Horchen, was die Stunde schlägt – Hildegard Kurt

Eine Meldung morgens im Radio während des Teil-Lockdowns letzten November. Unter dem Motto »Ohne Kunst & Kultur wird´s still« riefen prominente Musiker*innen zu »zwei Minuten Stille« in den Sendekanälen auf: eine symbolische Aktion, um auf die Corona-bedingt bedrohliche Lage vieler Kulturschaffender hinzuweisen und darauf, was die Zwangspause der Kunst- und Kulturszene bewirkt. Als freie Kulturschaffende habe auch ich mich 2020 nur mit einem glücklicherweise gefundenen Teilzeitjob im »systemrelevanten« Bildungsbereich über Wasser halten können. Obwohl also selbst betroffen, ertappte ich mich bei dem spontanen Gedanken: Das wär´s! Kollektive Stille, entschlossen gehalten, immer wieder, am besten zwanzig Minuten pro Tag oder länger … Würde ein dergestalt bewusstes, öffentliches, lauschendes Innehalten auf allen Kanälen und namentlich auf den Feldern der Politik in der aktuellen Weltlage nicht ebenso dringend gebraucht wie staatliche Unterstützung für Einkommensverluste?

Vielleicht mehr noch als die inzwischen allerorts spürbar werdende Erderwärmung hat der Mikroorganismus Corona uns, persönlich wie als Gesellschaften, an den vorderen Rand des Wissbaren gerückt. Wo etwas wie ein gemeinsames Menschheitsschicksal wahrnehmbar wird. Wo weit und breit kein Masterplan zur Lösung der planetaren Krisen in Sicht ist. Während zugleich die Polkappen weitaus schneller als erwartet schmelzen, ein Auftauen der Permafrostböden nicht mehr auszuschließen ist und die auf Profit getrimmte Megamaschine namens Ökonomie weiter ungebremst den Planeten mit allem, was lebt, verwüstet. Was geschieht da gerade? Wo sind wir? So sehr jetzt entschlossenes Handeln ausgehend von gründlichem Nachdenken gefragt ist, drängt sich nachgerade etwas Weiteres auf: das Nachhorchen als Basis verändernden Handelns. Das Horchen, was die Stunde schlägt.

Von Tag zu Tag deutlicher entpuppt jener vordere Rand des Wissbaren sich jetzt in der unmittelbaren Wahrnehmung als Epochenrand. Bis in den Alltag hinein wird nun spürbar, wie wenig tragfähig Grundannahmen der westlich geprägten Moderne inzwischen sind. Mehr noch: Wir erfahren quasi am eigenen Leib, dass sie von Anfang an falsch waren. So etwa führen die rings um den Planeten abgefackelten Wälder beißend vor Augen, wie unheilstiftend die Ansicht ist, allein der Mensch sei ein Subjekt, während alle nichtmenschlichen Wesen Objekte, Dinge seien, frei für den Menschen verfügbare Ressourcen. Der Soziologe Hartmut Rose, einer der Pioniere, die über den Epochenrand hinausleuchten, erklärt, der lange schon überfällige Wandel hin zu einer lebensdienlichen Zivilisation basiere darauf, vom Modus des »Verfügens« zu dem des »Vernehmens« von Welt zu gelangen: zu Resonanzbeziehungen zwischen gleichwürdigen Subjekten.

So stehen am derzeitigen Epochenrand unaufschiebbar neue große Fragen im Raum, etwa: Wie lässt sich das Soziale über die Sphäre der menschlichen Gesellschaft hinaus auf die gesamte lebendige Mitwelt erweitern? Wie könnte eine Rechtspraxis aussehen, die der lebendigen Mitwelt den Status »juristischer Personen« zuerkennt? Ansätze dafür sind die Verankerung der Rechte von »Mutter Erde« u. a. in den Verfassungen Ecuadors und Boliviens und die Anerkennung der Rechte von Ökosystemen – eines Flusses, eines Nationalparks – in Neuseeland und Kolumbien.  

Während der Wandel hin zu praktizierter Ehrfurcht für alles Lebendige immens drängt, lässt er sich kaum »machen« im Sinne bloß zweckrationalen Handelns. Vielmehr braucht es hierfür wohl tatsächlich die Bereitschaft zu »vernehmen«: eine resonanzfähige, sich aus Verbundensein nährende Geisteshaltung, mit der das, was transformiert, weniger gemacht als vielmehr erkannt und eingelassen wird.

Zwei Minuten Stille, gerne auch mehr. Immer wieder. Der lebendigen Mitwelt lauschen, dem mit allem, was lebt, geteilten Sein. Hören, was ist. Was werden könnte. Erreichbar, berührbar dafür werden. Jetzt. Ich stelle mir vor, wie, unterstützt von solchen Momenten mitten im Alltag, ein Weltbezug erwachsen könnte, der nicht mehr diskursiv – über etwas reden – zu bleiben braucht, sondern dialogisch werden darf: in (nonverbalen) Gesprächen zwischen Ich und Du.

DR. HILDEGARD KURT ist Kulturwissenschaftlerin, Nachhaltigkeitsforscherin und Autorin. Sie ist Mitbegründerin des und.Institut für Kunst, Kultur und Zukunftsfähigkeit e. V. und Mit-Initiatorin der »Erdfest-Initiative«. www.und-institut.de www.erdfest.org/de