Zwischen Broadcasting und Deepcasting: Inspirationen und Impressionen vom 2. IDGs Summit in Stockholm – Elke Fein


Foto: Stefania Noriega

Kürzlich ging der zweite und bisher größte IDGs Summit in Stockholm zu Ende. Über 1.500 Teilnehmende waren vor Ort präsent, weitere rund 7.000 nahmen an der Online-Übertragung teil.

Das sich über vier Tage erstreckende Programm begann mit einer Un-conference zur Vernetzung der Aktivitäten lokaler IDG-Hubs im Haus Blivande, der Heimat des Stockholmer IDG-Hubs. Den mutmaßlichen Höhepunkt bildete alsdann der erste Plenartag mit rund einem Dutzend zum Teil renommierter Speaker in der Cirkus-Arena auf der Stockholmer Tiergarten-Insel sowie ein Tag mit fünf über das ganze Stadtgebiet verteilten thematischen Workshop-Tracks. Den Abschluss bildete ein halber Tag mit Raum für „Nachglühen“, Integration und Feiern. In diesem Rahmen bot auch unser Institut für integrale Studien gemeinsam mit Partnern aus dem Cohere+ Projekt, The Hague Center for Global Governance, Life Itself und Emerge einen Reflexions-, Auswertungs- und Integrationsworkshop an. – Diese stärker interaktive Qualität einer ko-kreativen Einbindung aller Teilnehmenden hatte im Prozessdesign der beiden Haupt-Konferenztage weitgehend gefehlt.

Zur Geschichte der IDGs

Die Idee der Inner Development Goals entstand im April 2019 bei einem Treffen von Forschenden und Praktiker:innen im Bereich der Leadership, Erwachsenenentwicklung und Nachhaltigkeit in Thomas Björkmans Seminarhaus auf der Insel Ekskäret (Eicheninsel). Die Initiative und Bewegung dazu wurde 2020 durch die Ekskäret Stiftung, The New Division und die 29k Stiftung offiziell gegründet und mit einem Zeitungsartikel zur Bedeutung von Erwachsenenentwicklung öffentlich lanciert.

Das Ziel der gemeinnützigen Open-Source-Initiative ist es, gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit zu schaffen für die Bedeutung innerer (individueller und kultureller) menschlicher Entwicklung. Mithin stellt sie die These in den Raum, dass die 2015 verabschiedeten 17 UN-Entwicklungsziele ohne eine korrespondierende innere Entwicklung jedes und jeder Einzelnen und der Menschheit insgesamt hin zu nachhaltigen Werten, Denk- und Verhaltensweisen nur schwer erreichbar sind.

Seither gab es bereits zahlreiche Veranstaltungen, darunter Workshops, drei MindShift – Growth that Matters-Konferenzen und einen ersten Live-Summit in Stockholm im vergangenen Jahr mit insgesamt über 3.000 aktiven Teilnehmenden. Inzwischen sind über 250 sogenannte IDG-Hubs auf der ganzen Welt entstanden, die sich dem Ziel verpflichtet haben, die IDGs bekannt zu machen und lokal zu verankern. Ferner konnte eine beachtliche Zahl von Förder-Partnerschaften mit Unternehmen geschlossen werden, die sich zu den IDGs bekennen und die Initiative in ihrer Arbeit unterstützen (darunter Google, IKEA, Volvo und Novartis).

Ein besonderer Erfolg ist, dass sich mit Costa Rica 2023 sogar ein erster Staat den IDGs verpflichtet hat. Zahlreiche UN- und internationale Organisationen sowie nationale schwedische Ministerien waren ebenfalls in Stockholm präsent. Damit ist der Initiativgruppe innerhalb weniger Jahre ein bemerkenswerter Outreach gelungen, der darauf hoffen lässt, dass das Thema innere Entwicklung auf der internationalen Agenda sukzessive einen größeren, angemesseneren Stellenwert erhält.

