iSinn und duSinn: Ein Tag im Schloss Freudenberg

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Ein Tag im Schloss Freudenberg

Mike Kauschke

Am Samstagmorgen nach den Terroranschlägen in Paris wachte ich auf und wusste nicht, ob ich meinem Plan folgen und zu einer Tagesveranstaltung zum Thema „iSINN: Die Wirkung der Medien auf unsere Sinne“ im Schloss Freudenberg in Wiesbaden fahren sollte. Obwohl ich noch nicht das ganze Ausmaß des Geschehenen vor Augen hatte, legte sich eine bleierne Schwere auf mich. Was tun? Weil ich mich diesem Gefühl der Lähmung nicht einfach ergeben wollte, machte ich mich auf den mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht einfachen Weg von Frankfurt zum Schloss Freudenberg, von dem mir Freunde schon viele Male begeistert berichtet hatten.
Als ich von der Bushaltestelle um die Ecke und in die Allee zum Schloss einbog, dachte ich: „Wow, ein echtes Schloss!“ Beim Näherkommen sah ich dann bald, dass es nicht eines der gut konservierten Schlösser für Touristen ist, sondern ein lebendiges. Als ich durch den großen Flur mit Kamin ging, die Treppe hinauf in den Saal, wo der Tag heute starten sollte, spürte ich sofort eine vertraute Atmosphäre. Im Saal saßen etwa 60 Leute, an den Wänden hingen Wandtafelzeichnungen von Rudolf Steiner, wie sich sie schon oft auf Postkarten gesehen hatte. Hier in „Lebensgröße“ gaben sie dem Raum etwas Vergeistigtes und zugleich Unfertiges, noch zu Werdendes.
Als ich hereinkam, stimmte Beatrice Schenk, die Ko-Leiterin des Schlosses, gerade in den Tag ein, dessen Motto im Programmheft so umschrieben wurde: „Mein Smartphone und ICH. Wohin führt es mich? Wohin verführt es mich?“ Darauf folgten einige Beiträge, für die Sprecher sieben Minuten Zeit hatten. Darunter waren die Lehrerin Miriam Hornig, die über Tablets und neue Medien im Schulunterricht sprach, der selbst ernannte „Nörd“ (genau so) William D. Bascom, der erklärte wie im Internet aus einem kleinen Impuls eine millionenfache Lawine werden kann (Stichwort WorldJumpDay), der junge Digital Native Lasse Scheiba, der das zumeist ältere Publikum aufforderte, keine Scheu vor neuen Medien zu haben und „das Spiel mitzuspielen“ und zu gestalten, und der Beuys-Schüler Johannes Stüttgen, der den Wandel von der Ratio zum (lebendigen) Denken, von der Technik zur Kunst und vom Ego zu einem (höheren) Ich anmahnte. Um nur einige zu nennen.
Danach gingen wir gemeinsam ins Erdgeschoss, vorbei an verschiedenen Erfahrungsfeldern, für die das Schloss Freudenberg bekannt ist, für die ich nun noch keine Zeit hatte. Aber neugierig wurde ich, was es mit dem großen Becken voll Wasser (ein Klangbecken) oder dem aufgehängten Labyrinth, in dem man eine Kugel bewegen konnte, wohl auf sich hat. Wieder versammelt, konnten die Teilnehmer zu Teilgebern werden und Fragen stellen, die sie dann gemeinsam mit anderen in getrennten Kleingruppen besprechen konnten.
Ich musste nicht lange überlegen, da fiel mir die Frage ein: „Wie verändern Smartphone und Internet unser Bewusstsein?“ Diese und einige ähnliche Fragen stießen auf recht großes Interesse und so fanden wir uns im „Klangraum“ wieder, in dem an beiden Seiten große Gongs aufgestellt waren. Gern hätte ich sie ausprobiert, aber jetzt sollten erst mal wir, die Teilgeber, zu Klang bzw. Wort kommen. Ein lebendiges Gespräch folgte, aus dem ich vor allem mitnahm, dass die Trennung zwischen virtueller und „echter“ Wirklichkeit vielleicht nicht mehr wirklich zielführend ist. Wir bewegten uns um die Notwendigkeit echter Erfahrung außerhalb von Smartphone und Internet, in der Natur, mit anderen Menschen. Aber wer entscheidet, ob eine Interaktion online oder in sozialen Netzwerken „echt“ ist oder nicht? Der Mensch, so folgerten wir. Und so liegt es an uns den „iSinn“ zu entwickeln, mit dem wir dieser neuen Erfahrungswelt in einer Weise begegnen können, in der die Tiefe und Kreativität unseres Menschseins gewahrt und genährt wird.
72240b812aAuf dem Rückweg aus dem Klangraum im Keller des Schlosses kam ich noch an einigen anderen Erfahrungsfeldern, wie der „Dunkelbar“ oder „dem stolzen Blau“ vorbei, und meine Neugier wuchs noch mehr. Schon stand fest: Ich muss noch mal wiederkommen. Auch um die vielen Erfahrungsorte im großen Park des Schlosses zu erkunden, die ich durchs Fenster sehen konnte.
