Transformation und Orientierung: Ein Interview mit Michael Hampe

Der Wert der Weisheit

Mit einem interdisziplinären Netzwerk hat der Philosoph Michael Hampe das Portal für Weisheitsliteratur und Weisheitspraxis METIS initiiert. Für ihn ist Weisheit in unseren Zeiten der Desorientierung besonders relevant. Für die Ausgabe 38 des evolve Magazins zum Thema “Unsere Weisheit – und warum es sie braucht” sprachen mit ihm über interkulturelle Begegnung, den Blick über die Naturwissenschaft hinaus und die Kraft des Erzählens.

evolve: Sie haben mit Kolleginnen und Kollegen ein Internetportal für interkulturelle Weisheitsliteratur und Weisheitspraktiken entwickelt. Was hat Sie dazu bewegt, dieses Portal ins Leben zu rufen?

Michael Hampe: Das Motiv entstand aus meiner Beschäftigung mit dem Pragmatismus, der amerikanischen philosophischen Strömung, die von Charles Sanders Peirce, William James und John Dewey begründet wurde. Eine ihrer Grundideen war, dass philosophische Unterscheidungen, die keine Konsequenzen in der Lebenspraxis haben, eigentlich überflüssig sind. Das entspricht vielen Überzeugungen, die es auch in anderen Kontexten gegeben hat. Ein berühmtes Beispiel aus dem Osten ist Nagarjunas Reaktion auf die Metaphysik, die sich im Buddhismus entwickelt hat, die als einseitig behauptende Lehrgebäude in Aporien ad absurdum zu führen versucht. Auch die pyrrhonische Skepsis, die auf den antiken griechischen Philosophen Pyrrhon von Elis zurückgeht, würde ich so deuten. Hier sind philosophische Streitigkeiten kritisiert worden, weil sie irrelevant für das gesellschaftliche Leben und für die Existenz von einzelnen Personen sind. Diese Ideen führten bei mir zu einer Kritik an der gegenwärtigen akademischen westlichen Philosophie. Ich habe den Eindruck, dass sie durch eine starke Professionalisierung gezwungen worden ist, den Anschein zu erwecken, an Erklärungsprojekten zu arbeiten, was bei genauerem Hinsehen jedoch gar nicht der Fall ist. Die Philosophie orientiert sich hier an den Erfahrungswissenschaften, obwohl sie gar keine Erfahrungsquellen im Labor hat. Aber sie tut, als würde sie auch etwas erklären, verliert sich aber de facto häufig einfach in begrifflichen Streitigkeiten, die weder einen Erklärungswert noch einen Orientierungswert für einzelne Menschen oder Gesellschaften haben.

Der zweite Ausgangspunkt hat etwas mit der Vorstellung von Aufklärung zu tun. Aufklärungsbewegungen sind sowohl im Osten wie im Westen häufig davon ausgegangen, dass es eine orientierende Verständigung von Menschen über Kulturgrenzen hinweg geben müsste, um bestimmte Probleme lösen zu können. Das ist in der Gegenwart aufgrund der ökologischen Krise vielleicht besonders wichtig geworden, aber diesen Wunsch hat es immer schon gegeben. Als China in viele kleine Reiche oder Indien in viele Königreiche zerfallen war, gab es immer wieder die Überlegung, man müsste eine Sprache finden, die über diese Grenzen, die damals in Streitigkeiten führten, hinweggehen, um eine Verständigung zu ermöglichen, die bis dahin nicht gelungen war. Solche Analogien zwischen bestimmten Bewegungen in der westlichen und in der östlichen Philosophie habe ich zum Anlass genommen, mich mit Menschen wie Kai Marschall, der Philosoph und gleichzeitig Sinologe ist und Geschichte der chinesischen Philosophie in Taipeh unterrichtet, zu verständigen.