Workshop des Instituts für integrale Studien gemeinsam mit Partnern aus dem Cohere+ Projekt, The Hague Center for Global Governance, Life Itself und Emerge

Einordnung und politische Relevanz

Mit ihrer Botschaft, das Bemühen um sozio-ökonomische Entwicklung durch entsprechende innere Entwicklung zu flankieren, ist die IDGs-Initiative eine wichtige Stimme im wachsenden Chor derjenigen, die verstanden haben, dass unser aktuelles Wirtschafts- und Lebensmodell mit seinen Prioritäten und blinden Flecken direkt in den Abgrund führt. Eine auf quantitatives Wachstum ausgerichtete Ökonomie zerstört nicht nur unsere natürlichen Lebensgrundlagen, sondern auch unsere sozialen Beziehungen und unser Gefühl von Verbundenheit – sowohl mit andern wie auch mit uns selbst und einem Erleben von Sinnhaftigkeit, das sich aus dem Dienst an einem größeren Ganzen ergibt.

Ähnliche Fehlentwicklungen werden zunehmend auch im Bereich des politischen Miteinanders diskutiert. So kann die IDGs-Initiative an vielfältige Bestrebungen zu einer Vertiefung unserer Demokratien anknüpfen, etwa Hanzi Freinachts „Zuhörende Gesellschaft (Listening Society)“, das kürzlich von den beiden Vorstände von Mehr Demokratie, Claudine Nierth und Roman Huber, veröffentlichte Plädoyer für eine „Demokratie der Zuneigung“ oder mein gemeinsam mit fünf Kolleginnen im Frühjahr 2023 erschienenes Buch „Integrale Politik“. Sie alle drängen auf die eine oder andere Weise darauf, die inneren Dimensionen (den inneren Quadranten) von Politik konsequenter mit einzubeziehen. Bei Nierth und Huber liegt der Fokus auf einer bewussten Integration unserer Emotionen, insbesondere der schwierigen; Hanzi Freinachts metamoderne Politik buchstabiert ein ganzes Panorama an inneren Entwicklungsdimensionen auf, und „Integrale Politik“ zeigt anhand der wichtigsten Impulsgeber die Vielfalt und Bedeutung integralen Denkens für ein ganzheitlicheres Verständnis von Politik auf.

Was also sind die Inner Development Goals und wozu brauchen wir sie?

Foro: Stefania Noriega

Eine große Frage, 5 Dimensionen und 23 Kompetenzen: die IDGs im Überblick

In einem mehrjährigen, von namhaften Forschenden im Bereich der Erwachsenenentwicklung begleiteten Crowdsourcing-Prozess sammelte, sichtete und bündelte die IDGs-Initiative die Antworten von zahlreichen Expertinnen und Praktikern aus dem Feld zur Frage: Welche Kompetenzen und Fertigkeiten brauchen wir, um eine nachhaltige Zukunft zu gestalten? (die „one big question“ der IDGs). Dabei kam ein Modell aus den folgenden fünf Kerndimensionen innerer Entwicklung heraus, die sich jeweils aus vier oder fünf Kompetenzen zusammensetzen:

Die Initiative betrachtet das Modell dabei erfreulicherweise nicht als in Stein gemeißelt, sondern als einen ersten Diskussionsvorschlag, um das Thema innere Entwicklung in die Öffentlichkeit zu tragen. Mit der Verbreitung ihrer „one big question“, also der im Zentrum stehenden Forschungsfrage nach den inneren Zukunftskompetenzen, lädt sie aktiv dazu ein, das Modell weiterzuentwickeln und zu verfeinern.

Die im Modell abgebildeten 23 Kompetenzen wurden beim Stockholmer Summit erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt – und zwar in jeder Dimension durch einen passenden künstlerischen Impuls, etwa durch einen Pianisten, eine Wortkünstlerin und weitere Performances. Damit unterstrich der Summit den grundlegenden Anspruch der IDG-Initiative, „zuallererst ein Kommunikationsprojekt“ zu sein, ein Wegzeichen, das Gespräche in Gang setzen kann und soll. Die Aufgabe der IDGs „ist es, mehr Menschen und Organisationen auf die Bedeutung der inneren menschlichen Entwicklung aufmerksam zu machen. (…) Wir beschreiben (die IDGs) als ein ‚nacktes‘ Modell. Es entspringt keinem spezifischen spirituellen oder kulturellen Hintergrund“ und möchte kein Selbstzweck sein, sondern vielmehr auf die Fülle an originärer Forschung zum Thema verweisen (Quelle: Going Deeper).