Wir trafen uns zu einer Runde, um uns über die einzelnen Gruppen auszutauschen, wobei auch durch die Beiträge aus den anderen Gruppen klar wurde, dass Smartphone und Internet nicht an sich gut oder schlecht sind, uns führen oder verführen, sondern es sich an unserem Umgang mit ihnen entscheidet.
Diesen Gedanken griff nach dem Mittagessen auch der künstlerische Leiter des Schlosses Freudenberg auf. Matthais Schenk gab seine Deutung des angebissenen Apfels, der viele Geräte einer Smartphonemarke schmückt, als die Geschichte eines virtuellen Sündenfalls, der zugleich Erkenntnisgewinn und Vertreibung aus dem Paradies ist. Auch hier lag am Ende die Verantwortung in unseren Händen, den schöpferischen, nach Erkenntnis strebenden Menschen.
Es folgte noch ein Input des anthroposophischen Arztes Marcus Roggatz, der unser Immunsystem mit einer Firewall verglich (und andersherum) und anregte, wie wir lernen, unser körperliches und digitales Immunsystem, also unseren Umgang mit neuen Medien, zu kultivieren.
Der Nachmittag war dann verschiedenen Erfahrungswerkstätten vorbehalten. Man konnte sich in die Beobachtung des Himmels vertiefen, um auch ohne Wetter-App auf dem Laufenden zu sein, oder in die schon erwähnte Dunkelbar gehen. Oder man konnte erfahren, dass es schon zu Goethes Zeiten eine erste Form eines Gesichterbuches (alias Facebook) gab. Und vieles mehr. Am liebsten hätte ich jede davon mitgemacht. Aber ich entschloss mich, mit Matthias Schenk der Bedeutung der Buchstaben nachzuspüren. Wir trafen uns im Obergeschoss des Schlosses, das noch größer war, als ich dachte. Und begannen, Buchenstäbe bzw. Buchenäste abzuzeichnen. Mit dem, was wir zu Papier brachten, ging Matthais Schenk dann in verschiedene Erfahrungsprozesse, die die Natur von Zeichen verdeutlichten, denen wir in Gebärden, Tönen und Wörtern nachspürten. Es war wie eine archäologische Suche nach dem Ursprung der Zeichen. Mit wurde klar, dass vor und neben dem Lesen von Buschstaben und Wörtern auch das Lesen der Welt steht. Als Menschen haben wir diese Fähigkeit, die Wirklichkeit durch unsere Erfahrung und Wahrnehmung zu lesen, zu entziffern. Aber das können wir nicht allein mit dem Verstand: Gefühl, Intuition, sinnliche Wahrnehmung müssen hinzukommen; kurz: der ganze Mensch. Der Spruch von Novalis kam mir in den Sinn: „Alles Äußere ist ein in den Geheimniszustand erhobenes Inneres.“ Das Schloss Freudenberg scheint mir ein Ort zu sein, wo in der Tradition von Hugo Kükelhaus, Joseph Beuys und Rudolf Steiner (und anderen) versucht wird, Wege zu finden, um durch eine Erweiterung und Vertiefung unserer Sinne dieses innere Geheimnis im Äußeren zu finden.
Als wir uns nach den Erfahrungswerkstätten zum Abschluss des Tages wieder trafen, war die kreative Bewegung, die sich im Kreis der Teilnehmer/-geber gezeigt hatte, spürbar. Ich war berührt von der konstruktiven, fragenden Atmosphäre, in der wir dem iSinn nachgegangen waren. Und ich dachte, dass bei allem, zu was wir Smartphones und Internet benutzten, der Mensch und seine kreativen Möglichkeiten im Mittelpunkt stehen (sollten). Angesichts der wachsenden Möglichkeiten der Technik ist es deshalb wohl um so wichtiger, dass wir unsere Kreativität und schöpferische Bewusstheit entwickeln. Das Schloss Freudenberg ist ein Ort, wo diese Entwicklung Raum, Erfahrungsraum, bekommt.
Immer wieder dachte ich im Laufe des Tages an die Ereignisse in Paris und sie kamen auch einige Male in unser Gespräch. Der offene Dialog, die freie Suche nach der Wahrheit, die wertschätzende menschliche Begegnung, die bewusste Erfahrung der Sinne, all diese Dinge, die uns ziemlich selbstverständlich sind, wurden mir noch einmal viel kostbarer. Noch lange nach dem Ende der Veranstaltung zogen sich die Gespräche hin, in denen die Themen des Tages im Du der Begegnung nachschwingen konnten.
Als ich dann nach Hause kam und in den sozialen Medien Posts las und Videos sah, in denen Menschen versuchten, den Horror von Paris zu verarbeiten, spürte ich, was das Internet auch schaffen kann, die Ahnung eines globalen Bewusstseins. Einige der Einträge zu lesen, half mir, die Ereignisse zu verstehen und mich mit den Opfern und Angehörigen und der Trauer und den Fragen vieler Menschen in der ganzen Welt verbunden zu fühlen. Dabei stieß ich auch auf ein Video mit Madonna von einem Konzert in Stockholm, in dem sie ihr Publikum zu einer Schweigeminute aufrief. Als ich vor dem Bildschirm saß, mitschwieg und mitweinte, schien es, als spürte ich das fühlende Herz der Welt, vermittelt durch so etwas „Kaltes“ wie Computer und Technik. Auch dazu ist unser iSinn fähig.