In solch einem Austausch kommt man schnell auf die Frage, ob es in anderen Kulturräumen überhaupt Philosophie gibt. Denn man kann den Philosophiebegriff, der sich im antiken Griechenland gebildet hat, nicht einfach auf China, Japan oder Indien übertragen. In unserem Projekt nutzen wir deshalb das Wort »Weisheitsliteratur«, weil wir nicht nur auf philosophische Texte des so genannten Abendlandes Bezug nehmen wollen, sondern auch auf Texte aus China, Indien, Japan und, sofern es das in den weitgehend oralen Traditionen dort überhaupt gibt, Afrika. Man kann diese Texte nicht einfach als philosophische Texte bezeichnen. Wenn man über den Koran, das Alte Testament, über buddhistische Sutren oder Zen-Meister Dogen reden will, dann ist es vielleicht besser, nicht von Philosophie zu sprechen, sondern von Weisheitsliteratur. Zudem berücksichtigen wir auch literarische Texte, bei denen man den Eindruck hat, dass darin so etwas wie Philosophie stattfindet. Ich habe in der Einführung in die Philosophie zum Beispiel auch den Hungerkünstler von Kafka behandelt.

Ein interkultureller Blick

e: Das Anliegen Ihres Projektes ist es also, diese verschiedenen Ansätze zu sammeln, verfügbar zu machen und in Dialog zu bringen?

MH: Ja. Das Portal hat mehrere Ebenen. Auf der ersten Ebene veröffentlichen wir in sehr zugänglicher Form kleine Texte zu Weisheitsthemen, ohne auf eine bestimmte Tradition zu verweisen. Da gibt es Texte über Tod, über Liebe, über Leben, die von Mitarbeitern oder mir selbst verfasst werden.

Die zweite Ebene bietet Podcasts, in denen beispielsweise Kai Marschall gefragt wird, worum es eigentlich im Tao Te King geht, oder Experten zum Ägyptischen Totenbuch oder der Stoa kommen zu Wort. Wir befragen Fachleute zu bestimmten Texten, die wir für Weisheitsliteratur halten, so dass sie für Nichtakademiker zugänglich werden. Alle Zitate oder Verweise, die in diesen Podcasts vorkommen, werden in einem Booklet wiedergegeben, die Podcasts werden transkribiert, und es gibt eine Quellensammlung.

Wir hoffen, dass wir damit ein Interesse für interkulturelle Zusammenhänge entwickeln können. Wenn Philosophie unterrichtet wird, kommt meist nur die Geschichte von Platon bis Wittgenstein zur Sprache, aber im Philosophieunterricht werden der Koran, Dogen oder die Upanishaden nicht behandelt. Warum eigentlich nicht? Es wird viel über interkulturelle Verständigung und Globalisierung geredet, aber es gibt wenig Unterricht zu Weltphilosophie und interkultureller Weisheitsliteratur. Um das anzuregen, wollen wir auf möglichst niederschwelligem Niveau Zugang zur Weisheitsliteratur der verschiedenen Kontinente ermöglichen.

Auf einer dritten Ebene möchten wir ein ABC der Weisheit gestalten, wo Fachleute, die wir vorher interviewt haben, aus ihrer Tradition etwas zu Themen wie Freundschaft, Liebe, Feindschaft, Krieg oder Verzweiflung sagen.

e: Der interkulturelle Blick ist Ihnen wichtig, um zu zeigen, dass unterschiedliche Kulturen verschiedene Weisheitspraktiken oder Zugänge zum Nachdenken über die Welt gefunden haben, damit eine gegenseitige Befruchtung oder Inspiration möglich wird?

MH: Ja, das ist eine sehr interessante und schwierige Frage. Es geht nicht darum, den kleinsten gemeinsamen Nenner innerhalb der Weisheitsliteratur zwischen unterschiedlichen Traditionen zu finden. Das mag jetzt etwas technisch klingen, aber unser methodischer Zugang beruht auf Nelson Goodmans »Weisen der Welterzeugung« und Ludwig Wittgensteins »Philosophischen Untersuchungen«. Grundlegend dabei ist die Vorstellung, dass es die Möglichkeit gibt, unterschiedliche Traditionen und Perspektiven in Kunst, Wissenschaft und Philosophie ineinander zu spiegeln. Die Methode der gegenseitigen Spiegelung wollen wir auf unterschiedliche Weisheitstraditionen anwenden, sodass man, um zwei Beispiele zu nennen, die antike griechische Skepsis als eine Spiegelung des Buddhismus oder den Konfuzianismus als eine Spiegelung des Kantianismus darstellen kann. Man sucht also nicht einen kleinsten gemeinsamen Nenner wie die goldene Regel, den Pflichtbegriff oder den Zweifel, sondern man sagt, über den Zweifel kann man auf unterschiedliche Art und Weise reden.

