu entwickeln, einfach bei dem zu sein, was ist?

CT: Ja, denn was ist, ist, was ist.

e: Kein Entkommen.

CT: Genau.

e: Was bedeuten Friede und Heilung heute für Sie?

CT: Das ändert sich und ich habe keine festgefügte Vorstellung davon. Es kann zu verschiedenen Zeitpunkten Verschiedenes bedeuten. Allgemein kann ich sagen, dass Friede nicht gleichbedeutend ist mit der Abwesenheit von Konflikten. Friede ist die Abwesenheit von Krieg, aber nicht die Abwesenheit von Konflikt. Ich muss lernen, Konflikte mit mir selbst und mit meiner Umwelt auszutragen, ohne dass der Konflikt in Krieg ausartet. Heilung bedeutet nicht die Abwesenheit von Leiden. Es geht vielmehr darum zu lernen, eine bewusstere Beziehung mit dem Leiden zu leben – es weder abzuwehren noch sich von ihm kontrollieren zu lassen – und darum zu lernen, mit dem Leiden präsent zu sein.

Ein Beispiel: Ich kam im April hierher nach Deutschland. Ich wurde am Flughafen abgeholt und ins Meditationszentrum in Leverkusen-Opladen gebracht. Ich stieg aus, ging um das Auto herum und erlitt völlig unerwartet eine schwere Lungenembolie. Beinahe wäre ich gestorben. Ich kann mich daran erinnern, dass ich einmal das Bewusstsein verlor, aber hinterher erfuhr ich, dass es mehrmals geschehen war. Als ich das Bewusstsein verlor, war ich überzeugt: Jetzt sterbe ich. Ich hatte keinen Augenblick Angst. Ich war enttäuscht, dass ich wirklich jetzt gehen sollte. Ich fühlte auch eine gewisse Scham wegen der Leute, die in dieser Existenzform zurückbleiben und sich um all das würden kümmern müssen, was nach meinem Tod noch da ist. Glücklicherweise war es vom Meditationszentrum in Leverkusen-Opladen nicht weit zum nächsten Krankenhaus. Der Notarzt kam, und ich habe auf die Behandlung angesprochen. Trotzdem habe ich hinterher erfahren, dass mich nur eine sehr kurze Zeit vom Tod getrennt hatte.

Wir klammern uns viel zu sehr fest an dieser Existenz, ohne uns klar zu machen, dass wir von dem Moment an, in dem wir in diese Existenz kommen, schon im Sterbeprozess sind. Wir vermeiden dieses Thema Sterben, weil wir uns fürchten. Wir fürchten uns vor dem, was danach kommt. Wir klammern uns an irgendeine Vorstellung, das Leben sei eine unbegrenzte Erfahrung, über die wir eine gewisse Kontrolle haben, während wir in Wirklichkeit niemals wissen, was als Nächstes kommt.

Ich tue also einfach weiter das, was ich tue. Manchmal meckert mein Leiden an mir herum und fragt: „Wofür tust du das?“, oder es meint: „Was für eine Zeitverschwendung!“ Diese Geschichten können manchmal endlos sein. Aber die disziplinierte spirituelle Praxis ermöglicht mir eine bewusste Beziehung zu diesen Prozessen. Ich muss sie nicht ablehnen. Ich muss nicht zulassen, dass sie mich definieren. Ich habe vieles in meinem Leben getan, und nie hatte ich die Möglichkeiten, die ich jetzt habe. Also tue ich das einfach weiterhin, was immer das ist. Ich sitze, ich gehe, ich lebe mein Leben so bewusst, wie es mir möglich ist. Diese Bewusstheit ermöglicht mir, sensibel zu werden für mein Unbewusstes. Und dann lasse ich die unbewussten Prozesse mir zeigen, wie ich mit ihnen arbeiten kann. Das bedeutet spirituelle Praxis für mich.

Das Gespräch führte Nadja Rosmann.

 

Claude AnShin Thomas wurde 1947 in den USA geboren. Er musste bereits in seiner Kindheit prägende Formen von Gewalt und Missbrauch erfahren. Als 18-Jähriger meldete er sich freiwillig zum Einsatz im Vietnamkrieg, wo er von 1966-67 diente. Er wurde dort schwer verwundet. Heute erklärt er, während seines Einsatzes in Vietnam für den Tod von vielen Menschen verantwortlich geworden zu sein. Nach seiner Rückkehr in die USA machte er leidvolle Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit, Drogensucht und sozialer Isolation. Er begann daran zu arbeiten, seine Wunden des Krieges und der Gewalt auf emotionaler, geistiger und spiritueller Ebene zu heilen und mit diesen Erfahrungen anderen zu helfen.

1995 wurde er von Bernhard Tetsugen Glassman Roshi zum Zen-buddhistischen Mönch in der Japanischen Soto Zen Tradition ordiniert. Er lebt seitdem als Wander- und Bettelmönch und arbeitet international. Er ist auch Gründer der Zaltho Foundation, Inc., einer gemeinnützigen Organisation, die Gewaltlosigkeit und Wandel unterstützt, welche einen Vereinsableger in Deutschland hat, den Zaltho Sangha e.V. Er ist auch Autor des Buches „AM TOR ZUR HÖLLE – Der Weg eines Soldaten zum Zen-Mönch“ (Theseus, 2003/2008)

www.zaltho.org und www.zaltho.de

Von Mai bis Juli 2018 wird Claude Anshin Thomas in Deutschland, der Schweiz und in Italien an verschiedenen Orten Vorträge halten und Meditationsseminare geben. Weitere Informationen: https://www.zaltho.de/termine/claude-anshin-termine.html