Diese Verbindung aus Präzision, einfacher Zugänglichkeit, Professionalität und spielerischer Ganzheitlichkeit dürfte eins der Erfolgsgeheimnisse der Initiative sein. Der andere ist ihre schiere Not-wendigkeit in einer Zeit, in der immer mehr Menschen klar wird, was auf dem Spiel steht und worum es eigentlich, wirklich, wirklich geht. Dies wurde von den Rednerinnen und Rednern auf dem Summit denn auch klar und unverschnörkelt auf den Punkt gebracht.

Warum also Inner Development Goals?

Kaum jemand hat es so direkt formuliert wie Daniel Schmachtenberger: „Wir haben inzwischen annähernd die Macht von Göttern angehäuft – leider noch nicht die Weisheit von Göttern.“ Wie es aussieht, verlangt wissenschaftlicher und technischer Fortschritt, wie ihn die Moderne und Postmoderne hervorgebracht haben, nach einer „nachholenden Bewusstseinsentwicklung“, um ausreichend verantwortlich – das heißt lebensdienlich mit technischen Errungenschaften wie künstlicher Intelligenz umgehen zu können.

Demgegenüber können wir aktuell beobachten, wie die Nicht-Nachhaltigkeit unserer Kulturen und Wertesysteme sowie unsere daraus entstandenen Strukturen und Systeme uns in einen „Wettlauf nach unten“ hineinzwingen. Erik Fernholm, der Gründer der Meditationsapp 29k und Mitbegründer der IDGs-Initiative, bezeichnete es als ein „Handeln auf der Grundlage der Fantasie der Trennung in einer verbundenen Welt“, … wobei das ökonomische Erfolgsrezept bislang darin bestehe, sich weniger um andere und die Umwelt als um sich selbst zu kümmern und die Folgen des eigenen Handelns zu externalisieren. Leidtragende sind die natürlichen und sozialen Ökosysteme.

Neben den allseits bekannten Daten und Fakten zur Klimakrise wurden in Stockholm auch zahlreiche soziale Kollateralschäden betont:

Kurz und gut: Der Mensch ist die Ursache unserer Probleme. Er kann bzw. sie muss daher auch der Ursprung wirklich nachhaltiger – oder besser: regenerativer Lösungen sein. Bei der Klimapolitik geht es, so der Tenor in Stockholm, eigentlich weniger ums Klima als um uns. Ebenso geht es weniger um Technik als um die Frage nach unseren Werten und Prioritäten, sowie unserer Vorstellungskraft. Wie die Moderatorin Katharina Moser resümierte, kann auch eine noch so stark gesteigerte Geschwindigkeit (Wachstum um jeden Preis) nicht aufwiegen, dass man in die komplett falsche Richtung läuft.

Ein grundlegender Wandel im Bereich von Werten und Prioritäten beginnt mit der Anerkennung – und dem Benennen der Realitäten. Gleichwohl, so ein Panelteilnehmer aus der Politik, scheint die größte Herausforderung in unserem politischen Systemdarinzu bestehen, die Wahrheit – bzw. schlicht unbequeme Wahrheiten als solche aussprechen:

  • Wir bräuchten flächendeckend 97% Kreislaufwirtschaft, manch ein EU-Staat hat jedoch erst eine Recyclingquote von 12 %.
  • Die EU kann sich nur 144.000 neue Wohnungen pro Jahr erlauben, will sie die planetaren Belastungsgrenzen respektieren.
  • Ein T-Shirt müsste eigentlich 450 Euro kosten, wenn alle Kollateralschäden einberechnet würden. 