Wir nehmen aber auch keinen neutralen Standpunkt ein, von dem aus wir sowohl den Zweifel von Pyrrhos als auch den Zweifel von Buddha anschauen, sondern wir schauen auf Pyrrhos aus der buddhistischen Perspektive, oder wir schauen auf Buddha aus der pyrrhonischen Perspektive. Das verstehen wir unter gegenseitiger Spiegelung. Es gibt also keine Metasprache, die über den Kulturen schwebt, sondern wir gehen davon aus, dass wir immer von einem kulturellen Standpunkt aus schauen, der eingeschränkt ist. Aber das bedeutet nicht, dass wir den anderen kulturellen Standpunkt nicht verstehen können. Wir können uns eben in ihm spiegeln oder den anderen kulturellen Standpunkt in unserer Kultur spiegeln.

Bewusste Kultivierung des Lebens

e: Wie fassen Sie den Begriff der Weisheit?

MH: Weisheit hat etwas mit einer bewussten Kultivierung des eigenen Lebens zu tun. Wir sprechen also einerseits von Weisheitsliteratur, anderseits von Weisheitspraktiken wie dem Bogenschießen, der Teezeremonie, den Sufi-Tänzen, dem Meditieren. Das alles sind Praktiken, durch die das Bewusstsein, die Wahrnehmung, die Empfindung kultiviert werden können. Auch Lesen und Schreiben sind besondere Weisheitspraktiken, weil dadurch das Denken kultiviert wird, vielleicht manchmal auch die Empfindungsfähigkeit. Durch solche Praktiken kann, wenn sie nur lang genug ausgeführt werden, so etwas wie eine Transformation, eine Veränderung des Lebens stattfinden. Wir gehen davon aus, dass Menschen, die sich mit Weisheit beschäftigen, transformative Bedürfnisse haben. Sie haben das Gefühl, irgendetwas in ihrem Leben funktioniert nicht richtig, sie müssen ihr Leben ändern. Sie suchen nach Literatur oder einer Praxis, die sie in dieser Transformation unterstützt. Häufig hat diese Transformation damit zu tun, dass man keine Orientierung mehr hat und durch diese Transformation wieder zu einer Orientierung zu finden hofft.

e: Worin sehen Sie die Qualitäten dieser Transformation?

MH: Das ist selbst ein Thema der Weisheitsliteratur. Wenn Sie beispielsweise auf Spinozas Ethik schauen, die wir auch als Weisheitsliteratur auffassen, dann wird darin beschrieben, dass die Transformation kognitiver, emotionaler und körperlicher Art ist. Spinoza sieht keinen Unterschied zwischen dem Körperlichen, dem Geistigen und dem Emotionalen, er fasst es in den Begriff der Geschicklichkeit. Jemand mit einem geschickten Geist besitzt auch einen geschickten Körper und umgekehrt.

In vielen Weisheitstraditionen betreffen diese Transformationen die Affekte, Denkprozesse und körperlichen Prozesse gleichzeitig. In der Meditation beispielsweise wird der Körper fixiert, indem man sich eine Stunde lang nicht rührt und auf den Atem achtet. Wenn Sie dabei auf die Bauchdecke achten, dann hat das unmittelbar einen beruhigenden Effekt. Wenn Sie bewusst ein- und ausatmen, entspannen Sie Verkrampfungen im Zwerchfell und das führt zu einer emotionalen Beruhigung. Wir wissen alle, dass bestimmte heftige Affekte dazu führen, dass wir nicht mehr richtig nachdenken können. Deshalb kann die Beruhigung von Affekten dazu führen, dass unsere kognitiven Fähigkeiten geschärft werden und unsere Unterscheidungskraft gestärkt wird. Wir können plötzlich den Standpunkt einer anderen Person besser nachvollziehen.

Oft möchten Menschen eine Transformation ihrer selbst, weil sie etwas getan, gedacht oder empfunden haben, das sie bereuen, vielleicht waren sie sehr unfreundlich gar gewalttätig. Das Ziel vieler Weisheitstraditionen besteht darin, dass Menschen verträglicher und freundlicher werden.

Zeiten der Desorientierung

MH: Warum denken Sie, dass es heute wichtig ist, die Weisheitspraktiken mehr in den Fokus zu rücken?

e: Es gibt eine starke politische Polarisierung, die teilweise auch religiös befeuert wird. Man schaue sich nur an, welche Rolle die orthodoxe Kirche in Russland oder der christliche Fundamentalismus in den USA spielt. Auch im Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten oder zwischen Palästinensern und Juden in Israel findet politische Radikalisierung teilweise durch Religion statt.

Ich habe den Eindruck, dass eine gegenseitige Spiegelung von Weisheitsliteratur zu einer Verständigung über die Lebensorientierung beitragen könnte, die nicht religiös konfessionell gebunden ist. Sie mündet aber auch nicht einfach darin, dass wir uns allein auf Naturwissenschaft und Technik verlassen, weil Physik oder Maschinenbau in Japan, Kalifornien und Peking gleich funktionieren. Naturwissenschaft und Technik führen nicht zu einer bewussten Lebensorientierung. Was durch die Globalisierung von Wissenschaft und Technik in den Lebensformen geschehen ist, ist eher, dass man die marktförmige Ausnutzung der Natur und der Menschen mithilfe von Naturwissenschaft und Technik im Kapitalismus betreibt. Das ist eine implizit eingeführte Orientierung, die sich auf dem ganzen Globus ausgebreitet hat. Und das hat uns an den Rand einer ökologischen Katastrophe geführt. Wir wissen inzwischen: Es muss ein globales Bewusstsein entstehen, um globale Probleme zu lösen. Es gibt aber große kulturelle Schranken, die verhindern, dass man sich miteinander verständigen kann.

Wenn man von den politischen und konfessionellen Differenzen absehen würde, könnte es vielleicht eine Verständigung und eine gemeinsame Orientierung über kulturelle Grenzen hinweg geben. Diese Möglichkeit sehe ich in der Weisheitsliteratur.

Die an vielen Orten vorzufindende neue Wertschätzung von Weisheitsliteratur und Weisheitspraxis hat mit einer Orientierungslosigkeit in unseren Gesellschaften zu tun. Die Entwicklungen, die von den Marktmechanismen, von Naturwissenschaft und Technik vorangetrieben werden, beantworten eben die Frage »Wie wollen wir eigentlich gemeinsam leben?« nicht.

Der erste Schub in der Entstehung von Weisheitsliteratur hat in der sogenannten Achsenzeit zwischen 1000 und 400 vor unserer Zeitrechnung stattgefunden. Auch da scheint es Orientierungsprobleme gegeben zu haben. Es entstanden Großreiche mit kulturellen Kontakten, die es vorher nicht gegeben hatte. Das führte zu einer gewissen Desorientierung, und die Reaktion darauf war der Versuch, Weisheitsliteratur und Weisheitspraktiken zu entwickeln. Später im 16. Jahrhundert gab eine zweite große Desorientierung durch die Entwicklung des Buchdrucks. Plötzlich gab es die Möglichkeit, Informationen sehr schnell an viele Menschen zu verbreiten. Auch das führte zu einer normativen Desorientierung.

Heute haben wir mit dem Internet dieselbe, ja eine noch verschärfte Situation. Es ist noch nie in der Menschheitsgeschichte möglich gewesen, in so kurzer Zeit so viele Menschen mit einer Meinung, Information oder Desinformation zu versorgen. Das führt zu einer furchtbaren Desorientierung, aber es ist gleichzeitig auch eine Chance dafür, dass Verständigungsprozesse in Gang kommen, die ohne dieses Medium nicht möglich wären. Das Fatale ist, dass das Internet im Moment hauptsächlich ein Geschäftsmodell ist. Unsere Aufmerksamkeit wird ökonomisiert, Klicks werden gezählt und benutzt, um Werbeeinnahmen zu generieren. Das Internet dient also nicht hauptsächlich der Verständigung, sondern der Profitmaximierung. Hier muss was Ähnliches eintreten wie nach der Erfindung des Buchdrucks, wo man die Verbreitung von Druckschriften durch die Erfindung von Verlagen reguliert hat. Das müsste auch im Internet passieren, aber wir wissen nicht, ob es schnell genug geschehen wird, bevor die Polarisierung, die im Moment die Konsequenz dieser Aufmerksamkeitsökonomie ist, dazu führt, dass noch schlimmere Gewalttätigkeiten ausbrechen, als es jetzt schon der Fall ist.

e: Weisheitsliteratur und Weisheitspraktiken sind in einem bestimmten historischen Kontext entstanden. Haben Sie den Eindruck, dass sie auch in unserem kulturellen Kontext gelesen werden können, oder müssen wir sie neu deuten? Oder gibt es auch neue Formen von Weisheitsliteratur und Weisheitspraxis, die heute relevant sind?