Bedeutet dies, dass wir „zurück in die Steinzeit“ müssen? Oder in die Nachkriegszeit, in der man zu klein gewordene Strickpullover aufzog und neu gestrickt hat? Eher nicht. (Für Deutschland gibt es Ulrike Hermann zufolge Berechnungen, nach denen der Lebensstandard von 1978 die Zielgröße wäre.)

Aber: wir brauchen dringend neue Visionen. Wir brauchen eine Politik mit einem deutlich weiteren (inneren, äußeren und zeitlichen) Horizont, eine Politik mit mehr Fantasie und mit mehr Vertrauen in unsere Fähigkeiten, aber auch in unsere Möglichkeiten. Eine Politik mit mehr Mut, die Komfortzonen von politics as usual zu verlassen. Eine Politik, die die Realitäten anerkennt, aber zugleich den Raum des Möglichen drastisch erweitert, und die tut, was nötig ist, weil es nötig ist.

Phoebe Tickell erinnerte beim IDGs Summit daran, dass sieben Jahre nachdem jemand (der damalige US-Präsident) dazu eine klare Intention gesetzt hatte, die ersten Menschen zum Mond geflogen sind. Im Rahmen ihrer Arbeit zu „Moral Imaginations“ ruft sie dazu auf, die Vorstellungskraft entsprechend auszuweiten, über Lösungen jenseits des aktuellen Paradigmas hinaus, also unsere Systeme auf der Grundlage einer anderen Logik aktiv zu re-imaginieren, anstatt nur kaputte Systeme reparieren zu wollen. Sie spricht von einem imagination activism, der uns von der Marktlogik der Transaktion, Extraktion und Trennung hin zu einer Liebeslogik des Bewahrens, Pflegens und Verbindens führen könnte.

Unter den Pionieren einer neuen, integralen oder metamodernen Politik ist die hierzu verhelfende Haltung verschiedentlich beschrieben worden. Nicht zuletzt sind Spiel und Ironie gute Gegenmittel zum Krisenmodus – und Elemente „post-tragischer Hoffnung“ (Fernholm). „Auch wenn es ernst ist, lasst es uns nicht langweilig machen!“, so auch der IDGs-Executive Director Jan Artem Henriksson.

Die IDGs tragen hierzu einen bunten Strauß an Kompetenzen und Fähigkeiten (skills) bei, deren Quintessenz in der Verbindung von Intelligenz und Weisheit besteht. Besonders letztere – als Herz-Intelligenz – steht im Fokus der inneren Entwicklung: „Wir müssen unsere Herzen erweitern, um in der Lage zu sein, sowohl den Raum für Schmerz als auch für größere Möglichkeiten zu halten“, so Fernholm. Dazu gehört auch „die Fähigkeit, Komplexität auszuhalten und nicht sofort zu Lösungen zu springen“ und das Raumlassen für glückliche „Zufälle“ (serendipity) und für Gnade (ebd.). Letztlich, so Erik Fernholm, sei es mitunter ein gutes Zeichen, wenn Dinge nicht rund laufen: „Wenn du Unbehagen spürst, bist du am richtigen Ort – es findet gerade Entwicklung statt!“

Den Schritt von Big Data zu „Deep Data“ für einen größeren Kreis von Menschen, Organisationen und Institutionen interessant zu machen, ist ein großes Verdienst der IDGs. Tatsächlich wirkte selbst das Mammut-Event mit 1.500 Menschen als ein überaus freundlicher und einladender Raum. Die IDGs Community hat immerhin das Potential, zu einer „Gemeinschaft edler Freunde“ zu werden (Nipun Mehta), die sich einig ist: „Wir müssen eine Rolle spielen in der anstehenden Transformation!“

Dr. Elke Fein ist Mitbegründerin und Geschäftsführerin des Instituts für Integrale Studien (IFIS), wo sie in den letzten zehn Jahren das Erasmus+-Projekt “Leadership for Transition (LiFT”) geleitet hat. Als Sozial- und Politikwissenschaftlerin koordiniert sie derzeit die Aktionsforschung des EU-geförderten Cohere+ Projekts zur Frage, wie Kohärenz Wandelakteure in ihrer Arbeit unterstützen kann. https://www.ifis-freiburg.de/