MH: Als Philosophiehistoriker bin ich da vielleicht ein bisschen naiv, aber ich habe den Eindruck, dass die guten Texte sehr, sehr haltbar sind. Mit unserem Projekt wollen wir verschiedene Kanäle der digitalen Medien nutzen: Texte, Podcasts, Comics, die auf Twitter, Instagram, Spotify usw. verfügbar sind. Wir werden sehen, ob wir da wirklich andocken können. Es wird sicher nicht leicht. Unsere Idee ist, dass der Kern dieser Texte so stark ist, dass schon in einem 30 Sekunden Comic etwas darüber transportiert werden kann. Und der Sinologe Kai Marschall kann in einer halben Stunde erklären, worum es im Tao te King geht. Dann können Sie es natürlich auch noch lesen. Also von 30 Sekunden bis zu einem Monat können Sie sich damit beschäftigen. Wir werden versuchen, für all diese Ebenen etwas anzubieten.

Wege zur Praxis

e: Möchten Sie die Menschen anregen, sich intensiver mit solchen Weisheitspraktiken zu beschäftigen?

MH: Ja, genau. Durch die Podcasts und Texte möchten wir ein Verständnis von Weisheitspraktiken unterstützen. Viele denken, Meditation sei ein buddhistischer Ritus oder eine Methode zu Selbstoptimierung, die man in einem Wellness Center neben dem Moorbad auch noch machen kann. Weisheitspraxis ist keines von beidem, sondern dabei geht es um eine Kultivierung des Bewusstseins und der Empfindungen. Manche denken, bei der Teezeremonie gibt man mit tollem Geschirr und seltenem Tee an, oder es ist eine merkwürdige Art, auf Japanisch eine Party zu feiern. Wir denken in der Regel nicht, dass solch eine Praxis mit Bewusstseinskultivierung zu tun hat. Auch das Bogenschießen ist keine Jagdpraxis und kein Sport. Im Zen ist es etwas anderes, wenn man den Bogen selbst herstellt. Es ist auch eine Konzentrationsübung und eine Übung zur Wahrnehmung des eigenen Körpers.

Die Podcasts über solche Praktiken zeigen diese tieferen Beweggründe auf. Das kann Menschen anregen, auch mal einen Kurs in der einen oder anderen Praxis zu machen und das zu vertiefen. Auf so einem Portal können wir diese Praktiken natürlich nicht lehren, aber wir können mit Leuten, die sie lehren, sprechen und dadurch mögliche Berührungsängste oder Vorurteile abbauen.

e: Gibt es aus Ihrer Sicht in der Unterschiedlichkeit von Weisheitspraktiken auch verbindende Elemente?

MH: Viele Praktiken haben etwas mit der Kultivierung der Aufmerksamkeit zu tun, mit der Fähigkeit, die von Eigeninteressen geleitete Aufmerksamkeit zurückzufahren. Wir haben alle irgendwelche Interessen, die sich aus unserer biologischen und sozialen Verfasstheit ergeben. Wir wollen alle etwas trinken, etwas essen, Sex haben, wir wollen eine Karriere machen, Geld verdienen und einen Status erreichen. Meistens ist unsere Aufmerksamkeit durch diese Interessen gelenkt – wir sehen die Torte lieber an als den Müllhaufen, weil wir das eine essen können und das andere nicht. Manche Leute gehen durch den Wald, und wenn sie eine Lichtung sehen, fragen sie sich, ob man da nicht ein Haus bauen könnte. Unsere Aufmerksamkeit ist also häufig gefangen durch unsere biologischen und sozialen Interessen.

Viele Weisheitspraktiken haben etwas damit zu tun, dass man sich von diesen sehr einengenden Interessen loslöst. Man sieht plötzlich etwas in der Welt, was man vorher nicht gesehen hat, und erkennt in anderen Menschen etwas, was man vorher gar nicht wahrgenommen hat. Die Aufmerksamkeit wird befreit von marginalen Interessen, ohne diese gering zu schätzen. Natürlich brauchen wir Wasser zum Trinken. Aber wenn Sie am See sitzen, das Licht sich spiegelt und Sie sich darüber freuen, sind Sie in einem anderen Zustand, als wenn Sie durstig sind und in den See stürzen, um zu trinken. Das eine ist eine eingeengte, in unserer endlichen Bedürftigkeit gefangene Aufmerksamkeit und das andere ist eine ichfreie, entspannte, weltoffene Aufmerksamkeit.

Jenseits der eigenen Perspektive

e: Wie überträgt sich diese Form von Aufmerksamkeit auf das gesellschaftliche Zusammenleben, wo man unterschiedliche Interessen miteinander abwägen muss? Dabei könnte ja eine Offenheit oder eine gewisse Losgelöstheit von den eigenen Interessen auch hilfreich sein.

MH: Wenn wir einander mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen, dann ist es sehr viel schwieriger, sich unfreundlich oder gar grausam zueinander zu verhalten. Das geht viel leichter, wenn man sich nicht kennt und sich nicht aufmerksam wahrnimmt. Das gilt auch für Tiere und Pflanzen. Den Baum abzusägen, den ich jahrelang vor meinem Fenster angeschaut habe, ist viel schwerer, als einen Baum abzusägen, den ich vorher noch nie gesehen habe. Ein Rind zu töten, das mir noch nie begegnet ist, ist natürlich sehr viel leichter, als den eigenen Hund zu erschießen, der zehn Jahre bei mir in der Wohnung gewohnt hat. Es gibt also einen ganz klaren Zusammenhang zwischen der Aufmerksamkeit, die man etwas zuwendet und der Fähigkeit, es zu zerstören, zu beschädigen oder gar aus der Welt zu schaffen. Je mehr Aufmerksamkeit man auf etwas richtet, umso wertvoller wird es für einen und umso schwieriger ist es, sich zerstörerisch, verbrauchend, schädigend zu verhalten. Die Zerstörung unserer Fähigkeit, sich aufmerksam etwas zuzuwenden, ist direkt proportional zu unserer Fähigkeit, etwas zu zerstören.

e: Die Kultivierung der Aufmerksamkeit ist also mit der Kultivierung von Empathie und Mitgefühl verbunden.

MH: Empathie ist eine Form von Aufmerksamkeit. Man kann nicht empathisch sein und die Aufmerksamkeit von der anderen Person abwenden. Auf eine Wunde zu schauen ist auch eine Form von Aufmerksamkeit. Sie können nicht auf eine blutende Wunde schauen, ohne das Bedürfnis zu haben, sie irgendwie zu heilen. Wenn Sie einfach an jemandem vorbeigehen und gar nicht merken, dass er blutet, dann war Ihre Aufmerksamkeit zerstreut oder abgelenkt. Empathisch zu sein bedeutet, aufmerksam für die andere Person zu sein.

Die Kraft des Erzählens

e: Sie verstehen auch das literarische Erzählen als eine Weisheitspraxis. Warum?

MH: Das hat mit unserer Endlichkeit zu tun. Wir haben Schwierigkeiten damit, dass Dinge oder andere Wesen verloren gehen, weil sie endlich sind. Deshalb versuchen wir uns zu erinnern. Und das Erzählen ist meiner Ansicht nach die kultivierteste Form, sich an etwas zu erinnern. Man gibt dem Erlebten eine feste sprachliche Form, die es uns erlaubt, immer wieder zurückzukehren zu diesem Wesen, das nicht mehr da ist. Das ist eine Kultivierung der Erinnerung in einer Form, die es uns ermöglicht, mit der Endlichkeit von uns selbst,von allen unseren Freunden und Verwandten – und wem oder was auch immer – auf kultivierte Weise umzugehen. Das passiert ja beispielsweise auf Trauerfeiern, wo man sich erzählt, was man mit der verstorbenen Person erlebt hat. Das systematische Erzählen ist die Kultivierung dieses Prozesses. Dabei ist das Erzählen der Kern unseres kulturellen Gedächtnisses.

e: Dies auch in dem Sinne, dass das gelebte Leben und was da erfahren und vielleicht auch gelernt wurde oder was an transformativen Momenten geschehen ist, vergegenwärtigt wird oder in eine Form gebracht wird, die man weitertragen kann.

MH: Genau, das finde ich ganz wichtig, dass man immer wieder zurückkommen kann zu bestimmten Erlebnissen oder persönlichen Mustern in der Erzählung, die man vielleicht erst mal gar nicht richtig verstanden hat. Aber wenn man sich die Erzählung wieder vornimmt, kann man auch etwas verstehen, das man eventuell nicht verstanden hat, als man es erlebte. Insofern ist es sehr wichtig, dem auch eine feste Form zu geben.

Wenn die Literatur gelingt, dann kann sie an etwas erinnern. Das ist ja das Merkwürdige an der Literatur, dass wir sie gerne lesen und schön finden, auch wenn sie von dem Schrecklichsten handelt. Simone Weil hat das in Bezug auf Homer reflektiert: Wie kommt es, dass wir die »Ilias« gerne lesen, obwohl dauernd vom Töten die Rede ist? Sie sagt, das liege daran, dass Homer einen unbeteiligten Standpunkt gegenüber den Griechen und den Troianern einnimmt. Er ist weder für die einen noch für die anderen. Er schildert das Leid der einen mit der gleichen Anteilnahme wie das Leid der anderen. Das hat für uns etwas Befreiendes oder Erhebendes. Wir erleben gerade im Ukrainekrieg wieder, dass man dieses furchtbare Geschehen nur von einer Seite aus sieht, die andere Seite will man gar nicht sehen. Man hofft, dass die anderen schnell besiegt werden, ohne dass man daran denken möchte, was denen passiert, wenn sie besiegt sind. Manchmal schafft es die Literatur, sich über diese Parteilichkeit, in der wir gefangen sind, zu erheben. Dann wird die Darstellung des Schrecklichsten zu etwas Erstaunlichem, das wir immer wieder lesen wollen. Das ist eine große Erinnerungsleistung, die wir sonst nicht vollbringen könnten. Normalerweise funktioniert unsere Erinnerung so, dass wir das, was uns nicht passt, verdrängen und vergessen, und das, was uns gut gefallen hat, behalten wir. So funktioniert gute Literatur ja eben gerade nicht.

e: Durch diesen größeren Blick werden die Grundqualitäten oder Erfahrungen des Lebens spürbar, aber in der Literatur ist es nicht konzeptuell. Erfahrungen wie Freundschaft, Liebe, Verzweiflung, denen man sich philosophisch nähern kann, werden in der Literatur erzählt und dadurch unmittelbarer. Man fühlt man sich in der eigenen Lebenserfahrung direkt abgeholt oder mit hineingenommen, weil man es nachvollziehen kann.

MH: Genau, man kann diese Erfahrungen in der Regel selbst eben nicht so ausdrücken. Wir haben nicht die Worte dafür. Aber wenn man Goethes »Wahlverwandtschaften« oder »Stiller« von Max Frisch liest, dann weiß man, wie Paare miteinander verstrickt sein können, wie sie sich voneinander entfremden und in ziemlich katastrophale Situationen geraten können. Man hat plötzlich Worte für etwas, was einen selbst vielleicht nur verzweifelt und sprachlos zurückgelassen hat. Es gehört zur Weisheit dazu, dass man etwas anschauen oder sagen kann oder Worte zur Verfügung gestellt bekommt für das, was man eigentlich nicht schafft anzuschauen oder zu sagen, weil es zu schwer ist. Wenn ich so die Worte dafür finde, dann hat das etwas Tröstendes oder lässt uns die eigene Erfahrung klarer sehen.

Das Gespräch führte Mike Kauschke.

Michael Hampe ist ord. Professor für Philosophie an der ETH Zürich. Philosophiehistorisch beschäftigt er sich mit der europäischen Philosophie in der Frühen Neuzeit, vor allem mit Spinoza, der Aufklärungsbewegung und der Geschichte des Pragmatismus, vor allem mit John Dewey und Alfred North Whitehead, systematisch mit dem Verhältnis von Literatur und Philosophie sowie von Weisheit und Philosophie (auch interkulturell). Veröffentlichungen: »Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik«, Berlin 2014. «Die Wildnis. Die Seele. Das Nichts. Über das wirkliche Leben«, München 2018.